Kongress im Volkshaus – Die Vision des Guten und das Manifest der neuen Erde

Als wir um kurz vor 10:00 Uhr am Volkshaus in Zürich eintreffen, scheinen wir zu den letzten zu gehören. Menschen in Batik-Blusen umringen uns, die Stimmung ist aufgeregt. Es ist ein grosser Tag für die Esoterik-Community der Deutschschweiz: Heute wird im Volkshaus derjenige Kongress abgehalten, der in den vergangenen Wochen zu einem Medienwirbel geführt hat. Der Kongress, der sich «die Vision des Guten» und «das Manifest der neuen Erde» auf die Fahne geschrieben hat, lädt kritischen Medienberichten zum Trotz zum wohligen Beisammensein ein. Dass dieser mitunter als «dubiose Veranstaltung» bezeichnet wurde, bei der «Scharlatane ein und aus gehen»[1], scheint die Anwesenden wenig zu interessieren. Gute Stimmung macht sich breit, als die Hallen des Theatersaals im Volkshaus gefüllt werden. Wenn man die Gäste des Kongresses betrachtet, die erwartungsvoll auf die Bühne sehen, kann man sich kaum vorstellen, dass sogar eine Petition gegen die Veranstaltung gestartet worden war. Diese hatte beträchtlich zum Medienwirbel beigetragen: Linke Kreise starteten «Reclaim Volkshaus – keine Bühne für Antisemit*innen»[2] und erreichten kurz vor dem Beginn der Veranstaltung 3.398 von 4.000 geforderten Stimmen[3].

Kritik an Verschwörungserzählungen

Die Gründe für die heftige Kritik an der Veranstaltung sind vielfältig. Zum Beispiel treten bei dem Kongress diverse Rednerinnen und Redner auf, die Verschwörungserzählungen verbreiten und sich mitunter nicht von rechtsradikalen Akteuren abgrenzen. Dazu gehören unter anderem Christina von Dreien, die von einer Manipulation unserer Welt durch «Reptiloide» ausgeht, oder auch Ricardo Leppe, der mit den bekanntlich verschwörungstheoretischen Büchern der «Anastasia-Reihe» sowie der «Neuen Germanischen Medizin» liebäugelt. Letzterer wurde wegen einigen seiner Äusserungen vom Volkshaus ausgeladen. Auf seinem Youtube-Kanal «Wissen schafft Freiheit» findet man nun eine Stellungnahme, in der er sich teilweise von den ihn betreffenden Vorwürfen distanziert[4].

Wer jedoch weiterhin willkommen ist, ist Daniele Ganser, eines der ganz grossen Gesichter der Szene. Wir werden später feststellen: Das hat seinen Grund.

Das Manifest der neuen Erde

Nun handelt es sich bei dem Kongress nicht um eine willkürliche Zusammenstellung esoterischer und verschwörungsaffiner Redner, sondern das Ganze hat einen Zweck. Besprochen werden soll vorrangig «Das Manifest der Neuen Erde», ein Konzept einer «besseren» Welt, in Buchform festgehalten von Catharina Roland und Corinne Tâche-Berther alias Coco Tache.

Gedacht für den Zeitpunkt nach einem möglichen Zusammenbruch der aktuellen weltpolitischen Strukturen, erklärt das «Manifest» eine aus ihrer Sicht spirituellere und ökologischere Form des Zusammenlebens. Bei der Veranstaltung im Volkshaus sind einige Akteure dabei, die im zukünftigen «Weisenrat» sitzen werden, dem exekutive Funktionen zukommen sollen. Es wird also interessant zu erfahren, welches Weltbild die Menschen haben, die zukünftig solch wichtige Ämter begleiten sollen.

Eröffnungszeremonie

Wir setzen uns an den Rand des Theatersaals, von wo aus wir eine gute Sicht auf das Publikum haben, das mehrheitlich im Altersspektrum über 50 anzusiedeln ist. Zudem zeigt sich auf den ersten Blick eine ungleiche Verteilung der Geschlechter. Der weibliche Anteil der Anwesenden dürfte circa 75 Prozent ausmachen. Schätzungsweise füllen knapp 1000 Personen den Theatersaal.

Als Coco Tache und Priska Broese zusammen mit einigen Rednern und Rednerinnen die Bühne betreten, fällt schallender Applaus. Sogar die ersten Standing Ovations lassen sich beobachten, als sich die Runde auf der Bühne verneigt. Thomas Schmelzer, der Moderator des Kongresses, ergreift das Wort. Er sehe sich selbst in der Rolle eines Reiseleiters, der durch die verschiedenen Programmpunkte führe. Es wird von einer grossen Familie gesprochen, die heute anwesend sei – das Publikum kann sich kaum halten. Die eigentliche Zeremonie leiten Priska Broese und Coco Tache. Sie berichten von einer neuen Zeit, die bereits angebrochen sei. Dies sei auch schon überfällig, denn wir alle hätten vergessen, wer wir sind. Wie viele andere Sätze an diesem Tag, wird nicht näher erläutert, was damit genau gemeint ist. Es folgt eine einführende Anekdote über einen Kondor, der wir schwer folgen können. Überliefert sei diese Geschichte von einer Maya-Ältesten, die Priska auf Telegram kontaktiert haben soll. Das erstaunt, denn typischerweise sind Kondore in der Inka-, und nicht in der Maya-Mythologie zu finden. Schliesslich kamen und kommen in Gegenden, in denen historische und heutige Maya leben, keine Kondore vor. Während wir uns gedanklich mit Fragen zu Vogelmythologie befassen, sind Priska und Coco schon bei dem Zwischenresümee ihres Vortrags angekommen: Heute soll etwas Grosses geschehen, gemeinsam mit diversen Geistführern und selbstverständlich Jesus Christus.

Eine politische Botschaft zu Beginn

Die Rednerinnen und Reder stehen aufgereiht auf der Bühne, während Coco und Priska weiter auf die Geschichte mit dem Kondor eingehen. Sie setzen ihn zu unserem Erstaunen mit einem Adler gleich – obwohl es sich bei Kondoren um Geier handelt. Einen Kondor als Adler zu bezeichnen hat allerdings den Vorteil, dass eine gute Überleitung zum Neugermanentum erfolgen kann. Der Adler war nämlich in der Mystik der Germanen für die Bewachung des Weltenbaums Yggdrasil zuständig und stehe, laut Priska und Coco, somit sowohl für «die kosmische Ordnung» als auch für Souveränität. Als hätte Coco auf ein Stichwort gewartet, platzt sie heraus: «Und wir hoffen, dass wir weiterhin neutral bleiben!». Die Menge klatscht und jubelt, alle hängen den beiden Vortragenden an den Lippen.

Männer und Frauen – Vereint in der Trennung?

Trotz der nicht zu leugnenden Begeisterung des Publikums verzichten Priska und Coco nicht darauf, das Geschehen interaktiv zu gestalten. So werden zunächst die Männer gebeten, sich zu erheben und einen Ton von sich zu geben, worauf hin ein tiefes «Ohh» durch den Saal wandert. Wenig verwunderlich sollen im Anschluss die Damen aufstehen, die analog ein – etwas höheres – «Ohh» von sich geben. Passend zu der der geschlechtertreuen Aufteilung des interaktiven Moments, meldet sich die Künstlerin Aurelia Wasser zu Wort, die sich auch auf der Bühne befindet. Eigentlich stellt sie ihre Skulpturen aus Kristallglas vor, deren ungefähr 20 Zentimeter grosse Fotografien man im Volkshaus zu einem Preis von circa 250 Franken erwerben kann. Sie erklärt, dass Männer und Frauen an ihren ursprünglichen «Platz» zurückkehren sollen; dahin, wo sie hingehören. So könnte männliche und weibliche Energie verschmelzen. Priska schliesst sich wenig später dem Thema an und verlautbart: Uns sei nicht mehr klar, was Mann-Sein und Frau-Sein bedeute. Man hätte deswegen Mühe, herauszufinden, wie weit man beim anderen Geschlecht gehen könne. Sie lädt die Anwesenden dazu ein, sich beim Kongress nicht zu zieren – es seien schon an anderen Events, bei denen sie teilnahm, romantische Beziehungen entstanden. Das würde dann auch ganz im Sinn der Maya-Ältesten sein, die eine zeitnahe Verschmelzung von männlicher und weiblicher Energie vorhergesehen habe. Es ist spannend: Während offensichtlich der Wunsch nach etwas Gemeinsamem, gar einer Verschmelzung herrscht, wird im gleichen Atemzug von einer Rückkehr an ursprüngliche Plätze gesprochen – einer klaren Trennung von männlich und weiblich. Wir fragen uns, ob die Anwesenden nicht schon viel näher an der von ihnen erhofften Vereinigung wären, wenn sie weniger auf Unterschiede zwischen den Geschlechtern pochen würden.

Christina von Dreien  

Nachdem Priska und Coco fast eineinhalb Stunden leidenschaftlich vorgetragen haben, steht nach einer kurzen Pause der Auftritt von Christina von Dreien an. Nicola Good soll während der ersten paar Minuten ihres Auftritts anwesend sein, danach werde Christina alleine Fragen beantworten. Es wirkt wie ein elterlicher Begleitprozess beim Zahnarzt, als das genaue Vorgehen erklärt wird. Mit dabei ist wieder der «Reiseführer» Thomas Schmelzer, der die beiden interviewt. Nicola erzählt die in weiten Zügen bekannte Geschichte des Kennenlernens zwischen ihr und Christina. Nachdem sie eine mit Fügung und Manifestation gespickte Version davon berichtet hatte, wie sie Christinas Buch als Hörbuch einsprach und sie sich so kennenlernten, verabschiedet sie sich.

Elitarismus im Schafspelz

Als Christina mit Schmelzer zurückbleibt, wird ihre kindliche Ausstrahlung noch deutlicher als sonst. Sie sitzt auf einem Sessel, von dem aus ihre Füsse nicht bis zum Boden reichen. Wenn wir sie nicht kennen würden, würden wir einen Teenager vor uns vermuten und keine 22-jährige Frau. Wer jedoch meint, dass ihre leise, hohe Stimme und ihre zurückhaltende, infantile Art dem Inhalt ihrer Aussagen gleichkommen, täuscht sich gewaltig. Christina trennt Menschen im Interview durchgängig in diejenigen, die noch nicht «weit» oder «offen» genug sind, um Zusammenhänge zu verstehen, die sie bereits durchblickt habe, von den «erwachten». So postuliert sie, dass manche Menschen mit höheren Schwingungen, die zum Aufstieg unserer Erde in die fünfte Dimension nötig seien, nicht umgehen könnten. Sie sagt: «Es gibt Menschen, die wachen auf und andere, die werden immer aufgewickelt». Dieses Narrativ setzt sich fort, als Schmelzer schildert, die Pandemie sei für einige Menschen als ein «Aufwachen» erlebt worden. Er fragt Christina, ob die Menschen somit in ihrem Bewusstsein weitergekommen seien. Als Christina mit «Nicht alle Menschen.» antwortet, lacht der ganze Saal. Man kann sich der aus den Auftritten resultierenden Stimmung nicht entziehen, bei der die spirituell erwachten den politisch verklärten gegenübergestellt werden.

Weltpolitik auf esoterisch

Es bleibt jedoch keinesfalls bei diffusen Andeutungen und Stimmungsbildern. Christina erklärt wörtlich, dass die Menschheit von manipulativen Wesen versklavt sei. Wir haben uns bereits daran gewöhnt, dass bei solchen Aussagen kein Raunen durch den Saal geht – für die Anwesenden ist es längst zur Normalität geworden, sich derart in ihrer Freiheit beraubt zu fühlen, dass eine «Versklavung» durch höhere Mächte wenig abwegig erscheint.

Schmelzer knüpft im Anschluss an das Gefühl des betrogen seins an: Man wisse ja, dass sich die Zirbeldrüse durch die Einnahme von Fluorid, welches unter anderem in fast jeder Zahnpasta enthalten ist, verkleinere. Er fragt sich, ob es sich bei solchen Dingen um Zufall oder einen bösen Plan handle. Dieses, für Verschwörungsfans typische Vorgehen, «nur Fragen zu stellen», werden wir später noch speziell bei Daniele Ganser beobachten können, der sich das Einverleiben dieser Technik zur Aufgabe gemacht hat.

Im Gespräch zwischen Christina von Dreien und Thomas Schmelzer wird häufig zwischen harmlosem und problematischem gewechselt, mal widmet man sich Tierwohl, ein Ander mal dem Ukraine-Krieg. Um gegen letzteren anzugehen, müssten alle Menschen ihre Liebe senden. Wenn dies nicht funktioniere, müsse man sich fragen, ob gewisse am Krieg beteiligte Mächte gar keinen Frieden wollen.

Gegenmobilisierung der unauffälligen Art

Wir verlassen den Auftritt Christinas wenige Minuten früher, um darauf vorbereitet zu sein, was uns vor der Tür erwartet. Die Antifa kündigte nämlich eine Gegenmobilisierung an – als Antwort auf die trotz Protesten stattfindende Veranstaltung im Volkshaus. Auf Instagram kann man lesen, dass alles mitgebracht werden soll, was Lärm macht. Auch 20 Minuten berichten über die geplante Gegendemo. Als wir also um 13:00 Uhr den Saal verlassen, rechnen wir mit einer Horde von Demonstrierenden. Wir verlassen das Gebäude und entdecken ein grosses Nichts. Die Einsatzfahrzeuge der Polizei, die bereits am Morgen vor dem Volkshaus standen, sind immer noch da – aber keine Demonstrierenden weit und breit. Später werden wir erfahren, dass gegen 12 Uhr, als sich alle Teilnehmenden des Kongresses wohlig im Innern des Volkshauses befanden, circa 50 Demonstrierende anwesend waren.

Ein Lied für Ricardo Leppe

Nach der Mittagspause hält Mathias Forster einen Vortrag, der sich der Bedeutung von Pfingsten widmen soll. Zuvor erscheint jedoch Ute Ulrich, die vor jedem Vortrag des Kongresses ein Lied singt. Während es beim letzten Auftritt um Vertrauen ging, singt sie sich nun in die Offensive: Das Lied handelt von zu hohem Leistungsdruck in Schulen, davon, dass man sich mehr auf seine Intuition verlassen sollte und von einer Abkehr vom «Notenzwang». Im Refrain resümiert sie:

«Ein neues Schulsystem, ein neues Schulsystem, wirf doch das alte Denken über Bord.»

Die Menschen im Saal beginnen zu tanzen und als Ute Ulrich erklärt, dass das Lied dem ausgeladenen Ricardo Leppe gewidmet ist, sind Jubelrufe zu hören.

Umweltmetaphern und Spaltung

Die von Ute Ulrich in Hochstimmung katapultierte Menge hört nun aufmerksam Mathias Forster zu, dem Geschäftsführer der Bio-Stiftung Schweiz. Entgegen unserer Erwartung erzählt er nicht von biologischer Landwirtschaft der «neuen Erde», sondern lässt sich von Pfingsten inspirieren. Er referiert über den schöpferischen Urbeginn, der seiner Ansicht nach nichts mit dem Urknall zu tun habe. Schnell befindet er sich jedoch thematisch in der Gegenwart. Der rote Faden des Vortrags befindet sich weniger im Pfingstthema, sondern mehr in der Auseinandersetzung mit dem Dualismus zwischen Gut und Böse.

Das Böse sei letztendlich nur ein Widerstand, an dem man sich reiben könne, sodass gutes entsteht. Es ist klar, dass wir wieder beim Thema Corona angekommen sind. So sagt er, dass man heutzutage Andersdenkende gerne auf einen Scheiterhaufen werfen würde. Und obwohl es gut sei, dass dies nicht möglich ist, gebe es auch andere Methoden, Menschen an den Pranger zu stellen. Es sei klar, dass das «Neue» nicht das «Alte» bekämpfe, sondern andersrum das «Alte» das «Neue». So kryptisch diese Aussagen auch scheinen mögen, sie verfehlen ihre Wirkung nicht. Die Menschen im Saal sind gebannt und saugen die Worte Forsters auf. Dazu trägt auch seine anschauliche Erzählweise bei. Er bedient sich an Natur-Metaphern wie der des Schmetterlings, der aus seinem Kokon ausbricht. In diesem Zusammenhang erklärt er, dass man niemandem dabei helfen könne, «aufzuwachen». Denn der Prozess sei vergleichbar mit dem eines Schmetterlings: Wenn man diesen während seiner Entwicklungszeit aus dem Kokon befreie, würde er sterben. Er entwickle erst beim Befreiungsprozess die Kraft, anschliessend als Schmetterling zu leben. Es entsteht wieder einmal an diesem Tag der Eindruck, dass die Anwesenden von sich als missverstandene Erwachte denken, die alle anderen in ihrer Naivität oder gar rückschrittlichen Entwicklung bedauern.

Zudem wird das Selbstbild des Publikums als kämpferische Andersdenkende bestärkt, als Forster von einer «Monokultur des Denkens» spricht. Wegen dieser sende die Natur von sich aus «Schädlinge», die bekämpft würden – und zwar mit Gift.

Eiche rustikal

Da Nicola Good bis jetzt nur einen kurzen Auftritt hatte, wird sie nun einzeln von Thomas Schmelzer interviewt. Dieser fragt sie zu Beginn, was man sich denn unter der «Vision des Guten» vorstellen könne. Ausweichend antwortet Good, dass man sich dazu erst mal fragen müsse, was «gut» bedeute. Es gebe schliesslich Menschen, die unter «gut» den «Great Reset», eine Abtreibung bis zum neunten Schwangerschaftsmonat oder die Verwandlung des Menschen in Maschinen verstünden. Einschränkend fügt sie hinzu, dass trotzdem alle Menschen den göttlichen Funken in sich trügen. Man unterscheide sich einfach dahingehend, wie sehr der Funke nach aussen durchscheinen kann. Um ihren Punkt deutlicher zu machen, beschreibt sie den Funken als Glühbirne und die Hüllen der Menschen als Lampenschirme. Während einige einen zarten Schirm hätten, der viel Licht durchlasse, bestehe der Schirm bei anderen aus «Eiche rustikal». Die Menge jubelt.

Der Mann des Tages

Unter tosendem Applaus betritt der letzte Redner des Tages die Bühne. Daniele Ganser, einer der bekanntesten Protagonisten der verschwörungsideologischen Szene im deutschsprachigen Raum, wurde von der Menge gebannt erwartet. Der gutsitzende Anzug, den er modern mit weissen Sneakern kombiniert, verleiht ihm einen professionellen Glanz, den andere Rednerinnen und Redner vermissen. Dennoch wird sich der Eindruck erhärten, dass sich Gansers Weltbild kaum von dem der Gäste sowie dem der anderen Rednerinnen und Redner abgrenzt. Wir dürfen jedoch in der nächsten Stunde sein Alleinstellungsmerkmal beobachten: Das Talent, die von ihm kritisierten Techniken von Meinungsmache und Manipulation selbst anzuwenden.

Aus alt mach neu: Die anderen und wir

Daniele Ganser knüpft inhaltlich er dort an, wo seine Vorgängerinnen und Vorgänger aufgehört haben – nämlich bei der Unterscheidung in «Wir» und «die Anderen». Allerdings dreht er, unterstützt von einer professionellen Powerpoint-Präsentation, den Spiess um und verzichtet vordergründig auf eine Hetze gegen andere. Stattdessen diskutiert er die sogenannte «In & Out Theorie». Damit meint Ganser das Prinzip der Eigen- und Fremdgruppe und der dazugehörigen Sympathien bzw. Antipathien, welche angeblich Mord, Totschlag, Krieg, Hexenverfolgung und zu guter Letzt die Diffamierung Ungeimpfter während der Pandemie erklären. Die Unterscheidung in ein «Wir» und in eine andere Gruppe, meist mit Negativem assoziiert, führe zwangsläufig zu Konflikten. Ganser schreckt bei seiner Darstellung nicht vor harten Themen zurück. Der Holocaust, die Anschläge des 11. September oder die Corona-Pandemie, immer gehe es um eine Unterscheidung in Eigen- und Fremdgruppe. Neben dieser offenkundigen vereinfachten Anwendung eines sozialpsychologischen Konstrukts, geht Ganser mit seiner nächsten Behauptung noch einen Schritt weiter: Wer «Inside» und wer «Outside» sei, werde massgeblich von Medien bestimmt. Ganser porträtiert «die Medien» hier nicht als Beeinflusserinnen von Meinungsprozessen, sondern wirft ihnen vielmehr vor, kalkuliert und böswillig bestimmte Gruppen herabzusetzen und so einen Meinungsbildungsprozess der Bevölkerung gänzlich zu manipulieren.

Fehler in Medien – ihr wahres Gesicht?

Um den Eindruck einer manipulativen Presse entstehen zu lassen, zählt Ganser Beispiele für Verfehlungen und Lügen von bekannten Zeitungen, aber auch von Regierungen auf. Relativ zu Beginn seines Vortrags berichtet Ganser von einem im Spiegel publizierten Text namens «Die letzte Zeugin» aus dem Jahr 2018. Der Autor, Claas Relotius, erzählt von einem Besuch in den USA, bei dem er eine Zeugin zu dem Fall eines Serienmörders interviewt. Ganser pickt sich einen Auszug aus dem Text heraus und zeigt sich entrüstet über die dort vorhandenen Formulierungen. So leitet er aus dem Teilsatz « […] der Mann mit teigigem Gesicht […]» einen Ausschluss des beschriebenen Mannes aus der «Menschheitsfamilie» ab. Weshalb sonst, würde man solche Formulierungen wählen, um jemanden zu beschreiben? Gansers Vorgehen erstaunt uns. Er wählt vollkommen normale Stilmittel aus und verleiht ihnen einen taktischen Charakter.  Es stellt sich die Frage, was die Zuhörerschaft in Zukunft denken wird, wenn sie Reportagen liest. Werden wertende Adjektive ausreichen, um journalistische Texte als unseriös und manipulativ zu verstehen?

Im nächsten Schritt erzählt Ganser von dem zweiten, weitaus grösseren Problem des Spiegel-Artikels. Der Autor des Textes, Claas Relotius, wurde dafür bekannt, sich eine Vielzahl an Reportagen vollständig ausgedacht zu haben, so auch den Text «Die letzte Zeugin»[5]. Der kontrovers diskutierte Fall löste selbstverständlich Fragen nach systematischen Problemen grosser Medienhäuser aus. Das unbestritten groteske Vorgehen des Journalists Claas Relotius mündete in einer Debatte über die Glaubwürdigkeit anerkannter Zeitschriften und führte zu internen, sowie externen Untersuchungen. Der Spiegel führte als Reaktion ein Gremium ein, bei dem Hinweise auf ähnliche Vorgehensweisen anonym untersucht werden können. Das lässt Ganser in seiner Schilderung jedoch aus. Er weist lediglich abermals darauf hin, dass man getäuscht werde und manchmal der Schwindel eben auffliege.

Gegnerisches Repertoire

Ganser präsentiert selektiv Fehler von Medienschaffenden und erreicht so, ein Narrativ entstehen zu lassen, welches Medien plump formuliert als «Lügenpresse» dastehen lässt. Er verzichtet allerdings auf derartige Formulierungen und macht stattdessen auf universale Wirkprinzipien aufmerksam, an denen sich Medien bedienen würden, um uns zu beeinflussen. Ein bekanntes Prinzip beschreibt er als «Neuro-Prinzip» des Lernens. Ich frage mich, welches Lernprinzip denn nichts mit Nervenzellen zu tun hat, aber bevor ich den Gedankengang vertiefen kann, erläutert Ganser schon, was er damit meint. Es gehe um die Entstehung neuronaler «Autobahnen» im Gehirn, wenn Inhalte sich für uns wiederholen. Dass Wiederholung zu Lernen und stärkeren assoziativen Verknüpfungen im Gehirn beiträgt, kann man also auch so formulieren. Spannend ist, was Ganser aus dieser Erkenntnis macht. Er behauptet, dass Medien gezielt so oft Aussagen wiederholen, bis man sich gar nicht mehr dagegen wehren könne, sie zu glauben. Wir müssen schmunzeln. Ganser blendet nämlich fast gebetsmühlenartig nach jedem von ihm präsentierten Beispiel eine Folie ein, auf der steht: «Die Leserinnen und Leser wurden getäuscht.». Er scheint wohl kein Problem damit zu haben, das rhetorische Repertoire der feindbildlich dargestellten Medien für seine eigenen Zwecke zu nutzen.

Tipps und Tricks

Für diejenigen, die sich nun fragen, wie man der permanenten Manipulation entgegentreten kann, hat Daniele Ganser einige Tipps parat. Zunächst mal solle man nicht jeden Tag Nachrichten konsumieren. Offline sei das neue Bio, sagt Ganser und der Saal bebt vor Begeisterung. Er führt aus, dass es nicht von Nöten sei, sich über alle Themen en Detail zu informieren. In der Podiumsdiskussion wird er sagen, man solle mithilfe von Achtsamkeitstechniken versuchen, die für sich wirklich wichtigen Themen zu erspüren. Er wende diese auch an, damit er sich von dem Übel der Welt distanzieren könne. Um sich vor der Täuschung durch Medien zu schützen, müsse man jedoch auch üben, eine Täuschung überhaupt erst zu erkennen. Auf uns wirkt das als Widerspruch: Wenn ich doch Nachrichten meide, wie soll ich dann deren Inhalte so gut verstehen, dass ich Falsches von Wahrem trennen kann? Darauf hat Ganser eine Antwort: Man solle in sich rein hören und sich fragen, ob sich das Gesagte für einen plausibel oder als Lüge anfühlt. Ihm muss klar sein, dass er damit bei dem esoterischen Publikum ins Schwarze trifft, denn Intuition hat in der spirituellen Bewegung einen hohen, wenn nicht sogar den höchsten Stellenwert. Dass Ganser kein Freund des täglichen Zeitungslesens ist, wird von seiner Kritik an der Negativität in Berichterstattungen unterstrichen, die mitunter dazu führe, dass «man gar nicht mehr auf dieser Welt leben möchte». Offen bleibt bei dieser Aussage, ob das, was im ersten Moment als suizidale Tendenz interpretiert werden kann, am Ende vielleicht «nur» die Brücke zum Manifest der neuen Erde ist.

Ganser verlässt unter ausnahmslosen Standing Ovations die Bühne. Uns geht nach seinem Auftritt eine Phrase nicht aus dem Kopf: «Jenen, die sagen, man solle nicht alles glauben, glauben sie alles.»

Ein Kongress der Erwachten

Den krönenden Abschluss des Tages soll eine Podiumsdiskussion bilden, zu deren Zweck sich nun Patrick Pedrazzoli, Dieter Boers, Mathias Forster, Robin Kaiser, Nicola Good, Anke Evertz und Daniele Ganser auf der Bühne versammeln. Mit dabei ist homas Schmelzer, der die Diskussion moderiert. Es stellt sich allerdings schnell heraus, dass vergleichsweise wenig diskutiert und dafür umso mehr referiert wird. Daniele Ganser vertieft sich noch einmal in seine Achtsamkeitspraxis und verrät, dass er in Wahrheit auch eine «Spirit Soul» sei. Dieter Boers spricht von elektromagnetischen Feldern und dem «Energiespektrum des neuronalen Verbunds». Robin Kaiser erklärt, dass es noch einen weiten Weg bis zu Erleuchtung gebe und Nicola Good betont, dass es wichtig sei «das Unmögliche zu denken». Insgesamt entsteht weniger der Eindruck, dass man hier eine neue Art des Zusammenlebens bespricht. Vielmehr scheint sich jeder einzelne Protagonist darauf zu beschränken, sein spezielles Interesse dem Publikum näher zu bringen. Insofern wird beim letzten Programmpunkt des Tages deutlich, was sich zuvor abgezeichnet hatte: Als gemeinsamer Nenner findet sich nur, dass man auf die noch nicht «Erwachten» hinabblickt und sich ihnen entgegenstellt.

Julia Sulzmann, 9. Juni 2023

Anmerkungen

[1] Beck, R. (2023). Dubiose Veranstaltung: Wo die Scharlatane ein und aus gehen. WOZ. Verfügbar unter: https://www.woz.ch/2313/dubiose-veranstaltung/wo-die-scharlatane-ein-und-aus-gehen/!BPJMGSE9G8FG

[2] https://act.campax.org/petitions/reclaimvolkshaus-keine-buhne-fur-antisemit-innen-kein-geschaft-mit-braunen-esoteriker-innen

[3] Beispielsweise: Mark, Y. & Krähenbühl, D. (2023). Heftige Kritik an «Esoterik- und Verschwörungstheorienkongress im Volkshaus». 20 Minuten. Verfügbar unter: https://www.20min.ch/story/keine-buehne-fuer-antisemiten-kein-geschaeft-mit-braunen-esoterikern-939461014618

[4] Leppe, R. Hetzjagd in den Medien – Vorwürfe über Rassismus, Antisemitismus und mehr – klare Antworten! Verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=PAIgvd_Wsoo

[5] Der Fall Relotius. Verfügbar unter: https://www.spiegel.de/thema/der_fall_claas_relotius/

Lexikoneinträge

Christina von Dreien

Daniele Ganser

Manifest der neuen Erde

Nicola Good

Thomas Schmelzer