Relinfo zu Besuch bei Scientology Zürich

Als wir an der verlassenen Bushaltestelle im Industriegebiet von Volketswil ankommen, wissen wir noch nicht, dass uns eine Reise erwartet. Eine Reise in eine andere Welt – die Welt der Scientology Kirche Zürich. Das Relinfo Team wurde eingeladen, sich die neuen Räumlichkeiten der Gemeinschaft anzusehen. Im Dezember 2020 zog die Kirche um, scheinbar wurden die alten Hallen für neue Zwecke abgerissen. So streifen wir jetzt durch das riesige Industriegebiet, in dem nichts erahnen lässt, dass hier eine hochumstrittene Glaubensgemeinschaft aktiv ist.

Rentner statt Rebellen?

Scientology, einst gigantische Psycho-Sekte, hat heute mit Mitgliederschwund zu kämpfen. Grund dafür ist unter anderem, dass fast jeder die Gemeinschaft kennt. Auf YouTube findet man unzählige Dokumentationen über die Psychotricks der Gemeinschaft. Auch die Geheimdienst-ähnlichen Zustände in Clearwater (Florida) sind gut belegt. Zudem gelten die erkenntnistheoretischen und psychologischen Ideen L. Ron Hubbards längst als überholt. Der Umzug erscheint in diesem Sinn als Analogie der Entwicklung: Die ehemals jungen, dynamischen Städter der 80er und 90er Jahre sind nun mit Kleinwägen unterwegs ins Industriegebiet. Der Umgang sei gemütlicher geworden, bestätigt Stettler, als wir ihn später auf diese Entwicklung ansprechen. Während man sich früher in hitzige Diskussionen habe verstricken lassen, nehme man heute vieles gelassener.

Verstecktes Revier

Google Maps führt uns zu einem riesigen Gebäude, in dem mehrere Firmen sitzen. Erst wenige Meter vor dem Eingang entdecken wir ein Schild, das uns verrät: Wir sind auf der richtigen Route. Zwischen einer Steuerberatungsfirma und einer Organisation für Behindertensport befindet sich die Aufschrift: «Scientology. Dianetik». Wir brauchen ein wenig, um den Eingang zu finden. Glücklicherweise holt uns Jürg Stettler persönlich ab. Der Präsident der Gemeinschaft, auf dessen Einladung hin wir nun den Eingang des Zentrums betreten, ist ein freundlicher Mann. Er führt uns zu der Empfangsdame, die unsere Körpertemperatur misst und unsere Namen notiert.

Zeitreise

Als wir unsere Jacken ablegen, blicken wir uns zum ersten Mal richtig um. Das grosse Gewerbebüro, das eine Glaubensgemeinschaft beheimatet, versprüht den Charme der 90er Jahre. Dunkle Teppichböden und bunte Bücher von L. Ron Hubbard begleiten uns durch die Räume. Man entdeckt kaum Computer. Stattdessen finden sich allerlei andere interessante Geräte. So hängt sich neben einem «Materialien-Guide» – einer riesigen Stellwand mit chronologischer Auflistung von Hubbards Werken – ein unscheinbar wirkender Bildschirm. Mit ihm verknüpft sind grosse Kopfhörer.  Wir erfahren, dass man dort aus einer Mediathek Vorträge von Hubbard anhören kann. Der Touchscreen des Bildschirms erinnert an die Smartphones der ersten Generation – man muss einen leichten Druck ausüben, damit etwas passiert.

Der Alltag von Scientology Zürich

Stettler führt uns geduldig durch alle Räume der Gemeinschaft. Es herrscht reges Treiben, insgesamt sollen 100 Mitarbeitende in Volketswil tätig sein. Es scheint, als wären alle von ihnen anwesend. Uns wird zugelächelt, wenn man uns sieht. Die überschwängliche Freundlichkeit passt zu dem Bild, das man von Scientologen hat: Das Streben nach Perfektion und Selbstoptimierung, welches insbesondere viele Prominente in den Bann der Gemeinschaft gezogen hat. Andere, die gerade Kurse zu besuchen scheinen, bemerken uns erst gar nicht. Sie arbeiten allein oder in Gruppen. Vertieft in den Stoff, den Hubbard mehrheitlich vor mehr als 50 Jahren erstellte. Stettler erklärt uns, dass dies prinzipiell die Hauptaktivität einer Mitgliedschaft bei Scientology darstelle. Man besuche Kurse und bilde sich selbstständig weiter. Mittlerweile sei auch vieles online möglich. Inhaltlich gehe es um grundlegende Fragen wie Ethik, man finde aber auch neue Denkanstösse und Inspirationen für bestimmte Lebensweisen.

Selbstoptimierung der ersten Stunde

Eine der prekären Kontroversen um Scientology klammert Stettler in diesem Zusammenhang aus. Die Kurse sind nicht nur banales Freizeitprogramm: Sie ermöglichen, die «Brücke zur völligen Freiheit» zu erklimmen. Zu hohen Preisen wohlgemerkt – um die Stufe «OT-8» zu erreichen, benötigt man mehrere hundert Tausend Franken. Man könnte sagen: Hubbard bediente sich an dem menschlichen Bedürfnis nach Unantastbarkeit bereits in einer Zeit, in der Selbstoptimierungs-Coaches noch nicht modern waren. Stettler selbst habe die Stufe «OT-5» erreicht und so circa 100.000 Franken für seine Entwicklung ausgegeben.

Das ewige Warten

Wir werden von Stettler durch die langen Gänge geführt. Er redet viel und schnell, wir stellen immer mal wieder Fragen, auf die er freundlich antwortet. Später stellt sich heraus, dass er solche Führungen öfter gibt. In einem langen Gang spähen wir zu unserer rechten Seite in ein offenes Büro hinein. Neben der Tür ist das Namensschild des Inhabers angebracht: «L. Ron Hubbard». So ist es Tradition bei Scientology. In jeder Org muss es ein Büro für Hubbard geben – gedacht für den Tag, an dem er zurückkehrt. In Gold Base (Kalifornien) ist sogar eine Villa für Hubbard gebaut worden. Als wir Stettler auf die verbundene Reinkarnationslehre ansprechen, winkt er ab. Jeder könne hier glauben was er wolle, aber manche stellen es sich so vor. Es wirkt, als wolle er bewusst nicht den Eindruck vermitteln, dass alle Scientologen tatsächlich an eine physische Rückkehr Hubbards glauben. Er scheint sich der Wirkung der Vorstellungen von Scientology auf Aussenstehende sehr bewusst zu sein.

Beratung, das neue Auditing?

Dieses Bewusstsein dafür, dass manches für Aussenstehende seltsam oder zweifelhaft erscheint, wird besonders bei Stettlers Präsentation des Auditing-Raums deutlich. Er stellt diesen als Raum für «Beratungen» vor. Nur durch unser Vorwissen sehen wir auf den ersten Blick, dass in diesem Raum das für Scientology typische «Auditing» durchgeführt wird. Auf der Mitte des den Raum füllenden Tischs steht ein Gerät, das sogenannte E-Meter. Dieses soll erkennen, welche Themen Menschen vom Zustand «Clear» zurückhalten. Die Erreichung dieses Zustands ist die Grundvoraussetzung zur Erklimmung der «Brücke der vollkommenen Freiheit». Wir stellen Stettler die sich für uns aufdrängende Frage danach, wie denn nun das Auditing mittels E-Meter funktioniert. Wir erhalten eine ausweichende Antwort. Das Gerät spüre einfach, welche Themen die Menschen beschäftigen und schlage dann aus. Deshalb sei es auch so wichtig, so viele Themen wie möglich anzusprechen, um die entsprechenden Punkte zu finden. Wir dürfen das E-Meter selbst ausprobieren. Stettler bittet uns, an etwas zu denken, dass uns emotional beschäftigt. Siehe da, das E-Meter schlägt aus. Was Stettler nicht weiss: Meine Kollegin setzt gerade keinesfalls die Kraft ihrer Gedanken ein. Die beiden Metallgriffe des E-Meters werden von ihr einfach etwas fester gedrückt. So schafft sie es – vielleicht zu Stettlers Erstaunen – das E-Meter immer gleich stark ausschlagen zu lassen.

Alte Technik, neues Marketing

Neben der zweifelhaften Wirkung des E-Meters bestehen folgenreiche Kontroversen rund um das Auditing. Es geht hierbei zum einen um die pseudotherapeutische Repetition belastender Ereignisse, die so oft erzählt werden sollen, bis sie keinen Einfluss mehr auf einen haben. Diese möglicherweise das Gegenteil bewirkende Technik stellt Stettler abgemildert so dar, als dass es beim Auditing lediglich um das konstruktive Besprechen schwieriger Lebensinhalte gehe. Von sich aus versucht er, den anderen Skandal vorwegzunehmen, der das Auditing bei Scientology umgibt. Er erzählt, dass die Informationen, die bei der «Beratung» zu Tage treten, zwar aufgezeichnet würden, aber strengster Geheimhaltung unterlägen. Der Umgang mit den persönlichen Erzählungen sei vergleichbar mit der beim Beichtgeheimnis und der ärztlichen, respektive psychotherapeutischen Schweigepflicht. Er scheint bewusst die zahlreichen Vorwürfe von Austeigerinnen und Aussteigern ausklammern zu wollen, die Scientology beschuldigen, mit den sensiblen Informationen des Auditings unter Druck gesetzt worden zu sein.

Saunieren im Büro

Wir werden von Stettler in den Saunabereich der Org gebracht. Bei Scientology muss ein regelrechtes Reinigungsritual absolviert werden: Stundenlange Saunagänge sollen Rückstände von Drogen und Umweltgiften entfernen. Interessant ist, dass man sich ganz dem US-amerikanischen Sauna-Prinzip verschrieben zu haben scheint, ohne Kleidung geht es nicht. Es spannend, den Saunabereich zu begutachten. Er gleicht weniger einem Wellnessbereich und mehr einer Sportumkleide, in der jedoch ein grosses Gemälde hängt. Die Brücke zur völligen Freiheit ist hierauf bildlich dargestellt. Über ihr schweben Heissluftballons, die die Wappen der Schweizer Kantone tragen. Am Ende der Brücke sitzt Helvetia, die Identifikationsfigur der Eidgenossenschaft. Im Hintergrund leuchtet das Symbol für OT, das mit dem spirituell übergeordneten Status von Scientologen im Zusammenhang steht. Selbstverständlich haben wir nicht die Deutungshoheit über das Gemälde. Jedoch kann man sich der Botschaft des Gemäldes kaum entziehen: Das Ideal von einem «Clear Switzerland» schlägt einem geradezu entgehen. Stettler hingegen erwähnt beiläufig, das Bild habe keine besondere Bedeutung.

Gegenseitige Fragerunde

Zum Ende unseres Besuchs setzen wir uns mit Stettler und Jacqueline Ceriani in das Wartezimmer für die «Beratungsgespräche».  Es stellt sich heraus, dass nicht nur wir Fragen haben. Stettler ist sehr interessiert an der Struktur von Relinfo, an den Arbeitspensen der Mitarbeitenden und an unseren persönlichen Geschichten. Er kommt besonders dann auf die Arbeit unserer Stelle zurück, wenn wir ihn auf den Mitgliederschwund von Scientology ansprechen. Stettler gerät das einzige Mal in Rage, als er betont, dass es keinesfalls einen Schwund von Mitgliedern zu beklagen gebe. Natürlich würden die Leute älter, aber es kämen auch immer wieder neue dazu. Insgesamt gebe es in der Schweiz circa 5000 Mitglieder, die mehr oder weniger aktiv seien.

Wolf im Schafspelz?

Insgesamt verbringen wir einen netten und unterhaltsamen Nachmittag bei einer der grössten Psychosekten der Welt. Stettler ist ein zuvorkommender und sympathischer Mann, dem seine Gemeinschaft am Herzen liegt. Er betont – naturgegeben – die Vorteile von Scientology und lässt kontroverses weg. Interessant ist, wie sehr die Glaubensinhalte der Gemeinschaft in den Hintergrund gerückt werden. Es geht in unseren Gesprächen betont wenig um beispielsweise Reinkarnation, dafür umso mehr um Persönlichkeitsentwicklung. Man könnte meinen, dass der Eindruck einer Auswahl an Produkten entstehen soll, die Scientology anbietet und an denen sich jeder nach seiner Fasson bedienen kann. Dies steht im krassen Kontrast zu dem, was Austeigerinnen und Aussteiger berichten: Druck mithilfe der beim Auditing erfahrenen Geheimnisse, hohe finanzielle Investitionen und vieles mehr. Unabhängig davon, wie sich Scientology uns gegenüber präsentiert, eins ist sicher: Man kennt die Skandale der hochumstrittenen Gemeinschaft und wer Informationen benötigt, wird ganz sicher fündig.

Julia Sulzmann, 31.05.2023