Die innere Ruhe finden – Besuch des Freitagsgebets der Marburger Moschee

Ein grau verziertes Minarett und blaue Bruchglasfenster

Die Moschee in Marburg ist ein moderner Bau, schlicht in weiss und schwarz gehalten mit einem Minarett, eingefasst in ein Netz aus grauen Verzierungen. Auf dem Vorplatz steht ein Kunstwerk, welches die fünf Säulen des Islams repräsentieren soll. Als ich am Freitagnachmittag eintreffe, sind noch nicht viele Menschen in der Moschee. Über eine Treppe gelange ich in das obere Stockwerk, wo sich der Frauenbereich befindet. Ich ziehe meine Schuhe aus und betrete den Gebetsraum. Einige Frauen und Kinder sind bereits da, beachten mich aber nicht weiter. So setze ich mich ganz hinten an die Wand gelehnt auf den Boden und lasse den Raum auf mich wirken. Es ist hell und freundlich, die Wände sind in einem schlichten weiss gehalten. Durch die blauen Bruchglasfenster dringt sanftes Licht in den Raum und die Farben spiegeln sich im blau gemusterten Teppich wieder.

Adhan, der Gebetsruf

Einige Frauen beten in der Mitte des Raumes, die meisten sitzen jedoch an die Wand gelehnt auf dem Boden wie ich. Manche unterhalten sich miteinander auf Deutsch oder Arabisch, andere lesen im Koran. Die Frauen tragen ganz unterschiedliche Kopftuch-Stile, viele davon sehr modisch. „Allahu Akbar„. Vom Männerbereich unter mir erklingt der Adhan, der Gebetsruf, und mehr Frauen strömen zu dem melodischen Ruf in den Raum. Einige davon tragen kein Kopftuch und nehmen sich Röcke oder Gebetskleider aus einer Truhe am hinteren Ende des Raumes. Trotz der weiterhin sprechenden Kinder entsteht eine fast mystische Stimmung durch den gesangsartigen Gebetsruf.

Arabische Predigt und herumtollende Kinder

Die Frauen bleiben sitzen, als der Imam einige Gebete zu sprechen beginnt. Ich kann nicht verstehen was er sagt, alles ist auf arabisch und der Mann spricht sehr schnell ohne Luft zu holen. Die meisten Frauen sind nun still, nur die Kleinkinder rennen weiter herum und ein kleines Baby weint bitterlich. Zwei kleine Jungen stehen ganz vorne am gläsernen Galeriegeländer, drücken ihre Hände ans Glas und blicken auf den Imam und die Männer herunter. Weitere Frauen kommen herein, als mir die junge Frau neben mir sagt, der Imam erzähle etwas von der Schlacht von Uhud. Unbeirrt rattert der Imam seine Predigt ab, während sich einige Frauen unterhalten, die Kinder herumtollen und eine Frau ihren Lippenstift nachzieht.

Die innere Ruhe als Geschenk Gottes

Unvermittelt wechselt der Imam in seiner Predigt auf Deutsch. In einem enormen Tempo spricht er von der inneren Ruhe, die Allah den Gläubigen geschenkt hatte. In der Not sah Gott, was in den Herzen der Gläubigen war, und sandte ihnen innere Ruhe in ihre Herzen hinab. Diese Gelassenheit half ihnen bei der Auswanderung von Mekka nach Medina und so würde Gott allen Gläubigen in schweren Zeiten innere Ruhe senden. Dies sei ein grosses Geschenk und je mehr Schwierigkeiten ein Mensch habe, desto mehr innere Ruhe würde dieser von Gott erhalten. Nach dem Kummer sei die innere Gelassenheit eine Belohnung und eine Art der Stärkung zugleich. Denn nur wer innerlich ruhig sei, könne gute Entscheidungen treffen.

Die drei Säulen der inneren Ruhe

Die drei Säulen der inneren Ruhe seien dabei Licht, Kraft und Liebe. Diese drei müssten aus dem Herzen kommen, welches erfüllt von Wahrhaftigkeit und Wissen sein solle. Doch wie können wir diese Dinge erreichen? Dazu bedürfe es Selbstabrechnung, Freundlichkeit und das Bewusstsein von Gottes Anwesenheit. Man solle seine Absichten und Taten hinterfragen und sein Verhalten stetig verbessern, um so nach dem Guten zu streben. Dabei sollten die Menschen freundlich miteinander sein, denn wie wir andere Menschen behandeln, würde unser Herz beeinflussen. Unfreundlichkeit und Kaltherzigkeit würden das Herz verderben. Den Menschen sollte bewusst sein, dass Gott in allem präsent sei und uns genau sehen würde – bei allem was wir tun.

Ein frecher kleiner Wirbelwind

Der Imam spricht weiter, jedoch bekomme ich den nächsten Teil nicht genau mit. Ein kleines Mädchen, vielleicht knapp zwei Jahre alt, steht plötzlich vor mir in ihren rosaroten Latzhosen, mit wilden braunen Locken auf ihrem kleinen Kopf. Sie packt meinen Bleistift, mit dem ich gerade Notizen mache, und will damit davonrennen. Sanft sage ich Nein und die Mutter sieht mich entschuldigend an, als das freche kleine Ding schnell wieder davon rennt. Ohne meinen Stift natürlich. Das Mädchen versucht noch zwei weitere Male meinen Stift zu stibizen, bevor sie endgültig aufgibt. Statdessen luchst sie einem kleinen Jungen seinen Ball ab und rennt wie ein kleiner Wirbelwind durch den Raum.

Richtige Entscheidungen und zweiter Gebetsruf

Ich versuche den Faden wiederaufzunehmen und der Predigt des Imams zu folgen. Er spricht davon, dass wir standhaft bleiben sollten und auf Gott vertrauen. Egal in welcher Not wir auch sein mögen, innere Ruhe sei unabdingbar, um die richtigen Entscheidungen zu treffen. Ohne Luft zu holen, geht die deutsche Predigt in ein arabisches Gebet über, gefolgt von einem erneuten Gebetsruf. Nun erheben sich die Frauen und strömen im vorderen Teil des Raumes zum gemeinsamen Gebet zusammen. Nur wenige bleiben mit mir an der Wand sitzen und schauen zu. Vielleicht wollten sie oder durften sie im Moment nicht beten. Beispielsweise darf eine Frau während der Menstruation nicht am gemeinsamen Gebet teilnehmen.

Magische Stimmung und Kinderlieder

Als die Frauen Seite an Seite stehen und einige Kinder noch immer herumlaufen, beginnt der Vorbeter zu rezitieren. Die Art der Rezitation ist schwer zu beschreiben und hat nichts mit den einschläfernden Lesungen in der Kirche zu tun, die ich sonst gewohnt war. Der Vorbeter singt mehr als er sprach und es entsteht eine fast magische Stimmung im Raum. Die Frauen antworten zwischendurch mit einem „Amin“ und verändern ihre Gebetshaltungen alle gemeinsam. Die betenden Frauen und die gesangsartige Rezitation des Vorbeters, die voller Inbrunst durch den Raum hallt, haben etwas sehr Bewegendes an sich. Durchbrochen wird diese Stimmung allerdings von einigen Kindern, die auf einem Handy ein Kinderlied hören und von anderen, die wild durch die betenden Frauen rennen.

Meine innere Ruhe finden

Als der Vorbeter endet, murmeln die Frauen ein paar Worte vor sich hin, bevor einige von ihnen aufstehen und nach draussen strömen. Andere bleiben noch und sprechen zusätzliche Gebete. Viele gehen auch auf einander zu, unterhalten sich und sammeln ihre Kinder ein. Ich selbst bleibe noch einen kurzen Moment sitzen und versuche diese innere Ruhe zu spüren, von der der Imam gesprochen hatte. Vielleicht liegt es an der Stimmung im Raum oder an der wunderschönen Rezitation des Vorbeters, aber ein bisschen innere Gelassenheit kann ich wirklich fühlen.

Die Überschwemmung des Vorplatzes

Also stehe ich auf, gehe hinaus, ziehe meine Schuhe an und trete ins Treppenhaus. Ich erstarre einen Moment, als ich aus dem Fenster sehe und die Masse an Menschen vor der Moschee erblickte. In dem abgetrennten Frauenbereich war mir gar nicht klar gewesen, wie voll die Moschee eigentlich war. Viele Männer, darunter auch viele junge Leute, drängen sich auf dem Vorplatz der Moschee zwischen dem Eingang und den fünf Säulen des Islams. Einige machen sich bereits auf den Weg zu ihren Autos oder gehen zu Fuss, andere bleiben und sprechen miteinander. So viele junge Menschen hatte ich selten in Kirchen angetroffen.

Ein Lernraum mit Panoramablick

Ich reisse meinen Blick von den Menschen draussen los und gehe weiter die Treppe hinauf. Dort möchte ich mir noch die anderen Räume der Moschee anschauen, lasse dann aber den obersten Stock mit Studentenwohnungen weg. Einen Stock über dem Frauenbereich befindet sich eine kleine Bibliothek mit Lernraum für Schüler und Studenten. Von dort gibt es einen wunderbaren Ausblick auf die Altstadt und das Schloss von Marburg. Damit endet auch mein Nachmittag in der Moschee voller neuer Eindrücke und ich mache mich auf den Weg nach Hause.

Jasmin Schneider, 17.05.2023