Aum Shinrikyô

Aum Shinrikyô ist eine 1987 gegründete japanische Religionsgemeinschaft, die vor allem aufgrund ihrer Giftgasanschläge in der Tokyoter U-Bahn im März 1995 bekannt wurde. Aufgrund dieses Vorfalls (und nebst anderen Eigenschaften) kann die Gemeinschaft ohne weiteres als Sekte bezeichnet werden. Aum Shinrikyô hat tiefe Wurzeln in der buddhistischen, shintoistischen und volksreligiösen Tradition Japans. Gegründet wurde die Sekte von Asahara Shôkô und ca. 15 weiteren Gefolgsleuten in einem Yoga-Zentrum.

Asahara Shôkô kam 1955 in Kumamoto, Japan, als Matsumoto Chizuo zur Welt. Als einer von sieben Kindern wuchs er in einfachen Verhältnissen auf. Weil Asahara auf einem Auge blind geboren wurde und auf dem anderen nur ein 30%-iges Sehvermögen hatte, schickte man ihn im Alter von sechs Jahren in das Internat einer staatlichen Blindenschule. Dort sei er besonders negativ aufgefallen, da er seine halbe Sehfähigkeit gegenüber vollständig blinden Kindern zum eigenen Vorteil ausgenutzt und jüngere Mitschüler schikaniert hätte. Nicht zu vergessen ist jedoch, dass auch Asahara selbst aufgrund seines Handicaps als Kind ein Opfer von Diskriminierung war. Dies kann womöglich als eine der Quellen seiner Wut auf die japanische Gesellschaft angesehen werden. Das Gefühl der Einsamkeit und Ablehnung, unter dem er in der Zeit im Internat litt, wurde auch bei Asaharas Gerichtsverfahren nach den berühmtberüchtigten Anschlägen erwähnt.

Als Kind sei es Asaharas Traum gewesen, als Politiker eine Führungsposition in der japanischen Regierung zu übernehmen. Nach seinem Schulabschluss versuchte er in der staatlichen Universität, Kumamoto Daigaku, aufgenommen zu werden. Nachdem er jedoch an der Aufnahmeprüfung scheiterte, zog er nach Tokyo, wo er sich für das Eintrittsexamen der Tokyo Daigaku, der angesehensten Hochschule des Landes, vorbereitete. Auch dort fiel Asahara durch und musste sich neu orientieren. Er gab sein Ziel auf an einer renommierten Universität zu studieren und wandte sich der traditionellen asiatischen Medizin zu. 1978 eröffnete er eine Praxis für Akupunktur in der Präfektur Chiba, in der Nähe Tokyos. In dieser Zeit lernte er auch seine Frau Tomoko kennen, welche er im selben Jahr heiratete. Aus der Ehe gingen sechs Kinder hervor.

Noch bevor Asahara Aum Shinrikyô gegründet hatte, kam er mehrmals mit dem Gesetz in Konflikt. 1976 wurde er wegen Körperverletzung und 1982 wegen eines Verstosses gegen das Arzneimittelgesetz verurteilt. Als Folge Letzteres scheiterte 1982 auch schliesslich das Akupunkturgeschäft. Nachdem das Akupunkturgeschäft fehlschlug, begann Asahara zusammen mit seiner Frau Yoga zu unterrichten. 1984 entwickelte sich daraus die Gruppe Aum Shinsen-no-kai. Übersetzt bedeutet dies soviel wie «Aum-Gruppe der Bergasketen». 1985 wurde in der Zeitschrift «Twilight Zone» ein Bild von Asahara publiziert, das ihn über dem Boden schwebend zeigte, wodurch er viel Aufmerksamkeit erweckte, besonders unter Yoga-Interessierten.

Zwischen 1980 und 1984 war Asahara Mitglied einer neureligiösen Gemeinschaft, welche sich Agon-Shû nennt. Ähnlich wie Agon-Shû wählte Asahara später auch ein Sanskrit-Zeichen als Symbol seiner Gruppe.

Grundsätzlich war Asahara sehr unzufrieden mit dem traditionellen japanischen Buddhismus.

1986 reiste er nach Indien in das Himalaya-Gebirge, um bei Yogis die religiöse Praxis zu vervollständigen. Am Ende seines zweimonatigen Aufenthaltes behauptete er, die Erleuchtung erlangt zu haben. Er empfand die tibetischen- und Theravada-buddhistischen Lehren als viel attraktiver als die vorherrschenden Formen des japanischen Buddhismus. Daher versuchte er, einen Buddhismus zu schaffen, der jene Formen nicht betonte. 1987 änderte Asahara den Namen von Aum Shinsen-no-kai zu Aum Shinrikyô, was zu «Aum-Lehre der absoluten Wahrheit» übersetzt werden kann. Damit erhielt die Gruppe eindeutig den Charakter einer religiösen Gemeinschaft. Neben Yoga wurden nun Praxis und Lehre des Buddhismus betont, wie auch die zunehmend verwendeten Begriffe «Leiden» und «Erleuchtung» es verdeutlichen. Damit zeichnete sich der Wandel von einem introvertierten Yogazirkel, der sich der individuellen Vervollkommnung bemühte, zu einem für die Gesellschaft offenen buddhistischen Gruppe ab. Um der Gemeinschaft beizutreten, mussten sich Mitglieder eine Vielzahl von Techniken, von Yoga und Meditation bis hin zu Übungen zur psychischen Entwicklung, aneignen. Den Anhängern, zu denen viele Menschen mit hohem Bildungsstand gehörten, wurde beigebracht, sich ihrem Guru vollkommen hinzugeben.

In den folgenden Jahren ging Asahara auf weitere Reisen. Als er Sri Lanka besuchte, soll er als «der grösste religiöse Mensch in Japan» und als «der Einzige, der die Welt retten kann» gepriesen worden sein. Ziel seiner Reisen war letztendlich die religiöse Legitimierung seiner selbst. Einer der Versuche, seine religiöse Autorität zu untermauern, erfolgte in Bodhgaya, Indien: Dort ging er mit ca. 100 Anhängern an den Ort, wo Sakyamuni (Gautama Buddha) sein Erwachen erlangte. Asahara setzte sich auf denselben heiligen Sitz unter dem Bodhi-Baum, wie es Sakyamuni damals getan haben soll. Dieses Sakrileg kam jedoch alles andere als Gut bei der Bevölkerung an, woraufhin die Polizei Asahara wieder vom Sitz wegzerren musste.

Aum Shinrikyô wurde stark geprägt vom katastrophischen Millenarismus. Asahara interessierte sich für Prophetie, studierte das biblische Buch der Offenbarung und prognostizierte Anfang der 1990er Jahre eine Reihe von Katastrophen für Japan, darunter den Dritten Weltkrieg. Asahara erwartete, dass Aum Shinrikyô die japanische Regierung im Chaos nach dem Krieg ersetzen würde. Solche apokalyptischen Ankündigungen, vermischt mit Pseudowissenschaft, Nostradamus-Weissagungen, esoterischen Buddhismus und Christentum hatten zur Folge, dass die Welt ausserhalb der Sekte als korrupt und verdorben betrachtet wurde. Daher wurden Gewalttaten und Mord für deren Bekämpfung als legitim angesehen. Man könne dadurch sowohl den Täter als auch das Opfer der inneren Erleuchtung näherbringen, da man so die Menschheit vor dem Weltuntergang retten und ins Goldene Zeitalter führen würde. Im Zuge dessen begann die Sekte mit der Vorbereitung terroristischer Handlungen.

Ein Beispiel für Aum Shinrikyôs Vorbereitungen, Attentate zu begehen, ereignete sich 1992, als Asahara mit einigen Untergebenen nach Zaire (Demokratische Republik Kongo) reiste, um Proben des Ebola-Virus zu sammeln. Dies gelang ihnen aber schliesslich nicht. Ein weiterer Versuch erfolgte 1993. In diesem Jahr reisten einige Sektenmitglieder nach Australien ein, wobei bei ihnen am Zoll Schwefelsäure und andere Chemikalien entdeckt und konfisziert wurden. Vermutungen besagen, dass die Sekte zu diesem Zeitpunkt versuchte, Chemiewaffen zu produzieren und auf einer Farm im Westen Australiens an Schafen zu testen. 1994 stellte die Sekte erstmals erfolgreich das Nervengas Sarin her. Es erfolgte ein Anschlag auf die Richter eines Grundstücksprozesses, in den die Sekte verwickelt war. Bei diesem Attentat starben sieben Menschen, ohne dass der Verdacht auf Aum Shinrikyô fiel. Im selben Jahr verübte die Sekte weitere Attentate auf ihre Aussteiger. 20 Menschen wurden dabei getötet.

Am 20. März 1995 setzten die Aum-Mitglieder schliesslich gleichzeitig, zur morgendlichen Hauptverkehrszeit, das chemische Nervengas Sarin in mehreren Tokioter U-Bahnen frei. Dabei entkamen die Attentäter zunächst mittels bereitgestellten Fluchtautos, während sich die Sarindämpfe in den betroffenen U-Bahnen und ca. 15 U-Bahn-Stationen verbreiteten. Insgesamt wurden bei diesem Anschlag 13 Personen getötet und bis zu 6’000 verletzt. Infolge des Attentats verhaftete die Polizei zahlreiche Mitglieder von Aum Shinrikyô und führte landesweise Razzien in den Niederlassungsstätten der Sekte durch. Dabei fanden Polizeibeamte unterernährte Gefangene der Sekte, riesige Mengen an Chemikalien für die Herstellung von Chemiewaffen, LSD, Methamphetamin, Bargeld und Gold im Wert von mehreren Millionen US-Dollar, Sprengstoff und Material für den Bau von Sturmgewehren. Die japanische Polizei verhaftete Asahara im Mai 1995, und er kam wegen 13 Verbrechen, darunter 7 Fälle von Mord, vor Gericht. 2004 wurde Asahara zum Tode verurteilt (insgesamt wurden in der Folge des Sarin-Attentats zwölf Mitglieder der Sekte zum Tode verurteilt). Eine Reihe anderer Tatbeteiligter wurde zu geringeren Strafen verurteilt. 2018 wurden die Todesurteile durch Erhängen vollstreckt.

Es stellt sich unvermeidlich die Frage, wie es der Sekte gelungen ist, so viele Anhänger zu bekommen. Was sind bzw. waren das für Leute? Was hat sie an der Bewegung so angezogen? In den Zeugnissen von Anhängern kommt deutlich zum Ausdruck, dass Gesellschaft und etablierte Religionen diesen Menschen nicht das geben konnten, wonach sie sich sehnten: der Sinn des Lebens, das Füllen der inneren Leere, die Heilung seelischer Wunden…

Menschen, die sich Aum Shinrikyô anschlossen, fühlten sich von Asahara verstanden und akzeptiert. Auch wurde oft sein Charisma erwähnt. Er sei ein sehr guter Redner gewesen und erklärte Dinge so klar und logisch, wie es «niemand sonst konnte». Eine in der Sekte führende Gestalt, Hayakawa Kiyohide, machte folgenden Kommentar zu seinem ersten Treffen mit Asahara: «Während ich einige Spannung fühlte, als ich seinen Worten zuhörte, war ich vollständig unter dem Bann der sanften und milden Atmosphäre des Meisters, den ich zum ersten Mal traf.»

Asaharas Zeitgenossen verstanden und fühlten seine religiöse Sprache. Es ist ihm gelungen, seine Botschaft in kontemporäre Formen zu bringen. Er vermittelte zahlreichen Menschen religiöse Erlebnisse und gab ihnen konkrete Antworten auf ihre Fragen. In der Öffentlichkeit wurde immer wieder diskutiert, weshalb so viele junge Akademiker durch Asaharas Lehre angezogen wurden. Wegen der strikten Trennung von Staat und Religion gibt es in japanischen Schulen kein Religionsunterricht, weshalb junge Menschen ihre religiösen Fragen und Ansichten oft nicht thematisieren und reflektieren können. Asaharas Lehre brachte Religion mit Wissenschaft in Verbindung. Diese Botschaft könnte in einer Gesellschaft, in der die strikte Trennung von Religion und Wissenschaft allgemein vorausgesetzt wird, eine befreiende Wirkung gehabt haben. Asaharas Anhänger waren also diejenigen, die sich nicht mit dem gegenwärtigen japanischen Lebensstil abgeben konnten, jene, die sich mit Fragen bezüglich wachsender Kriegsgefahr, spiritueller Lehre, Umweltzerstörung etc. auseinandersetzten.

Nach den Anschlägen verlor Aum Shinrikyô die Mehrzahl ihrer Mitglieder. 1999, erst vier Jahre nach den Attentaten, entschuldigte sich die Sekte offiziell und sagte sich von ihrem Gründer endgültig los. Seit 1999 ist Tatsuko Muraoka die amtierende Leiterin der Sekte. Die Gruppierung besteht heutzutage unter dem neuen Namen Aleph weiter und befindet sich unter behördlicher Beobachtung, da sie noch stark an den originalen Lehren festhält. Es gebe Schätzungen, wonach die Sekte weiterhin rund 1500 Anhänger habe. Diesen wird, wenn sie identifiziert werden, von den Wohngemeinden häufig der Wohnsitz verweigert, wodurch ihnen der Zugang zu bestimmten Dienstleistungen verwehrt wird. Die Kinder von Asahara wurden bis 1995 zu Hause unterrichtet und versuchten anschließend, das Schulsystem zu besuchen, aber keine Institution stimmte letztendlich zu, sie einzuschreiben.

Zurück zu Weitere buddhistische Vereinigungen