Als «Gruftie» unter «Grufties» – Eindrücke vom 29. Wave Gotik Treffen an Pfingsten 2022 in Leipzig

Über Pfingsten 2022 fand nach zwei Jahren Corona-Pause wieder das Wave Gotik Treffen WGT in Leipzig statt, die grösste Veranstaltung der Gothic-Szene – auch Schwarze Szene oder früher «Grufties» genannt – im deutschen Sprachraum. Das WGT wurde im Jahr 1992 begründet und 2022 zum 29. Mal veranstaltet. Mitarbeitende von Relinfo waren schon fünfmal dabei: 2003 am 12., 2006 am 15., 2013 am 22., 2016 am 25. und nun 2022 am 29. WGT. Die Rekordteilnehmendenzahlen der 2010er Jahre, als teilweise über 20’000 Personen am WGT mitwirkten, wurden dieses Jahr nicht erreicht, aber mit insgesamt 15’000 Besuchenden wirkten die Veranstaltungsorte doch sehr gut gefüllt.

Alternde Jugendszene

Schon der erste Eindruck der zu den Veranstaltungen strömenden Angehörigen der Gothic-Szene machte deutlich: Das WGT ist in die Jahre gekommen, und mit ihm sein Publikum. Der Altersdurchschnitt war weit höher als in früheren Jahrzehnten, und der Schreibende fiel mit seinen bald 56 Lenzen nicht weiter auf. Jugendliche Goths waren auch 2022 nach wie vor anzutreffen, aber viel weniger zahlreich als in den 2000er Jahren, als unzählige Gruppen von Gruftie-Teenies zum WGT strömten. Dieser Augenschein bestätigt das, was von der Schwarzen Szene in der Schweiz zu hören ist, dass nämlich der Nachwuchs zurzeit weitgehend fehlt. Bei mancher Veranstaltung am WGT hat sich das Publikum altersmässig nicht so anders angefühlt als bei einem durchschnittlichen Sonntagsgottesdienst.

Gothic meets Halloween

Unterschiede zum Gottesdienst-Publikum gab’s natürlich beim Styling. Traditionelle Gruftie-Kleidung wie in den 2000ern war immer noch populär, die Ausdifferenzierung der Szene in den 2010er Jahren in Viktorianische Goths, Vampire Goths, Industrial etc. ist nur noch partiell zu beobachten, so war die Zahl der Steampunks deutlich geringer als Mitte der 2010er Jahre.

Sehr trendy sind demgegenüber Fantasy-Stylings, die sich an Serien wie Vikings, Game of Thrones oder The Witcher anlehnen. Kunstblut war oft zu sehen, manche Masken hätten ebenso gut an einer Halloween-Party getragen werden können wie am WGT.

Wikinger, Goten und Sachsen

Traditionell zum WGT gehört das Heidnische Dorf beim Torhaus Dölitz, das einen erweiterten Mittelaltermarkt mit Verkaufsständen, Konzerten und Reenactment Events darstellt. Das Heidnische Dorf, das gegenüber den 2000er Jahren deutlich angewachsen ist, war auch 2022 sehr gut besucht, die Neuheiden- und Mittelalterszene erfreut sich bei den Goths nach wie vor grosser Beliebtheit.

In vergangenen Jahren hiess das Heidnische Dorf mit Untertitel «Wikingerlager». 2022 war es als «Gotenlager» ausgeschrieben. Soll mit dieser Umbenennung kulturelle Aneignung vermieden werden? Die Bezeichnung als Gotenlager bezieht sich vermutlich darauf, dass «Goten» ein Spitzname für die Angehörigen der Gothic-Szene ist, denn das historische Volk der Goten hat mit dem Raum Leipzig wenig gemein. Der Beobachter fragt sich, weshalb das Heidnische Dorf nicht nach dem Bundesland als Sachsenlager benannt wird – als germanisches Volk waren die Sachsen ja ebenso prominent wie die Goten oder die Wikinger.

Wachsender Einfluss der nordischen Vorstellungswelt

Trotz des Wegfalls des Terminus «Wikinger» aus der Bezeichnung des Heidnischen Dorfes ist der Einfluss der nordischen Kultur auf das WGT immens gewachsen. So war beim Publikum der Mjölnir, Thors Hammer, das mit grossem Abstand am häufigsten getragene einzelne Symbol, vor allem als Anhänger an Halsketten, aber auch als Tattoo oder auf Kleidern. Andere gaben sich durch Symbole wie den Weltenbaum Yggdrasil, die Runenreihe Futhark oder den Knoten Walknut als Sympathisanten der nordischen Vorstellungswelt zu erkennen.

In den 2000er Jahren war das meistgetragene Symbol noch das Hexenpentagramm, der fünfzackige Stern, der mit einer Spitze nach oben in einen Kreis eingezeichnet ist. Gelegentlich war es immer noch zu sehen, andere trugen ein satanistisches Pentagramm mit zwei Spitzen gegen oben oder ein umgekehrtes Kreuz. Überraschend viele Teilnehmende präsentierten sich mit aufrechtem, christlichem Kreuz.

Weltanschauliche Literatur lieferte die Edition Roter Drache aus Meschede, die diverse Titel aus der nordischen Kultur und dem neugermanischen Heidentum im Angebot hat und mit je einem Stand in der Agra-Halle und im Heidnischen Dorf vor Ort war.

Partielle Diversität

Die Gothic-Szene präsentierte sich am WGT gendermässig sehr vielseitig, alle Sexualitäten waren gut vertreten und zeigten sich offen, aber in Sachen Hautfarbe war die Diversität erstaunlich gering und kein Abbild der Gesellschaft in Mitteleuropa. Fast alle Angehörigen der Schwarzen Szene waren weisser Hautfarbe, einzelne hatten asiatische Wurzeln, aber schwarze Schwarze waren kaum zu sehen. Für die Gothic-Szene gilt offenbar, was auch von der Mittelalterszene bekannt ist: sie wird von Menschen nichtweisser Hautfarbe als wenig attraktiv angesehen, oder sie fühlen sich gar nicht willkommen. Dabei Zusammenhänge zu vermuten mit dem wachsenden Einfluss der nordischen Vorstellungswelt und neugermanischer Ansätze unter Goths legt sich durchaus nahe, was für die Zukunft der Szene und des WGT wenig Gutes verheisst.

Georg O. Schmid, 9. Juni 2022