Zum Tod von Thich Nhat Hanh

Buddha hat von seinen Schülern gefordert, einzig der eigenen Wahrnehmung und Erkenntnis zu vertrauen. Doch bezeichnenderweise empfanden und dachten willige Schüler in der Folge immer weitgehend meisterkonform. Dieses Phänomen der meisternahen persönlichen Erkenntnis wiederholt sich seit den Tagen Gautamas, des Buddhas, bis in unsere Zeit. Das überrascht nicht. Wie kann sich mein eigenes persönliches Erkennen dem Einfluss des Meisters entziehen, der in meiner unmittelbaren Umgebung unendlich einleuchtend Buddhismus «vor-denkt»?

Thich Nhat Hanh (11. Oktober 1926 – 22. Januar 2022) verstand es wie nur wenige buddhistische Meister vor und neben ihm, Buddhismus für moderne Menschen «vorzudenken» und vorzuleben. Er verband die überzeugendsten Elemente aus alten buddhistischen Schulen in geradezu genial schlichter, dem westlich gesinnten Menschen mehr als nur bekömmlichen Weise zu einem Buddhismus für unsere Zeit. Hier fanden viele, was sie im Raum christlicher Spiritualität nicht mehr ansprach: Alltagsnahe Meditationspraxis und jene Verbindung von Präsenz und Gelassenheit, die jeden Moment erst den rechten Zauber verleiht. Achtsamkeit hiess eines seiner grossen Leitworte, das er mit sanfter Interpretation der Theravada-Schriften füllte. Von Hause aus war er vietnamesischer Zen-Mönch, dem grossen Fahrzeug verbunden.  Aber auch Zen lebte er wie Theravada, ohne Ecken und Kanten, Zen nicht als erhofften, derben Durchbuch ins Absolute, sondern als friedliches Erahnen einer geheimnisvollen, absoluten Präsenz.

Soft-Ice-Buddhismus? Nicht wenige strammere Vertreter dieser oder jener buddhistischen Schule haben – meist hinter vorgehaltener Hand – leise gespottet. Aber auch sie konnten und können das grosse soziale, pädagogische und sogar politische Engagement von Thich Nhat Hanh nicht klein reden.  Er war die Leitfigur des engagierten Buddhismus, der Martin-Luther-King des Neo-Buddhismus, menschennah, engagiert, pazifistisch, umweltbewusst. (Nicht zufällig fühlte er sich dem bekannten US-Pastor auch freundschaftlich verbunden).

War er zu sanft? Wer bei ihm unter der Schar seiner vornehmlich westlichen Jünger sass, hätte dies meinen können. So sanft spricht anderswo kaum ein Meister. Aber wir durften uns nicht täuschen lassen. Achtsamkeit gleicht einem zarten Hauch. Aber sie verändert unsere Perspektiven und Friede verwandelt die Welt.

Prof. Dr. Georg Schmid, 24. Januar 2022

Lexikoneintrag Thich Nhat Hanh

Die Liebesgeschichte des Meisters Thich Nhat Hanh – Ein Besuch im Plum Village

Buddhistische Meister der Gegenwart – Vortrag von Margrit Meier