«The dark feminine»: Besuch eines Samhain-Frauenzirkels in Basel

Ich atme schnell, als ich vor meinem Ziel stehe. Gerade rechtzeitig komme ich bei der Adresse im Zentrum von Basel an, die mir per Mail zugesendet wurde. Hektisch suche ich die Klingelschilder nach einer Luzia Schucan ab – einer «Priesterin der Neuen Erde», wie es auf ihrer Website heisst. Aber es ist kein ähnlicher Name zu finden. Ich gehe die Klingelschilder immer wieder durch, bin schon fast am verzweifeln, als ich ein Schild mit dem Aufdruck «Praxis Hinterhof» entdeckte. Praxis? Das passt irgendwie gar nicht zu dem, was ich im Internet über Luzia gefunden hatte.

God is a Woman

Diese ist nämlich Teil der Göttinnen-Bewegung, die in den 1970er Jahren als Antwort auf die Dominanz von Männern in Religionen und Weltanschauungen entstand. Es ist nicht selten, dass im «Goddess Movement» der Fokus auf weiblichen Göttinnen und der weiblichen Sexualität vorherrschend ist. Auch in der Schweiz gibt es immer mehr Vertreterinnen der Bewegung, die jedoch unterschiedliche Ideale und religiöse Standpunkte vertreten[1]. Um herauszufinden, wie Luzia ihre Frauenzirkel leitet und um ein besseres Bild von der Göttinnen-Bewegung zu erhalten, besuche ich den «feminine sexuality circle», der das Thema «The dark feminine» trägt. Passend zu Samhain, dem 31. Oktober, wird der Zirkel mit Schlagworten wie «Sinnlichkeit in den dunklen Monaten», «Schatten-Sehnsüchte» oder «Verbindung zu der Ahnenreihe» [2]  beworben.

Wohliges Beisammensein

Als ich nun in einen dunklen Hinterhof gehe, werde ich plötzlich nervös. Eigentlich weiss ich gar nicht, was in einem solchen Zirkel passiert. Hätte ich mir überlegen sollen, wie ich reagiere, wenn ich etwas nicht machen möchte? Dafür ist es nun offenkundig zu spät. In einem kleinen Haus im Innenhof öffnet sich die Tür und Luzia strahlt mir entgegen. Sie ist klein und zierlich, hat eine warme Ausstrahlung. Sie umarmt mich zur Begrüssung und ich sehe über ihre Schulter, dass bereits eine paar andere Frauen anwesend sind. Das Licht ist gedämmt und es riecht nach Räucherstäbchen und Apfeltee. In der Mitte des Raums sind einige Tücher gelegt, die mit Kerzen und anderen Gegenständen verziert sind. Drum herum liegen weisse Felle, eins für jede Frau. Federn zieren den Boden und die Wände, es gibt Musikboxen an der Wand.

Nach und nach kommen weitere Frauen dazu, bis wir inklusive Luzia zu acht sind.  Die Frauen sind zwischen Mitte 20 und Anfang 40, die Stimmung im Raum ist ruhig. Der Abend beginnt damit, dass Luzia uns bittet aufzustehen. Wir bewegen uns im Takt der Musik, die nun angeschaltet wurde und lauschen Luzias Stimme. Sie bittet uns, den Boden zu spüren und uns fallen zu lassen. Wir sollen alles abschütteln, was uns beschwert und uns leicht machen. Mehrere Minuten bewegt sich jede Frau für sich, bis wir uns wieder setzen, um gemeinsam ein Lied zu singen. Es soll die Göttin Kali ehren, die im Hinduismus sowohl für Leben, als auch für Tod und Verderben[3] steht. Die dunkle Jahreszeit, die nun beginne, repräsentiere den Prozess der Erneuerung, der immer die Komponenten Leben und Tod beinhalte, so Luzia. Dabei bezieht sie sich auch immer wieder auf den Uterus, der auch beide Prozesse integriere. Kali symbolisiert darüber hinaus die Zerstörung von Negativität und die Notwendigkeit, sich mit seinen eigenen Fehlern zu konfrontieren, damit sie eliminiert werden können.

Und so ertönen folgende Strophen aus unseren Mündern:

«Om Namo Kali Kali Om Namo.

Oh great mother, we envoke you in this space. Take away the pain and fill us will your grace.

Kali burn it all away, burn it all away. If it doesn’t serve us, then burn it all away.»

Luzia singt vor, wir singen nach. Sie hat eine Trommel in der Hand, mit der sie einen mitreissenden Takt spielt.

Planänderung

Wir sind in das Lied vertieft, als es plötzlich von oben rumpelt und klopft. Wenig später hämmert es an der Tür und eine erzürnte Nachbarin beschwert sich über den Lärm. Ich werde hellhörig, will sehen, wie Luzia auf die Kritik reagiert. Interessant ist das, weil Luzia offenbar oft als Leiterin von Gruppen fungiert, auch organisiert sie Rituale zu Hochzeiten und anderen Festtagen und bildet neue Priesterinnen aus. Wenn eine solche Leitungsperson ihren Anhängerinnen ein Kritikverbot auferlegt oder schlichtweg nicht damit umgehen kann, öffnet das mitunter den Raum für dysfunktionale Gruppenstrukturen. Aber meine Sorge ist unbegründet: Luzia beschwichtigt die Dame und erklärt uns anschliessend, dass wir nun etwas leiser fortfahren werden, falls das für uns in Ordnung ist. Sie äussert zwar kurz ihr Bedauern über die Wut der Nachbarin, da es erst 20:00 Uhr ist, aber belässt es dann dabei.

Vertrauen in der Yoni-Runde

Jetzt seien wir an der Reihe, sagt Luzia und erklärt uns, was nun folgt. Jede von uns soll kurz beschreiben, wie es ihr mit der kommenden «dunklen» Jahreszeit geht und wo sie im Moment mit ihrer Sinnlichkeit stehe. Um zu verdeutlichen, wer gerade spricht, wird eine Ton-Vulva, von Luzia «Yoni» genannt, herumgegeben. Jede Frau darf zusätzlich dazu ein Teelicht anzünden und dabei einen Wunsch an seine Ahnenreihe weitergeben. In den folgenden Minuten wird sich Zeit genommen, über die eigenen Gefühle zu sprechen. Die Frauen scheinen sich allesamt wohl und sicher zu fühlen, sie geben viel Persönliches preis. So erzählt eine Anwesende, dass Sie zur Zeit mit den Folgen eines traumatischen Ereignisses zu kämpfen habe. Es herrscht offensichtlich eine vertraute Stimmung, die massgeblich durch die einfühlsame Art von Luzia getragen wird. Trotzdem ist es aufwühlend, wie die Frau ihre tragischen Erfahrungen schildert und zwar in einem Raum, in dem niemand eine psychotherapeutische Ausbildung  besitzt, die eine Qualitätssicherung zum Umgang mit traumatisierten Menschen erlaubt. Luzia reagiert jedenfalls richtig: Sie bewertet die Erfahrung nicht, erkennt sie an und verzichtet darauf, bohrende Nachfragen zu stellen.

Mutterschoss und Ahnenreihe

Weiter geht es mit einer «schamanischen» Reise, zu der Luzia uns anleitet. Dabei teilen wir uns in Zweier-Gruppen auf – in dieser Konstellation soll eine Frau die Mutter symbolisieren und eine andere Frau darf sich anlehnen und so die Ahnenreise vornehmen. Wir bringen uns in Position und lauschen Luzias Stimme und einer leisen Hintergrundmusik. Sie geht mit einer grossen Feder und einem Räucherstäbchen durch den Raum, fächelt uns zu und singt manchmal. Sie leitet uns an, uns vorstellen, dass sich hinter unserer linken Schulter unsere weibliche Ahnenreihe mütterlicherseits aufbaut. Wir sollen uns überlegen, was diese Frauen in ihrem Leben geleistet haben, mit was sie vielleicht auch zu kämpfen hatten und welche Fehler sie begangen haben. Klar ist: Während das für einige vielleicht ein unbefangenes Thema ist, kann diese Trance-ähnliche Konfrontation mit Familienmitgliedern für andere sehr aufwühlend sein. So ist es auch nicht für alle gleich einfach, den Ahn*innen, wie Luzia sie nennt, zu vergeben. Das stellt sich in der Feedback-Runde heraus, die im Anschluss an die schamanische Reise folgt. Jeder bekommt nach dem Erlebnis die Möglichkeit, etwas zu der Reise zu sagen.

Schwesternschaft auf Kosten anderer Kulturen?

Am Ende des Abends singen wir noch ein wenig zusammen und halten uns am Ende zur Verabschiedung an den Händen. Ein eigentlich schönes Gefühl, dass sich fremde Menschen so viel Vertrauen schenken und zusammen musizieren. Dennoch bestehen um die Göttinnen-Bewegung besonders zwei Kontroversen: Erstens ist die Bewegung dem Vorwurf kultureller Aneignung ausgesetzt. Der Grund dafür findet sich in dem Hauptmerkmal der Szene, das massgeblich durch das Anbeten verschiedenster weiblicher Gottheiten aus diversen Religionen besteht. Dabei kann der Eindruck entstehen, man bediene sich einzelner Kulturphänomene und mische sie passend für ein westliches Publikum zusammen. Zweitens wird kontrovers diskutiert, ob die starke Betonung der weiblichen Geschlechtsorgane nicht zu einem ungewollten Rückgang alte Rollenbilder verleitet. Die emanzipatorische Bewegung, bei der Frauen selbstbestimmt ihre Fraulichkeit feiern, könnte so den gegenteiligen Effekt bewirken.

Luzia schaffte es trotzt dieser Kontroversen, dass ein angenehmes Klima bestand, in dem auch ich mich wohlfühlte. Es bleibt spannend, wie sich die Göttinnen-Bewegung entwickeln und auf die bestehenden Spannungsfelder reagieren wird.

Julia Sulzmann, 02.11.2022

[1] Aecherli, H. (10.11.2020) Das steckt hinter der «Awakening-Bewegung». Annabelle. https://www.annabelle.ch/leben/steckt-hinter-awakening-bewegung-50863/

[2] https://www.facebook.com/events/1292688908231158?ref=newsfeed

[3] Swami, M. (2008). Kali. Slayer of Illusion. New Delhi: Om Books International.