Zum Tod von Papst Benedikt XVI.

Aus der Feder des jungen Theologen Joseph Ratzinger stammen Zitate, die man dem späteren Präfekten der Glaubenskongregation und Papst nicht mehr zugetraut hätte, z.B.: «Was die Kirche heute wie immer braucht, sind nicht Bewunderer, die den Status quo preisen, sondern Menschen, deren Demut und Gehorsam nicht weniger sind als ihre Leidenschaft für die Wahrheit.» Joseph Ratzinger konnte als theologischer Konzilsberater die damals herrschende Aufbruchstimmung mitgestalten und auch kirchenfernen Beobachtern ein faszinierend menschennahes Bild christlichen Glaubens vor Augen stellen.

Wie konnte ein Theologe des Aufbruchs zu einem betont konservativen kirchlichen Amtsträger werden? Die Wende begann wahrscheinlich mit den wilden 68er Jahren. Laute Studentendemonstrationen erschwerten auch dem jungen Theologieprofessoren das Dozieren. War das der Aufbruch, den man angestrebt hatte? Dann kam der einzigartige Aufstieg des ausserordentlich begabten Theologen durch die Stufen der Amtskirche. Je höher er stieg, desto grösser wurde auch seine Sorge um die Einheit der Kirche. Der Aufbruch am Konzil hatte schon zur Abspaltung der Erzkonservativen geführt. Jetzt galt es um fast jeden Preis Ähnliches zu vermeiden. Als Präfekt der Glaubenskongregation unter Papst Johannes Paul II. und später selber als Papst wollte er alles vermeiden, was liberaleres Spaltungspotential implizierte: Befreiungstheologie, Frauenpriestertum, Aufhebung des Pflichtzölibats für Priester, Relativierung der vollen kirchlichen Glaubenswahrheit, Anpassungen an diesen oder jenen modischen Zeitgeist, Ökumenismus als theologische Beliebigkeit usw. Sein Wunsch – der auch der Wunsch seines langjährigen Chefs und Vorgängers war – hat sich erfüllt: Konservativ Gläubige sind der Kirche erhalten geblieben. Erzkonservative Schismatiker wurden wieder in die Kirche integriert. Fortschrittlich Gläubige üben sich in Geduld oder verabschieden sich meist leise, fast unbemerkt.

Weniger geglückt ist Papst Benedikt die Aufarbeitung der Missbrauchsskandale. Schon als Präfekt der Glaubenskongregation war ihm das Problem mehr als bewusst. Die entsprechenden Dossiers landeten immer auch auf seinem Tisch. Als Papst versprach er eine rigorose Aufarbeitung des Problems in allen seinen Facetten. Umso tragischer wirkte die in seinem  letzten Lebensjahr noch direkt ihn persönlich betreffende Klage, wonach er als Erzbischof von München seinerzeit einen vorbestraften Priester nicht seines Amtes enthoben habe. Vor kurzem hat sich der emeritierte Papst bei den Missbrauchsopfern entschuldigt. Er wäre auch bereit gewesen, im kommenden Frühling in der erwähnten Sache vor dem zuständigen Gericht in Deutschland zu erscheinen. Dieser Gang bleibt ihm nun erspart.

Kehren wir zum Schluss nochmals in die Gedankenwelt des Theologieprofessors Ratzinger zurück: «Über dem Papst als Ausdruck des verbindlichen Anspruchs der kirchlichen Autorität steht noch das eigene Gewissen, dem vor allem zu gehorchen ist, notfalls sogar gegen das Gebot der kirchlichen Autorität.» (https://womenpriests.org/ratz1-quotes-from-josef-ratzinger-now-pope-benedict-xvi/)

Prof. Georg Schmid, 1. Januar 2023