Unbekannte Gemeinschaft missioniert an Schweizer Universitäten

Geheimnisvoller Flyer

«We need a fresh wind from heaven». Mit diesem Satz beginnt die Recherche zu einer «Bible Study», die in verschiedenen Städten in der Schweiz aktiv ist und ihr Identität geheim hält. Er steht auf einem bunten Flyer, den Schmetterlinge und Blumen zieren – aufgehängt am schwarzen Brett des psychologischen Instituts der Universität Zürich in Oerlikon. Den wundervollen Geruch des Himmels könne man erfahren, sofern man zu der Bibelstunde komme. Der Text lautet:

«Come and join us for Bible study and experience this wonderful fragrance from heaven – the life-giving Spirit of Jesus Christ!»

Nun sind Gruppierungen unterschiedlicher Glaubensrichtungen an einer Universität zunächst nichts Ungewöhnliches. Seltsam ist jedoch, dass auf dem Flyer kein Name einer Gemeinschaft steht. Auch eine Website, ein QR-Code oder andere Informationen fehlen. Einzig befinden sich zwei Telefonnummern am Rand des Zettels – zum Abreissen, wie etwa, wenn ein Haustier vermisst wird. Die Nummern sind nur mit einem Vornamen versehen und der gesamte Text ist auf englisch verfasst.

Ein erster Verdacht

Wegen der englischen Sprache, dem bunten, fast kindlichen Design und der unbekannten Herkunft des Flyers schliessen wir zunächst auf die hochumstrittene Gemeinschaft Shincheonji. Die Neuoffenbarungsreligion, die aus Südkorea stammt und mittlerweile international tätig ist, ist besonders für ihre verdeckte Anwerbung bekannt, zu deren Zweck immer wieder neue Methoden ins Leben gerufen werden. Zum Beispiel erfuhren wir kürzlich, dass Shincheonji Mitglieder bei Veranstaltungen anwirbt, die als Foodsharing-Event getarnt sind. Zusätzlich wissen wir, dass Shincheonji nicht davor zurückschreckt, gezielt junge Menschen an Universitäten zu missionieren. Deshalb möchten wir abklären, ob der Flyer Teil einer neuen, uns noch unbekannten, Strategie der Gemeinschaft ist.

Überregionale Aktivitäten

Wir entwickeln die Idee, eine Bibelstunde zu besuchen, um uns ein Bild von der Gemeinschaft machen zu können – aber vor allem, um zu überprüfen, ob es sich um Shincheonji handelt. Unser Plan steht fest, als wir im Februar 2023 von einer Journalistin aus Bern kontaktiert werden. Sie habe einen dubiosen Flyer zugesendet bekommen, der in der Universität Bern aushänge. Lediglich ist auf dem Zürcher Flyer im Hintergrund die Zürcher Skyline mit Grossmünster und St. Peter und auf dem Berner Flyer das Berner Äquivalent mit Berner Münster und Bundeshaus abgebildet. Auch die angegebenen Telefonnummern und Vornamen unterscheiden sich. Nun ist uns klar: Es muss sich hier und eine überregionale Gemeinschaft handeln, deren Werbestrategie an verschiedenen Standorten identisch ausgeführt wird.

Alte Spuren

Nachdem wir der Journalistin sagen mussten, dass wir auch noch keine Anhaltspunkte für den Hintergrund der Gemeinschaft haben, recherchieren wir in unseren Archiven. Dabei finden wir heraus, dass wir schon im Jahr 2019 eine Anfrage wegen eines ähnlichen Flyers in Bern erhielten. Interessant ist: Sogar die damalige und heutige Telefonnummer sowie der Vorname auf dem Berner Flyer stimmen überein. Schnell finden wir heraus, dass wir mit «Michael», wie es auf den Abreisszetteln heisst, bereits Kontakt hatten. Es handelt sich um Michael Ackert, einen Religionswissenschaftler und Psychologen, der an der Universität Bern am Institut für Empirische Religionsforschung tätig ist. Im damaligen E-Mail-Verkehr nannte er uns keinen Namen der Gemeinschaft. Wir kontaktieren ihn erneut: Wieder zeigt er sich verschlossen. Auch der Journalistin nennt er keinen Namen der Gemeinschaft, für die er wirbt. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als der Gemeinschaft einen Besuch abzustatten.

Die Bible Study

Es ist bereits dunkel, als ich um 19:00 Uhr vor dem Lernzentrum des Campus Irchel stehe und auf die anderen Teilnehmenden der Bibelstunde warte. Durch die Nummer auf dem Abreisszettel nahm ich Kontakt zu Hovannes auf, der mir via Whatsapp die Adresse der Bible Study und des sonntäglichen Gottesdiensts verriet. Nun kommt mir eine Gruppe von vier Menschen entgegen: Ein Mann und eine Frau, die ich auf Anfang vierzig schätzen würde, eine circa 16-jährige Jugendliche und eine circa 30-jährige Frau. Sie begrüssen mich freundlich und der Mann stellt sich als Hovannes vor. Er scheint der Leiter der Bibelgruppe zu sein. Schon auf dem Weg ins Gebäude sucht eine der Frauen das Gespräch mit mir. Sie erzählt, dass sie ihr Studium in Politikwissenschaften abgeschlossen habe und nun eine PhD-Stelle beginne. Als wir im Lernraum ankommen geht es mit freundlichem Smalltalk weiter und erste interessante Informationen treten zutage.

Studenten- oder Familienkreis?

Hovannes und Juliane – die beiden knapp 40-Jährigen, deren Namen auf dem Flyer angebracht waren, sind ein Ehepaar. Sie erzählen mir, dass Hovannes als Psychiater arbeitet und Juliane als Lehrerin. Ist das vielleicht der Grund, warum die Gemeinschaft ihre Identität zurückhält? Offenbar befinden sich bei der unbekannten Gruppierung Menschen in Leitungspositionen, die mit vulnerablen Personengruppen arbeiten und somit auf einen vertrauenswürdigen Ruf angewiesen sind. Sie erzählen mir auch, dass es sich bei der Jugendlichen um ihre Tochter handelt. Im Gegenzug fragen sie nach meinem religiösen Hintergrund: Ob ich christlich sozialisiert wurde, was mich nun hier her bewegt und wie gut ich mich mit der Bibel auskenne. Hovannes scheint einige Parallelen zwischen meiner und seiner Sozialisierung zu sehen. Er erklärt, dass er immer einen losen Kontakt zum Glauben gehabt habe und erst nach dem regelmässigen Lesen der Bibel ein besseres Verständnis von Gott erhalten habe.

Berliner Ursprung

Im Rahmen ihrer Kennlerngeschichte erzählen mit Hovannes und Juliane, dass sie sich in Berlin bei einer Bibelstunde wie dieser kennengelernt haben. Beim Betrachten ihrer circa 16 Jahre alten Tochter wird klar: Das muss knapp 20 Jahre her sein. Sie erzählen, dass sie nach ihrer Zeit in Berlin in andere deutsche Städte gingen, unter anderem Hamburg, und dort ähnliche Bibelgruppen ins Leben riefen. Sie erwähnen sogar, dass sie damals schon mit Flyern warben. Es entsteht der Eindruck, dass es eine Gemeinschaft in Berlin gab oder gibt, die ihre Mitglieder aussendet, um in diversen Städten Bibelkreise zu gründen. Unterstützt wird die Vermutung von der Tatsache, dass Michael Ackert auch längere Zeit in Berlin bei der Gemeinschaft aktiv war und nun genau so wie die Juliane und Hovannes in Zürich, einen Bibelkreis in Bern gegründet hat. Bei unserem Telefonat bestätigt uns Ackert, dass es sich bei der Gemeinde in Berlin um die gleiche handelt, der er jetzt noch angehört.

Es scheint darüber hinaus eine Gruppe in Basel zu existieren: Hovannes erzählt zu Beginn, dass beim Sonntagsgottesdienst in Zürich Menschen aus Bern und Basel dazustossen würden.

Bibellesen als kurativer Prozess

Kurz bevor die Bibelstunde offiziell beginnt stösst noch ein weiterer Student hinzu, den ich auf circa 20 schätze. Hovannes läutet die Bibelstunde mit einem lauten Gebet ein und erklärt im Anschluss, dass wir uns am heutigen Abend vornehmlich mit Genesis 15 beschäftigen werden. Alle Teilnehmenden ausser Juliane schreiben fleissig mit.

Inhaltlich geht es um Abrahams Verwunderung darüber, dass Gott ihm leibliche Kinder versprach und er im hohen Alter immer noch keine besitzt. Die Geschichte wird darauf heruntergebrochen, dass Gott Abraham letztlich eine Vielzahl von Kindern schenkte – aber nur weil Abraham sich zu Gott bekennt. Betont wird, dass derjenige Gerechtigkeit erfährt, der Gott vertraut.

Durch Gottes Wort würden Leben verändert, erklärt Hovannes. Und Gottes Wort sei gleichzusetzen mit der Bibel. In dem Zusammenhang geht Hovannes auf seine Glaubensgeschichte ein: Erst als er begann, regelmässig in der Bibel zu lesen, habe er verstanden, was Christ sein bedeutet. Ab da habe sich sein Leben ins Positive verändert. Dieses Narrativ greifen seine Tochter und seine Frau in ihren Wortbeiträgen später auf, es gehe ihnen durch die Bank besser, wenn sie regelmässig die Bibel lesen. Abgesehen von der sehr wörtlichen Auslegung der Bibel und den Bekehrungserkenntnissen ausgelöst durch regelmässiges Bibellesen, ist die Bibelstunde relativ unauffällig. Sowohl die Theologie, als auch die Gruppendynamik stimmen nicht mit Shincheonji überein.

Geheimniskrämerei

Als wir nach der Bibelstunde das Gebäude auf dem Campus Irchel verlassen, frage ich Juliane, um was für eine Gemeinschaft es sich hier eigentlich handelt. Sie weicht aus. Sie spricht, genau wie Hovannes, von «der Gemeinde» und lässt sich keine Informationen über die Gruppe entlocken. Sie geht darauf ein, dass der sonntägliche Gottesdienst ganz ähnlich und informell sei, lediglich könne man im Anschluss gemeinsam essen. Ausserdem werde während des Gottesdienstes gesungen. Mir gehen viele Fragen durch den Kopf: Wer bestimmt, wer ausgesendet wird, um Bibelkreise zu gründen? Benötigen diese Leute eine theologische Ausbildung? Als wir Michael Ackert bei unserem Telefonat mit diesen Fragen konfrontieren, sagt er: «Gott bestimmt das». Abgesehen davon, dass diese Antwort Aufschluss über das Glaubensverständnis von Ackert gibt, wird die konspirative Wirkung der Gruppe verstärkt.

Ein internationales Rätsel

Nach der Bibelstunde steht fest: Es kann sich nicht um Shincheonji handeln. Nachdem die Neuoffenbarungsreligion in der Vergangenheit eine Vielzahl verdeckter Anwerbe-Strategien ins Leben gerufen hatte, ist es erleichternd, dass die Bibelgruppen nicht als eine davon gelten kann. Allerdings sind wir nun kaum schlauer als vorher und kontaktieren deshalb unsere deutschen Kollegen, besonders die in Berlin. Aber auch dort verläuft die Spur im Sand. Ein Kollege hatte einen ähnlichen Flyer bereits gesichtet. Wir vermuten Bezüge zu Universität-Bibel-Freundschaft (UBF) und Campus Mission International (CMI). Michael Ackert verneint seinerseits eine Verbindung mit diesen Gruppierungen.

Rückzug statt Öffnung

Nachdem in der Berner Zeitung ein Artikel zu der unbekannten Gemeinschaft mit den Bibelstunden erscheint, meldet sich Michael Ackert nochmal bei uns. Seine Einladung zu einem Gottesdienst zieht er zurück. Man hätte vermuten können, dass die Berichterstattung bei Ackert zur Einsicht führt, dass die Geheimniskrämerei mehr Misstrauen weckt als dass sie neue Mitglieder anspricht. Wir können daraus nur den Schluss ziehen, dass die Akquise neuer Mitglieder bei «der Gemeinschaft» der Geheimhaltung ihrer Identität untergeordnet ist. Dennoch macht die Gruppe freudig weiter. Im März 2023 hängt bereits ein Flyer im neuen Design im Psychologischen Institut der UZH.

«Wir sind Christen und lesen mit grosser Freude die Bibel. Wir lernen Gott durch die Bibel kennen, denn Gott drückt sich durch sein Wort aus.»

Julia Sulzmann und Georg O. Schmid, 15. März 2023