Drei Jahre Mitglied von Shincheonji – eine Aussteigerin berichtet

Victoria (Name geändert) wurde mit 18 Jahren von Shincheonji angeworben, machte während drei Jahren bei Shincheonji Zürich mit und ist vor einem Monat aus der Gemeinschaft ausgestiegen. Warum trat Victoria Shincheonji bei? Was hat sie erlebt? Welchen Tricks und Manipulationsmethoden war sie ausgesetzt? Wie schaffte sie den Ausstieg? Victoria beantwortet diese und andere Fragen im Interview mit unserer Mitarbeiterin Bernadette Jacober:

Wie bist du mit Shincheonji in Kontakt gekommen?

Ich kam zu einer Zeit zu Shincheonji, in der noch alles physisch stattgefunden hat (vor Corona). Shincheonji-Mitglieder gingen dabei auf grosse, öffentliche Plätze und Bahnhöfe und sprachen junge Menschen an. Ich war gerade auf dem Weg zur Arbeit am Bahnhof Oerlikon und trug eine etwas markantere Sonnenbrille. Ich wurde von einer Frau auf die Sonnenbrille angesprochen und kam ins Gespräch mit ihr. Sie erklärte mir, dass sie eine Umfrage zu ihrem Studiengang mache und fragte, ob ich ihr dabei behilflich sein könnte. Ich sagte zu und wir trafen uns eine Woche später auf einen Kaffee. Wir sprachen darüber wer ich bin, was mich geprägt hat im Leben, was für Interessen ich habe, wie bin ich aufgewachsen bin und was ich über Gott denke. Ich wurde römisch-katholisch erzogen, bin mit dem Glauben aufgewachsen und habe diesen auch ausgelebt und ging in die Kirche. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich kein festes Fundament im Leben. Ich war weder links noch rechts, hatte tausend Fragen über das Leben, Religionen und Gott. Die Frau fragte mich, ob ich gerne die Bibel lesen und verstehen lernen möchte und da sagte ich sofort zu. Mir wurde gezeigt, wie man die Bibel liest, wie man sie in den Händen hält, was sie beinhaltet usw. Bald schon wurde ich zu Einzellektionen eingeladen, in denen überprüft wurde, wie gut ich das Gesagte annehmen und verstehen konnte. Ich wurde gefragt, ob ich an einem Bibelkurs teilnehmen möchte. Dieser würde bis zu sechs Monate dauern und zwei bis dreimal pro Woche a 2.5-3 Stunden stattfinden. Der Kurs würde an einer anonymen Adresse abgehalten, wobei man nur als Gruppe und nie als Einzelperson erscheinen durfte. Als Begründung wurde angefügt, dass die Bibel-Gruppe verfolgt wird. Für diese Sicherheit war auch der Kontakt untereinander in der Bibelgruppe verboten (Handynummern austauschen usw.) Man bekam immer einen Begleiter zugeteilt, ein vermeintlicher Shincheonji-Neuzugänger, der jedoch schon lange Mitglied war. Dieser begleitete einem durch den ganzen Kurs und fragte, was man in der Bibel-Stunde gelernt hatte. Auch über Privatangelegenheiten sprach man mit dieser Person und unternahm Aktivitäten in der Freizeit. Der Begleiter nahm eine Art Seelsorger-Rolle ein.

Wusstest du zu Beginn, dass es sich um Shincheonji handelt?

Nein, zu Beginn hiess es, es sei eine normale, neutrale Bibelgruppe. Während dieses Bibelkurses gab es bestimmte Regeln, die man befolgen musste. Die Treffen fanden in einer Art Hobbyraum eines Wohnblocks statt, wobei man im Eingang die Schuhe ausziehen und die Jacke aufhängen musste. Dann betrat man einen weiteren Raum, das Klassenzimmer, in dem man beten konnte und für sich war. Der Lehrer führte einem dabei in die Bibel-Lehre ein. In einem ersten Teil nahmen wir das Alte Testament durch, danach wurde die revelation (Offenbarung) in kleinen Schritten eingeführt. Eines Tages wurde dann erklärt, dass es sich bei dieser Bibelgruppe um Shincheonji handelt und Lee Man Hee dessen Anführer ist. Es wurde ein Bild von ihm gezeigt und erklärt, dass er Gott, Jesus und den Heiligen Geist in sich vereine. Viele konnten diese Offenbarung nicht annehmen und stiegen aus, während andere weiterfuhren. Wenn man geeignet war diese Struktur und die Lehren anzunehmen, begann man den services (Gottesdienste) beizuwohnen. Man wurde immer besser eingeführt und erhielt einen maintainer (Begleiter), der schon lange bei Shincheonji dabei war und der überprüfte, wie man sich macht. Von den Mitgliedern wird verlangt, dass sie sich nur noch in Schwarz-weiss zum service erscheinen sollen. Frauen müssen die Haare zusammengebunden tragen und dürfen keinen Schmuck tragen, damit man rein vor Gott steht. Nach dem Bibel-Kurs geht es zum service über. Dieser findet an einem anderen Standort, im Haupttempel, statt. Dabei handelt es sich um einen grossen Saal mit einer Art Altar vorne. Man sitzt am Boden, Frauen und Männer sind getrennt. Eine korrekte Haltung soll vor Gott eingenommen werden. Dazu sollten Bibel und Notizbücher links von einem liegen, das Handy soll ausgeschaltet bleiben. Auch nach dem service wird wieder darüber ausgetauscht, was man davon mitnehmen konnte. Nach Abschluss des Kurses (6 Monate) ist man gemäss Shincheonji im Geiste neugeboren, sofern man nicht aussteigt. Über die Personen, die aussteigen, wird nicht gesprochen. Es wird nur gesagt, dass ihr Geist nicht stark genug war oder der negative Geist einem angefallen habe. Die geistige Neugeburt soll anzeigen, dass man durch die Aufopferung von Jesu Christi gereinigt wird und man spirituell vom Tod ins Leben übergeht (pass overhand). Vor dieser Wiedergeburt sind gemäss Shincheonji alle Geister tot und von Gott nicht anerkannt. Ins Leben findet man nur durch die Lehren von Shincheonji. Nach der spirituellen Wiedergeburt muss man einen Test von 105 Fragen beantworten, wobei man jede Frage und Antwort eins zu eins abschreiben musste. Stunden an Arbeit. Ich war damals in einer Neuanstellung, wobei das alles sehr viel Kapazität beansprucht hat. Mittwochs und sonntags zu bestimmten Uhrzeiten gab es services, die man streng einhalten musste. Bei einer Verhinderung musste man sich für seine Abwesenheit rechtfertigten, da man Gottes Bedingungen nicht erfüllt.

Worum ging es in den Tests, die du absolvieren und abschreiben musstest?

Zu Beginn wird alles über deine Person und Persönlichkeit in Erfahrung gebracht. Es wird ein Lexikoneintrag zu deiner Person verfasst. Später geht es inhaltlich um den Bibelkurs, was man gelernt hat. Die Tests waren dazu da den Inhalt zu verinnerlichen. Man He Lee als der Auserwählte schrieb Briefe an seine members (Mitglieder) um in Kontakt zu bleiben. Darin ging es darum wie sehr man sich die Worte zu Herzen nehmen sollte, da man ansonsten nur ein oberflächlicher Gläubige ist.

Hattest du Kontakt zu andern Mitgliedern abgesehen von deinem Betreuer?

Zu Beginn hatte ich keinen Kontakt zu den Mitgliedern. Später dann schon, jedoch niemals mit den Leuten, die sich im gleichen Bibelkurs befanden und spirituell gleich weit waren. Dazu wurde erklärt, dass es um den Schutz des Geistes geht und man nicht von der Meinung eines anderen beeinflusst wird. Jedes Wort konnte eine Gefahr darstellen den eigenen Geist zu irritieren.

Hast du einen finanziellen Beitrag geleistet?

Eigentlich heisst es, dass man einen Zehntel seines Lohns abgeben soll. Ich persönlich war immer wieder nicht in der finanziellen Lage, diesen Beitrag leisten zu können. Viele haben das gemacht. Es war zwar freiwillig aber wenn man ein anerkanntes Mitglied sein will, dann gibt man mindestens den Zehntel, wobei viele noch sehr viel mehr gaben. Mich persönlich hat es gestört, dass man keine Quittung dafür bekam. Während man in der Kirche Steuern zahlt, wurde das bei Shincheonji nicht quittiert.

Hast du in dieser Zeit mit deinem Umfeld, deiner Familie über Shincheonji gesprochen?

Nein, das oberste Reglement war, dass keiner etwas davon erfährt und keiner, weder ich noch andere members in Gefahr kommen, da Shincheonjij verfolgt wird. Der Austausch mit andern könnte auch dazu führen, dass der Teufel einem von Shincheonji wegführt. Das wurde später zu einem grossen Problem in meiner Familie, wobei ich oft mit meinen Gruppenführern und Betreuer darüber sprach. Ich ging jeden Tag in den Tempel um die 3 Fragen zu belegen und abzuschreiben. Mittwochs musste ich jeweils eine Stunde früher gehen. Shincheonji erklärte, dass es legitim sei, das Umfeld anzulügen, sofern es Gott/Shincheonji dient. Ich sagte meinem Chef, dass ich einen Englischkurs belege, wobei ich keine schriftliche Bestätigung dafür vorlegen konnte. Meine Familie wurde misstrauisch und fragte warum ich immer so spät nach Hause komme. Der Sonntag war immer unser Familientag. In der Zeit bei Shincheonji verliess ich sonntags spätestens um 9:00 Uhr, 9:30 Uhr das Haus und war frühstens wieder um 13:00 Uhr zu Hause. Zu Corona-Zeiten, in denen der service online stattfand, durfte ich niemanden ins Zimmer lassen. Es hiess immer, dass es schon Fälle gegeben habe, wo nicht- Shincheonji-Mitglieder die services mitangeschaut haben und diese Informationen dann missbraucht hätten. Dies war auch der Grund dafür, dass man immer die Kamera angeschaltet haben musste. Das war für mich auch immer ein Streitpunkt, da ich nicht immer bereit war, die Kamera angeschaltet zu haben. Bei Shincheonji glaubt man, dass man für Gott/für das Licht arbeitet, während das eigene Umfeld im Dunkeln ist. Durch die eigene Mitgliedschaft bei Shincheonji kann man die Familie und das Umfeld aber auch erlösen und ins Licht führen.

Worum ging es bei den services?

Zu 90% ging es um die Offenbarung. Man He Lee kam während Corona ins Gefängnis, da er sich nicht an die Sicherheitsbestimmungen hielt. Uns wurde nur gesagt, dass in Südkorea der stärkste Geist von Shincheonji sei, da Man He Lee sich dort befindet. Die bösen Geister hätten ihn dabei angefallen und dadurch sei er ins Gefängnis gekommen.

Wurde euch verboten, sich im Internet über Shincheonji zu informieren?

Ja, schon zu Beginn des Bibelkurses wurde es verboten zu googeln, da es ja alles Negativschlagzeilen sind von Leuten geschrieben wird, deren Geist im Dunkeln ist, die zum Teufel gehören und nichts wahrhaftiges erzählen können. Eine Internetrecherche hätte eine grosses Gefahrenpotenzial, dass man aus dem Shincheonji-Geflecht hinausfällt. Das war für mich auch ein Grund meines Zweifels, da ich mich fragte warum man etwas verbieten muss.

Hattest du spezifische Aufgaben bei Shincheonji? Warst du beispielsweise am missionieren?

Nach meinem passover war ich genug stabil, um selber zu missionieren. Ich konnte mich jedoch nicht damit identifizieren und fühlte mich nicht wohl dabei andere Menschen anzusprechen und vorzugeben, dass ich eine Umfrage für mein Studium mache. In einer online-Sitzung während Corona wurde dann kommuniziert, dass man neu bei Shincheonji über soziale Medien und Apps wie Bubmle friends, Tandem usw. missionieren kann. Auch ich habe eine Person angeschrieben und zu Shincheonji gebracht. Beim Anschreiben werden Fragen gestellt wie: interessiert du dich für Gott? Was beschäftigt/interessiert dich? Was sind deine Ziele? Wo hast du Fragen im Leben? Viele haben negative Meinungen bezüglich Religion und Kirche. Da bleibt man hartnäckig dran, um den Schwachpunkt kennenzulernen und die Person nach Shincheonji-Schema zu bearbeiten. Man erstellt ein Lexikon über diese Person und rapportiert alles an die Gruppenleitung, die das wiederum weiterleitet. Dann setzt man sich mit jemandem aus dem Bible study, sowie der Gruppenführung zusammen und bespricht, was man die Person beim nächsten Gespräch fragen könnte, um noch mehr zu erfahren. Dabei wird man zum Seelsorger der fruit (Frucht), des Neulings. Man wird zum tree of life (Lebensbaum), der neue Früchte austrägt (Personen, die man zu Shincheonji bringt). Denn nur durch das Einbringen von neuen Mitgliedern wird man von einem oberflächlichen Gläubigen zu einem anerkannten Shincheonji-Gläubigen. Man bearbeitet die Person so lange, bis sie bereit ist für Shincheonji. Dann wird eine Einladung verschickt, beispielsweise zu einem online-Event bei dem man über Gott und die Welt spricht. In Online-Sitzungen wird man in Kleingruppen (outbreak sessions) eingeteilt, in denen man diskutiert. In der Gruppe befinden sich viele Shincheonji-Mitglieder, die sich als Interessierte ausgeben und positiv über den Kurs und die Gruppe sprechen.

Was war neben dem Internetverbot weitere Gründe für deine Zweifel?

Irgendwann kam für mich der Punkt, an dem ich den Stress nicht mehr bewältigen konnte. Die zwei fixen Termine in der Woche, an denen man zum service erscheinen musste, stellten einen grossen Stressfaktor dar. Das Lügen und die Rechtfertigungen gegenüber dem Umfeld waren sehr anstrengend. Ich habe mit meiner Betreuungsperson oft darüber gesprochen, dass es für mich zu viel ist immer diese Tests zu belege und alle anzulügen. Es wurde immer genau nachgefragt, wie viele Leute man schon zu Shincheonji gebracht hat, wo man in der Betreuung dieser Personen steht, warum man die Kamera nicht angeschaltet hat usw. Es wurde einem immer gleich geschrieben und angerufen. Es wurden immer Rechtfertigungen für alles gefordert. Das war ein grosser Druck. Es wurde auch immer gesagt, dass man nicht in die Ferien gehen sollte, da man sich nicht vom Geist der Kirche entfernen sollte um unseren Geist nicht zu schwächen und von unseren Wünschen abgelenkt werden und dadurch die Shincheonji-Bedingungen nicht mehr einhalten können. Ich habe das drei Jahre lang eingehalten und irgendwann gemerkt, dass mir das nicht guttut. In der Schweiz zu bleiben stellte für mich kein Problem dar, aber zu wissen dass ich nicht weg darf führte dazu, dass ich mich eingeengt fühlte. Ich sah Reisen als Teil der Selbstentwicklung.

Einmal habe ich auch versucht meine beste Kollegin zu Shincheonji zu bringen, da sie sich auch mit dem Glauben auseinandersetzt. Ich sollte sie durch den Kurs begleiten, wobei ich dem auszuweichen versuchte. Mein Raushalten wurde jedoch nicht akzeptiert und man rief mich während der Arbeit an, obwohl ich viel zu tun hatte und erklärte, dass ich keine Zeit habe. Ab da hatte ich genug. Es überschritt in meinen Augen alle Grenzen, dass ich mein Umfeld anlügen und mein Leben umstrukturieren musste um die Shincheonji-Zeiten einhalten zu können. Mir wurde es auch zu viel, dass ich mich immer im gleichen Umfeld und im gleichen Tagesablauf befand. Mir ging es mental aufgrund des Druckes nicht mehr gut und ich begann zu reisen. Zwar sind die Absichten dieser Menschen eigentlich gut aber meiner Meinung nach hat es nichts mit Gott zu tun. Shincheonji erklärte, dass es diese Struktur braucht, da sonst alles zusammenfallen würde. Ich habe realisiert, dass alle Personen gleich programmiert waren: unglaublich herzlich und freundlich. Gleichzeitig musste man aber über seine Mitgliedschaft bei Shincheonji lügen, viele gaben ihren Job oder ihr Studium auf, liessen Familie und Freunde hängen und opferten sich für Shincheonji auf. Für mich stimmte das nicht überein. Ich kam zum Schluss, dass Leute, die mental nicht genug stark sind, an Shincheonji klammert und durch das richtige Verhalten Anerkennung durch die Gruppe erfahren. Shincheonji hat immer propagiert, dass das Streben nach Anerkennung etwas Schlechtes ist, da man sich damit auf die Menschen und nicht auf Gott fokussiert. Dies ist meiner Meinung nach aber gerade bei Shincheonji passiert, dass man den Strukturen der Menschen folgte, was nichts mit Gott zu tun hatte. Als ich merkte, dass dies meine mentale Gesundheit immer stärker gefährdet, ging ich immer seltener hin. Irgendwann hiess es, dass ich zu oft gefehlt habe und es so nicht weitergehen könne und ich Shincheonji sonst verlassen müsse. Mit dem gewonnen Abstand begann ich darüber nachzudenken was es nun für mich bedeutet. Was wenn alles stimmt was Shincheonji erzählt und ich durch meinen Ausstieg meine Zukunft im Paradies verbaue und wieder in der Dunkelheit lande? Bei Shincheonji erzähle man sich, dass diejenigen, die sich von Shincheonji abgewendet haben, vom Blitz getroffen und von Zügen überfahren wurden. Für mich hatte das nichts mit Gott zu tun. Eine solch radikale Lebensführung, wie sie Shincheonji verlangt, sehe ich nicht als gottgewollt. Ich kam zum Schluss, dass Shincheonji menschliche Gesundheit – mentale wie auch physische – nicht akzeptiert. Ich begann zu googlen und las auf der Relinfo-Seite über Shincheonji, schaute Videos über Aussteiger auf der ganzen Welt und bemerkte, dass deren Geschichten immer dasselbe darüber erzählen wie Shincheonji vorgeht. Das war für mich eine Bestätigung meiner Zweifel. Ich nahm Kontakt zu der Frau auf, die mich vor drei Jahren angesprochen hat und eine duty (Plicht, Aufgabe) hatte. Im Gespräch sagte ich klar, dass ich genug habe und mit Shincheonji abgeschlossen habe. Ich zeigte auf, dass sie eine radikale Sicht auf Gut und Böse haben und man mich zum Lügen und Rechtfertigen zwingt. Interessant fand ich auch, dass ich am Abend nach dem service nicht mehr beten konnte. So erfüllt von Gottes Geist konnte ich daher durch Shincheonji nicht sein. Ich war während Monaten physisch dabei aber mental an einem anderen Ort. Ich begann in den Gesprächen im Anschluss irgend etwas zu erzählen, damit man nicht mehr nachhackte.

Seit deinem Ausstieg ist gerade mal ein Monat vergangen. Wie war die Reaktion?

Meine Betreuerin war sehr überrascht. Sie versuchte mich auch nicht zu beeinflussen, da ich sehr genau sagen konnte seit wann und warum es nicht mehr für mich stimmte. Es war ein monatelanger Prozess, der in meinem Innern stattfand. Ich hatte auch ein Gespräch mit meiner kleinen Schwester, die mir erklärte, dass ich sehr oft abwesend war und sie sich nicht an mich richten konnte. Ich wurde stutzig und merkte, dass das Umfeld, die Familie, sehr wohl mitbekam, dass etwas bei mir im Gange war. Gemäss Shincheonji sollten die Geister einem beschützen, dass die Familie nicht merkt, was vor sich geht.

Meine Kollegin, die ich mit Shincheonji bekannt machte erklärte mir später, dass sie das Abbild von Lee Man Hee nicht als Anführer von Shincheonji anerkennen konnte. Auch sagte sie, dass sie auf ihre Abwesenheit bei den services angesprochen wurde und an der Beerdigung eines Familienmitglieds darüber sprechen sollte, wann sie diese nachholen sollte. Der Drang Leute zu Shincheonji zu bringen war sehr hoch, da man ansonsten als oberflächlicher Gläubiger galt. Ein Kolleg, den ich zu Shincheonji brachte hatte zu dieser Zeit bereits ein Theologiestudium absolviert und wurde in den online-Sitzungen von den anderen separiert, da er sehr spezifische Fragen stellte. Dies stellte natürlich ein grosses Risiko für den Rest der Gruppe dar, da die Gruppenleiter von Shincheonji sonst in Verlegenheit gekommen wären, wenn sie eine Frage nicht hätten beantworten können. Er stellte mir viele Fragen und mir wurde von Shincheonji gesagt, dass ich nicht berechtigt sei Antworten zu geben, wenn ich das nicht mit jemand höherem von Shincheonji abgesprochen habe. Ich stritt mich mit ihm und unsere Wege trennten sich damals. Die Betreuerin sagte nach meinen Ausführungen nicht mehr viel und wollte nur wissen was ich der Frau, die ich zu Shincheonji gebracht habe schreiben würde. Damit wollte sie überprüfen, dass ich Shincheonji nicht schlecht rede. Ich schrieb ihr jedoch nicht, sondern fuhr am nächsten Tag zu ihr, sprach mit ihr und erzählte von meinen Erfahrungen. Ich erklärte aber auch klar, dass das meine Sicht auf die Dinge sind und nicht zwingend auch für sie stimmen muss. Eine Woche später trafen wir uns wieder und ich merkte, dass diese Freundschaft nicht bestehen würde. Sie wurde im Rahmen von Shincheonji geschlossen es fehlte ihr damit am Zwischenmenschlichen. Auffallend war auch, dass ich nach einigen verpassten Sitzungen von Shincheonji-Mitgliedern, die ich kannte und denen über den Weg lief, gekonnt ignoriert wurde. Ich merkte, dass diese Freundlichkeit und Herzlichkeit vorgespielt war. Bereits als sie noch nicht wussten, dass ich nicht mehr dabei war und nur einige Sitzungen verpasst hatte, war ich für sie bereits verloren. Diese Ignoranz bestätigte mich in meiner Entscheidung, Shincheonji den Rücken zu kehren. Ich merkte, dass diese Leute die ich bei Shincheonji kennengelernt hatte, mich anders behandelten, wenn ich dabei oder in ihren Augen eben nicht mehr dabei war. Für mich ist es deshalb nicht ein grosser Verlust. Klar habe ich auch positive Erfahrungen gemacht. Heute, nach meinem Ausstieg, habe ich aber ein anderes Bild von der ganzen Zeit bei Shincheonji.