Foodsharing-Events als neue Werbetaktik von Shincheonji

Die ursprünglich aus Korea stammende umstrittene Gemeinschaft Shincheonji, die auch unter dem Namen «New Heaven New Earth Church» auftritt und zurzeit diejenige Organisation darstellt, welche in der Deutschschweiz am aktivsten missioniert, versucht auf immer neuen Wegen, junge Menschen an sich zu binden. In der Vergangenheit wurde dabei meist verdeckt vorgegangen, um welche Gemeinschaft es sich handelt, erfuhren die Angeworbenen typischerweise erst nach Monaten des Mittuns. Die einzelnen Werbestrategien haben sich abgewechselt, sie wurden jeweils in der Zentrale in Korea ausgetüftelt und dann weltweit umgesetzt. So scheint dies auch bei der neuesten Strategie der Fall zu sein: der Organisation von Foodsharing-Events in öffentlichen Räumen.

Werbung in Online-Plattformen

Zu diesen Foodsharing-Events werden Menschen eingeladen, die vorher auf Freundschaftsplattformen wie Bumble Friends angesprochen wurden. Schon seit Beginn der Corona-Pandemie sind Shincheonji-Mitglieder auf den diversen Kontaktanbahnungs-Angeboten im Internet wie Bumble BFF oder FriendsUp unterwegs, um Menschen, die auf der Suche nach neuen Freundschaften sind, anzusprechen und in die Gemeinschaft zu locken. Aber auch bei Instagram und in Tandem Sprachlerngruppen wird Werbung gemacht. In einem ersten Schritt versuchen die Shincheonji-Mitglieder, das Vertrauen der Angesprochenen zu wecken, indem sie gemeinsame Interessen betonen oder auch bloss behaupten – so berichtet eine ehemalige Shincheonji-Anhängerin aus Deutschland, dass sie ein Psychologie-Studium vorgetäuscht und dafür eigens Fachliteratur eingekauft habe. Vor allem aber werden die Angesprochenen mit Zuwendung und Komplimenten überschüttet, so wie es die auch von anderen Gemeinschaften praktizierte Taktik des «Love Bombings» vorsieht: Die Anzuwerbenden sollen das Gefühl erhalten, sie hätten die besten Freunde gefunden, die sie je hatten. Menschen, die von Shincheonji angesprochen wurden, berichten von überschwänglichen Textmitteilungen mit Kaskaden von Emojis wie Smileys und gelben Herzen, die auf einsame Menschen auf der Suche nach Anschluss attraktiv wirken sollen.

Erwünschte und unerwünschte Menschen

Im Unterschied zu anderen Gruppen mit Love Bombing geht Shincheonji aber in einem weiteren Schritt sofort daran, möglichst viele Informationen über die interessierte Person zu sammeln, nicht nur deren Namen und Adresse, sondern auch Beruf, finanzielle Situation, Partnerschaft, sexuelle Ausrichtung und religiöse Haltung. Diese Informationen, die in einem Dossier zusammengetragen werden, dienen dazu, zu entscheiden, ob und wie die interessierte Person weiterbearbeitet wird. Shincheonji kennt zahlreiche Ausschlusskriterien bei der Werbung von neuen Mitgliedern, so wurden in der Vergangenheit keine Menschen mit nichtchristlicher Religion angeworben, keine pointiert atheistischen Personen, keine homosexuellen Menschen, keine Schwangeren, keine Personen mit Schulden etc.  Zum Ausschluss von Menschen nichtchristlicher Religion kamen sogar rassistische Stereotype zur Anwendung, sodass Personen aufgrund ihrer Hautfarbe angesprochen wurden oder auch nicht.

Interessiert ist Shincheonji vor allem an jungen Leuten, die christlich geprägt, aber suchend sind, idealerweise über einen einträglichen Job verfügen, zu hohem Engagement bereit und in der Lage sind, aber noch keine eigene Familie haben, so dass sie für die Missionierung ideal eingesetzt werden können.

Die Online-Werbung, die Shincheonji wegen Corona eingeführt hat, wird auch nach Corona weiterbetrieben. Allerdings wird nun versucht, die im Internet Requirierten möglichst auch offline zu versammeln. Love Bombing funktioniert in Person besser als über den Bildschirm, und auch die Beschaffung von Informationen ist in einem informellen persönlichen Kontakt unauffälliger. Eine neue Methode, Online Angeworbene persönlich kennenzulernen, sind die Foodsharing-Events, die neuerdings angeboten werden.

Shincheonji-Foodsharing im GZ Hottingen in Zürich

So geschehen am vergangenen Donnerstag im Gemeinschaftszentrum Hottingen, das zu den Zürcher Gemeinschaftszentren gehört. Der Foodsharing-Event war in keiner Weise als Veranstaltung von Shincheonji gekennzeichnet, Rückfragenden, welche sich nach dem Hintergrund der Veranstaltenden erkundigten, wurde beschieden: «Wir sind einfach eine Gruppe von jungen Leuten, die sich treffen». Erst am Ende der Veranstaltung wurde der religiöse Bezug deutlich, als ein Leitender eine kurze Ansprache zu «Geist und geistlicher Nahrung» hielt. Hintergrund war, wie immer bei Shincheonji-Werbeveranstaltungen, der Versuch, die Anwesenden für ein Shincheonji-Bibelstudium zu gewinnen, bei welchem die Interessierten in die Lehre von Shincheonji eingeführt werden. Die versprochene «geistliche Nahrung», welche über die irdische Nahrung des Foodsharing-Events herausführen würde, sollte das Bibelstudium darstellen.

Bibelstudium als Einführung

Im Rahmen des Bibelstudiums, das mehrere Monate dauert, aus drei Levels besteht und an mehreren Abenden pro Woche stattfindet, werden die Interessierten in die Lehre von Shincheonji eingeführt. Dabei lernen sie, dass nur Shincheonji den richtigen Schlüssel zum Verständnis der Bibel habe und deshalb nur Shincheonji die Wahrheit lehre. Shincheonji sei, wie der koreanische Name es sagt, der «Neue Himmel und die neue Erde», welche nach dem zweitletzten Kapitel der Bibel, Off. 21,1, dereinst von Gott geschaffen würden. Shincheonji würde das Paradies darstellen, welches sich das Christentum alle Jahrhunderte hindurch erhofft hat. Gebracht habe dieses Paradies Man-Hee Lee, der Gründer und Leiter von Shincheonji, welcher als «versprochener Pastor» oder «verheissener Hirte» die Gläubigen ins neue Jerusalem führe. Man-Hee Lee behauptet, selbst unsterblich zu sein, ein Anspruch, der angesichts von Lees Jahrgang 1931 bald getestet werden könnte. Ehemalige Shincheonji-Mitglieder vermuten, dass Lees Ableben mit Ausflüchten erklärt werden wird, die ähnlich auch schon in anderen Gemeinschaften mit selbsternannten Unsterblichen an der Spitze angewandt wurden: Lee habe die neue Erde errichtet, und sei nun freiwillig in den Himmel gegangen, um dort den neuen Himmel zu etablieren. Es wird interessant sein festzustellen, ob diese Vermutung zutrifft.

Weitere Tricks

Während des Bibelstudiums macht Shincheonji nebst dem Love Bombing noch von einer weiteren Methode Gebrauch, die aus anderen umstrittenen Gemeinschaften bekannt ist, dem «Sandwiching». Jeder neuen Person wird eine, idealerweise zwei Bisherige zugeteilt, die sich aber ebenfalls als Neue ausgeben und ihren Schützling betreuen und überwachen. Die interessierte Person wird gewissermassen eingeklemmt wie eine Scheibe Schinken zwischen zwei Brötchen, deshalb der Name der Methode. Bei Shincheonji heissen die Interessierten «Früchte», die Bisherigen, die Neue spielen, sind die «Blätter», welche die Früchte beschützen. Das Ziel der Methode ist ein Mehrfaches: direkten Kontakt zwischen Neuen verhindern, Zweifel und Probleme erkennen und abfangen, Informationen sammeln, Love Bombing optimieren. Wegen dieser «Frucht-Blatt»-Methode finden sich in Shincheonji-Kursräumen mindestens ebenso viele Bisherige wie Neue, was den Interessierten aber erst klar wird, wenn sie das Bibelstudium selbst absolviert haben. Damit die Zuteilung von «Früchten» und «Blättern» optimal funktioniert, sind in Shincheonji-Kursräumen die Plätze angeschrieben. So kann ausgeschlossen werden, dass mitunter zwei «Früchte» ohne «Blatt» dazwischen Platz nehmen.

Zweierlei Gottesdienste

Während des Bibelstudiums werden die Absolvierenden zu Gottesdiensten eingeladen, die jeweils am Sonntagabend stattfinden und bewusst an freikirchliche Veranstaltungen angelehnt sind, so werden bevorzugt Lieder von Hillsong gesungen, die sich im freikirchlichen Bereich hoher Beliebtheit erfreuen. Die Predigt dieser Gottesdienste entspricht den ersten Lektionen des Bibelstudiums und soll auf dieses hinführen.

Wer alle drei Level des Bibelstudiums absolviert hat, muss über den Inhalt einen umfassenden Text ablegen. Besteht die Person, wird sie in Shincheonji eingeführt, nachdem sie Unterordnung und Gehorsam gelobt hat. Nun wird erwartet, dass sie die eigentlichen Gottesdienste von Shincheonji besucht, die jeweils mittwochs und am Sonntagvormittag im Tempel stattfinden. Im Tempel findet sich ein Altar, aber keine Stühle. Die Mitglieder sitzen geschlechtsgetrennt am Boden, in Weiss und Schwarz gekleidet, mit Kravatten und Schals, welche die Farbe des jeweiligen Stamms tragen, zu welchem die Gemeinde gehört. Shincheonji ist in zwölf Stämme unterteilt, die mit den Namen eines Jüngers aus dem Neuen Testament bezeichnet werden. Die Shincheonji-Sektion in Zürich gehört zum Stamm Philippus, dem die Farbe Pink zugeordnet ist. Deshalb tragen Zürcher Shincheonji-Anhänger Pink-farbene Kravatten. Gesungen werden eigene Lieder, welche Shincheonji und Man-Hee Lee preisen und von den Mitgliedern vollen Einsatz verlangen.

Regeln bei Shincheonji

Wer Mitglied ist, muss sich an strenge Regeln halten. Gottesdienste dürfen keinesfalls verpasst werden, auch aus Ferien muss mindestens online teilgenommen werden. Vorgeschrieben ist die Beteiligung an Imagepflege-Aktionen von Shincheonji, z.B. öffentlichkeitswirksames Blutspenden oder Aufräumen auf öffentlichem Grund. Finanziell ist der Zehnte zu entrichten, dazu kommen weitere Gaben. Über den Tagesablauf ist ein Tagesbericht abzulegen, welcher der zuständigen Leitungsperson überreicht wird. Vor allem aber soll missioniert werden. Als Mitglied gilt erst, wer eine Frucht gebracht hat, wer eine Person für Shincheonji angeworben hat.

Der eigenen Familie darf nichts über Shincheonji erzählt werden, stattdessen soll sie angelogen werden, etwa, dass ein Englisch-Kurs absolviert werde. Hintergrund ist die Befürchtung, dass das soziale Umfeld das Mitglied von Shincheonji abbringen könnte. Durch das Mittun bei Shincheonji, so behauptet die Gemeinschaft, würde der eigenen Familie der Weg zum Paradies geöffnet, sodass es in ihrem Sinne wäre, belogen zu werden.

Lügen für Gott?

Zahlreiche umstrittene Gemeinschaften setzten in der Vergangenheit Lügen ein, um Menschen zu gewinnen. Mancherorts wurde das als «Theokratische Kriegslist» vernebelt, anderswo als «Heavenly Deception». Shincheonji macht sich keine solchen terminologischen Umstände. Lügen für Gott sei erlaubt, wird behauptet. Begründet wird dies mit einer Bibelauslegung, die für Shincheonji typisch ist. Wer wegen der Empfehlung zum Lügen bei Shincheonji-Leitenden nachfragt, wird auf Römer 3,7 hingewiesen: «Wenn aber Gottes Wahrhaftigkeit durch meine Lüge sich in ihrer ganzen Fülle gezeigt hat zu seiner Ehre, was werde ich dann noch als Sünder gerichtet?». Ausgelegt wird dieser Vers in dem Sinne, dass Paulus Lügen für Gott für gerechtfertigt halte. Unterschlagen wird die Fortsetzung des Texts: «Ist es etwa so, wie einige in verleumderischer Weise von uns behaupten, dass wir nämlich sagen: Lasst uns doch das Böse tun, damit das Gute komme? Wer das behauptet, dem wird zu Recht das Urteil gesprochen» (Röm 3,8 Zürcher Bibel). Shincheonji verkehrt den Sinn der biblischen Aussage in ihr genaues Gegenteil. Dass Shincheonji so vorgeht, ist nebst dem Stress, den eine Mitgliedschaft bei Shincheonji mit sich bringt, ein häufiger Ausstiegsgrund.

Georg O. Schmid, 24. Februar 2023

Lexikoneintrag Shincheonji

Anmerkung

Stellungnahme der Organisation «foodsharing Zürich»:

Die Organisation «foodsharing Zürich» setzt sich für Lebensmittelrettung und -verteilung ein und hat keinen Bezug zu den Treffen im GZ Hottingen oder zu Shincheonji. Sie distanziert sich von der Werbung für jegliche religiösen Gruppierungen und arbeitet unabhängig von politischen Parteien und Konfessionen.