Besuch in der «Zwischenwelt» bei Wilhelm «Dreamdancer» Haas in Luzern

In Luzern aufgewachsen und auch jetzt noch die meiste Zeit in der Stadt unterwegs, bin ich schon oft am kleinen Laden mit dem Namen «Zwischenwelt» vorbeigeschlendert. Da es bis jetzt immer bei einem neugierigen Blick von aussen durch das Schaufenster geblieben ist, war ich umso gespannter auf meine Verabredung mit dem Gründer des an der Bruchstrasse gelegenen Hexenladens, Wilhelm Haas. Per Mail hatten wir einen Termin vereinbart, und am Vormittag des 27. Januars wurde ich dann in der Zwischenwelt herzlich willkommen geheissen. Der Name ist Programm: Zwischen Räucherwerken, Symbolschmuck, Karten, Runen, harmoniefördernden Düften, Literatur und vielen anderen Utensilien der naturspirituellen und magischen Tradition, fühlt man sich wahrlich in einer anderen Realität, einer Zwischenwelt. Über eine kleine Treppe und durch zwei farbige Vorhänge hindurch, wurde ich in einen Raum mit kleiner Küche und halbkreisförmig angeordneten Stühlen geführt, wo mir Wilhelm bei einer Tasse Tee Einblick in sein Tun und Denken gewährte.

Dem Ruf der magischen Welt gefolgt

Der «Dreamdancer», wie er sich ebenfalls nennt, sieht sich selbst als eine progressive männliche Hexe an. Das Hexen-Sein könne man sich am besten als einen Zustand zwischen verschiedenen Welten vorstellen, so Wilhelm weiter. Begriffe wie «Hexenmeister», «Magier» oder «Hexerich» lehnt er bewusst ab – nicht nur sei «Hexe» eine geschlechtsneutrale Bezeichnung, auch beschreibe sie seinen magischen Lebensstil und Lehrweg am zutreffendsten.

Dass es nebst dem vom Menschen Erfass- und Wahrnehmbare noch anderes, andere Realitäten und andere Wesen geben muss, sei Wilhelm bereits als Kind klar gewesen. So schnellte seine Hand im römisch-katholischen Schulunterricht des Öfteren in die Höhe, um kritische Fragen zu ihm unlogisch erscheinenden Dingen zu stellen – denn wer sagt eigentlich, dass Gott ein Mann ist? Obwohl ihm also die Neugierde und Offenheit für andere Weltanschauungen schon im Kindesalter gegeben war, konnte er seine Intuitionen lange Zeit nicht richtig einordnen. Dem römischen Katholizismus stand er zwar nicht ablehnend gegenüber, als seine Welt bzw. Religion empfand er ihn jedoch nie. Dazu kam, dass sich Wilhelm als stark nachdenkliches Kind mit einer depressiven Erkrankung zu nichts und niemandem richtig zugehörig fühlte.

Halt fand er im wachsenden Interesse für den Okkultismus als Lehre von übersinnlichen, unerklärlichen Kräften und Erscheinungen sowie für die Spiritualität und Esoterik im Allgemeinen. Dabei übte das Buch «Die Nebel von Avalon» von Marion Zimmer Bradley eine besondere Faszination auf ihn aus – Wilhelm sah sich, seine Emotionen und Gedanken in der darin aufgegriffenen Fantasie mit starkem Bezug zur Wicca-Hexerei widergespiegelt. Dem Ruf der Welt der Magie, des Schamanismus und der Naturreligion vollumfänglich gefolgt, ist er jedoch erst Jahre später mit seiner individuell, aber auch im «Coven» vollzogenen Initiation. Im «Circle of the Enchanted Forest», so der Name des Zirkels, wurde Wilhelm als Mitglied nicht nur in die Hexerei initiiert, dort hat er auch die Priesterschaft in der Naturreligion angenommen. Mittlerweile hat sich der Zirkel „in Freundschaft aufgelöst“.

Die Wicca-Hexerei als ein progressiv-moderner Ansatz

Wicca ist eine neureligiöse Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die dem Neopaganismus oder Neuheidentum (Sammelbegriff für im 19. Jahrhundert aufgekommene religiöse und kulturelle Strömungen, die einen starken Bezug zu antikem, keltischem, germanischem und slawischem Heidentum sowie aussereuropäischen ethnischen Religionen aufweisen) zugeordnet werden kann. Als «Religion der Hexen» handelt es sich neben dem Druidentum und anderen Richtungen des Neopaganismus um eine eigene Strömung innerhalb des Hexentums. In England und den USA ist sie, im Gegensatz zur Schweiz, als staatliche Religion anerkannt.

Wilhelm selber ordnet Wicca in die Kategorie der Naturreligionen ein, wobei er «Natur» aber breiter als das Allgemeinverständnis fasst. Er spricht von einer «allumfassenden kosmologischen Natur», die nicht nur Aspekte wie «Bäume umarmen und Vögel anbeten» beinhaltet und über die diesseitige Welt hinausgeht. Zwar sei die Wicca-Hexerei schon immer eine Zusammenstellung eklektischer, okkultistischer, spiritueller und praktischer Bestandteile gewesen, die Bezeichnung als Naturreligion decke aber die allermeisten ihrer Zugänge ab.

In den späten Sechzigern, anfangs Siebzigern fand das Gedankengut der Wicca-Hexerei Einzug in die feministische Bewegung. Dadurch, dass es in Wicca männliche wie auch weibliche Gottheiten gibt und beiden Kräften gleichermassen Achtung geschenkt wird, fand sie bei entsprechenden Vertreter:innen besonderen Anklang. Für Feminist:innen war das Verehren der Göttin eine Form des Protestes, um Widerstand gegen die «patriarchale Gott-Gewalt, Lebensfeindlichkeit und der durch männliche Dominanz verursachten Schäden an Mutter Erde» auszuüben, wie Wilhelm auf seiner Website schreibt. Innerhalb der Wicca-Szene gab und gibt es dafür aber nicht nur Lob: Einigen Traditionalist:innen kippt die Fokussierung auf weibliche Kräfte und das damit schwindende Interesse an den männlichen Gottheiten zu sehr ins Extreme.

Einen Umschwung löste Scott Cunningham mit seinem 1989 erschienenen Buch «Wicca – A guide for the solitary practicioner» aus. Das Buch ist als Leitfaden für Hexen gedacht, die den Wicca-Glauben und die dazugehörige Vielfalt an Ritualen zwar kennenlernen, sich aber keinem Zirkel anschliessen möchten. Damit war der Weg für ein «modernes Wicca» geebnet. Dass die Publikation von Cunningham nicht nur zustimmende Reaktionen auslöste, erscheint logisch: Die Behauptung, dass eine Initiation auch individuell und nicht nur in einem Hexenzirkel durchgeführt werden kann, eckte mit dem elitären Denken vieler traditioneller Anhänger:innen an – bis heute.

Nach seiner ganz persönlichen Meinung gefragt erklärt mir Wilhelm, dass er solch traditionelle Einstellungen zwar akzeptiert, sich selbst aber klar der modern-progressiven Strömung innerhalb der Wicca-Hexerei zuordnet, ohne den älteren Traditionen dabei die kalte Schulter zu zeigen. Dass man sich initiiert, wenn man den magischen Lebens- und Lehrwegen gehen möchte, findet er wichtig – ob individuell oder als Mitglied in einem Zirkel. Dabei spielt es auch keine Rolle, auf welchen Initiationsritus aus der vorhandenen Vielfalt zugegriffen wird. Grössere Gewichtung legt der Dreamdancer jedoch darauf, dass man sich an die Leitlinien der Wicca-Ethik hält:

  • «Tu was Du willst, aber schade niemandem» als philosophische Grundlage
  • Die Lehre von Ursache und Wirkung, die sich im «Gesetz der Drei» spiegelt. Bedeutet: «Alles was man aussendet, kehrt zu einem zurück»
  • Selbstverantwortung
  • Stete Weiterentwicklung
  • Stetes Einstimmen auf die Kräfte, mit denen man arbeitet – mittels Gebeten, Meditation, Trance, aber auch und vor allem durch bewusstes Leben und Erfahren in all seinen Aspekten

Dass die Grundgebote zum Teil metaphorisch formuliert sind und deshalb auch auf unterschiedliche Weise ausgelegt werden können, ist ihm klar. Er versteht sie nicht als starre Regeln, wie das bspw. bei den 10 Geboten im Christentum der Fall ist, sondern als eine philosophische Zusammenstellung, die dem Leben Orientierung und Struktur verleihen kann. Für diese Meinung hagelt es dann auch mal Kritik. Insbesondere junge Anhänger:innen, die Wicca auf sozialen Plattformen wie TikTok und Instagram promoten, möchten eine durch und durch freie Hexerei ausüben und sich infolgedessen an keine vorgeschriebenen Regeln und Leitlinien halten müssen.

Als modern-progressiv sieht sich Wilhelm in dem Sinne, als dass für ihn Religion und das Diesseits nicht zwei voneinander getrennte Bereiche sind. Ersteres definiert er nicht als einen Zufluchtsort vor der Realität, weshalb er vielmehr versucht, die von ihm gelebte Magie und Spiritualität im alltäglichen Leben zu integrieren. Denn nur durch das wiederholte Praktizieren kann die «Anderswelt» erfahren werden. Um dabei eine Brücke zwischen Tradition und Gegenwart schlagen zu können, müssen die Praktiken auch mal an vorherrschende Bedingungen angepasst werden – denn das Ausüben eines dem Winter gewidmetes Ritual bei einem durch die Klimaerwärmung aufgeheizten Wetter macht wenig Sinn. Die inneren Prozesse und äusseren Kreisläufe, die sich im Jahreskreis mit seinen Festen ausdrücken, sind jedoch zeitlos.

Crafting – Die Hexenschule als Herzschlag der Zwischenwelt

Die enorme Ritual- und Praxisvielfalt in Wicca widerspiegelnd, können in der Zwischenwelt verschiedenste Angebote wahrgenommen werden: Von der spirituellen Beratung mit Karten und Runen, über Ritual- und individuelle Räucherberatung, bis zur eigenen Mojo-Erstellung (Kräutersäckchen). Doch das Kernstück seiner Arbeit bildet die Hexenschule «Crafting», die Wilhelm seit 2003 regelmässig als Jahreskurs durchführt. Auf der Website schreibt er dazu:

In Crafting lernen die Schüler*innen magische Praktiken und eine Ritualistik die sich gut in den Alltag einfügen lässt, bekommen Werkzeuge in die Hand mit denen – ganz in der alten Tradition magischer Schulen – die Selbsterkenntnis zu einem wichtigen Faktor der authentischen Entwicklung wird, und die es einem ermöglichen die Eigenmacht zu fördern. […] Crafting bietet die Möglichkeit sein Bewusstsein zu erweitern, mit Göttinnen, Göttern und anderen Helferwesen zu arbeiten und es liefert ein gutes Fundament auf dem man, auch nach dem Kurs und selbst wenn man einen anderen Pfad wählen sollte, wunderbar weiter aufbauen kann.

Oberstes Ziel sei das Starkmachen der Selbstwahrnehmung und -erkenntnis, ganz im Sinne der Wicca-Leitlinien. Das Kennenlernen des Hexenhandwerkes und der darin enthaltenen Rituale sei zwar ein wichtiger Bestandteil, den Schüler:innen soll aber immer bewusst bleiben, dass sie sich «ihre Realität selbst schaffen». Die Verantwortung auf Gött:innen abwälzen – für Wilhelm ein No-Go.

Initiationsriten bietet er jedoch nicht an. Wenn sich jemand für den Weg als Hexe berufen fühlt, kann die Initiation eigenständig durchgeführt werden. Ausserdem möchte er dafür auch kein Geld verlangen.

Was die Teilnehmenden betrifft, so sind diese punkto Alter und Lebenshintergrund bunt durchmischt: Von Theolog:innen über Lichtarbeiter:innen bis zu Bankangestellten hatte er alles dabei. Die Altersspanne schätzt er zwischen 18 und 75 Jahre ein. Nur bezüglich dem Geschlecht könne er eine Konstante ausmachen, denn in seinen 20 Jahren Tätigkeit seien die Angebote bei weitem mehr von Frauen als von Männern genutzt worden.

Aufgeschlossen, herzlich und respektvoll

Dass sich Wilhelm mit dem Zwischenwelt-Lädeli einen Kindheitstraum erfüllt hat und im magischen Weg als männliche Hexe seine Berufung gefunden hat, merkt man in jedem einzelnen Aspekt seines Tuns und Auftretens. Dabei ist er bodenständig und für andere Weltanschauungen und Meinungen offen geblieben – etwas, von dem sich viel mehr Menschen eine zünftige Scheibe abschneiden könnten, ganz egal, ob religiös oder nicht.

Insgesamt habe ich den vorausgehenden Austausch und Besuch beim Dreamdancer in der Zwischenwelt gleichermassen herzlich wie interessant empfunden. Er hat sich meiner Neugierde und anfänglichen Orientierungslosigkeit in der Welt der Hexerei angenommen und meine Fragen mit viel Geduld beantwortet.

Asia Petrino, 31.01.2022

Lexikoneintrag Zwischenwelt Luzern