Ex-EBG-Mitglied besucht konservative Endzeit-Gemeinde Mitternachtsruf

Das Thema des Gottesdienstes war angekündigt als «Der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse – Teil 1». Ich las also erst mal Genesis 3, und fragte mich, wie stark es heute heissen würde «Eva ass vom Baum», im Rahmen eines sexistischen «die Frau ist an allem schuld».

Als ich in Dübendorf an der Tramhaltestelle ausstieg und – nach kurzem Überprüfen auf Google Maps – in Richtung Mitternachtsruf lief, erhielt ich schnell den Eindruck, dass die Gemeinde irgendwie doch grösser war als ursprünglich angenommen. Es waren nicht mehr viele Personen auf der Strasse, doch jemand stand mit Leuchtrohr dort, um den Autos den Weg zu zeigen. Beim Herumschauen merkte ich, dass das Gebiet «Mitternachtsruf» auch nicht einfach eine Halle umfasst, sondern dass die offizielle Adresse Ringwiesenstrasse 12A eher das Büro beinhaltet, während es daneben ein Seniorenzentrum – mit Büchertisch – und ein Gebäude für Gottesdienste gab. Das Gottesdienstgebäude, auf welchem «Evangelische Gemeinde Mitternachtsruf» stand, heisst offiziell «Zionshalle». Nur schon die Tatsache, dass die Halle wirklich Zionshalle heisst, reicht, um zu wissen, dass diese Gemeinde sehr israelfokussiert ist. Das ergibt auch Sinn, berufen sich Endzeitler häufig auf die Gründung des Staates Israel als einen der entscheidendsten Wendepunkte in der «sind wir in der Endzeit und wie bald kommt Jesus»-Frage. Und der Mitternachtsruf ist besonders bekannt für seinen Fokus auf der Endzeit. Auf der Treppe zur Halle waren einige junge Erwachsene, vermutlich etwa in meinem Alter und älter (zwischen 20 und 30). Vor der Tür standen zwei Männer, die alle begrüssten. Einem sagte fast niemand hallo – er stand eben nicht so «im Weg» wie der andere – und er tat mir etwas leid, weil er einfach dem anderen beim Händeschütteln zuschauen musste, und so erbarmte ich mich und ging zu ihm, um ihm auch die Hand zu schütteln. Dem anderen musste ich sie dann auch schütteln, weil er eben «im Weg» stand, und einfach vorbeizulaufen wäre zu gemein. Erste Hürde geschafft. Ich betrat die Halle und war erst mal erschlagen von der Menge der Personen. Die ersten zehn Reihen waren gefüllt – mit was, 15 oder mehr Personen pro Reihe? Die restlichen Reihen waren ebenfalls gesund gefüllt, nach hinten liess es nach. Ich zählte nicht und suchte mir einen friedlichen Platz etwas weiter hinten, wo die jungen Erwachsenen eher hingingen, aber 200 Personen waren es bestimmt. Und das an einem schönen Sonntag, mitten in den Sommerferien. Vorne spielte eine Musikgruppe. Christlicher Gesang, eine Querflöte, zwei Geigen, und ein Klavier. Diese würden uns auch während dem Gottesdienst jeweils begleiten. Das war angenehm, denn während dem Gottesdienst gab es zwar keine Noten zum Gesang, aber die Sängerin war genügend laut – mit dem Mikrofon – und sicher in der Melodie, sodass es keine Verwirrung gab.

Eine Einleitung – erquickend oder ermüdend?

Der Gottesdienst wurde eingeleitet mit einer Begrüssung und Freude darüber, dass es trotz Urlaubszeit doch noch einige geschafft hätten, aufzutauchen. Als einleitendes Thema verwendete der Moderator Oppenheimer, der Film über einen Chemiker, der an der Entwicklung der Atombombe beteiligt war. Diesen Film und die damit zusammenhängende Geschichte verwendete er zur Beschreibung der Menschen, die immer weiter von Gott abfielen. «Und wo diese Gottlosigkeit ihren Ursprung hat, das hören wir heute von Thomas Lieth», sagte der Moderator. Nur schon, wie er das Wort «Gottlosigkeit» sagte. Es war betont, intensiv, fast schon hasserfüllt. Bevor wir aber noch mehr über diese gottlosen Menschen hören mussten – oder durften – wurde gebetet. Der Moderator übergab die Verantwortung des Gottesdiensts im Gebet an Gott, indem er betete «Ich befehle dir diesen Gottesdienst an». Der Wortgebrauch ist mir durchaus von der Evangelischen Bibelgemeinde EBG, meiner alten, konservativen Freikirche, bekannt, aber doch sehr antiquiert. Auch das Wort «erquicken» verwendete er, als hätte er es neu für sich entdeckt. Heisst: Konstant. Ich fühlte mich weniger erquickt und mehr ermüdet, nur schon nach dieser Einleitung. Glücklicherweise sangen wir aber erst ein Lied, bevor es weiterging. Das Lied war angenehm zu singen, vom Stil her Kirchenlied, vom Text her fast mehr Fokus auf Jesus als in Landeskirchen üblich. Die «Band» spielte dazu. Dann gab es noch mehr einleitende Worte, in denen allen möglichen anderen Predigern gedacht wurde, ein Bericht über ein gut vollendetes Sommerlager, an dem gar nichts zu bemängeln gewesen sei, was am Gebet der Gemeinde gelegen hätte, und einige Termine. Darunter: «Arabischer Treff», ein Treffen für arabisch sprechende Christen, mit dem Thema: «Wie spreche ich mit meinen muslimischen Freunden über das Evangelium?». Dann erneut ein Lied («was verlangt der Herr», aber die einzige Antwort im Lied war «ich will ihm alles geben»), und dann noch mehr Mitteilungen. Eine Einladung zu einer Hochzeit für die ganze Gemeinde, was ich schonmal fragwürdig fand – wer lädt über 200 Personen der Gemeinde an die Hochzeit ein? Kommt das nicht viel zu teuer? Oder wird das anderweitig kompensiert? – und ein Frauen- und Generationenabend namens «Ich und die Welt», was für konservativ-stämmige Personen wie mich dann doch sehr aussagekräftig ist. «Die Welt», das ist nicht einfach alles hier, sondern das ist die sündhafte, gottlose Welt, in der die Christen so viel Personen wie möglich missionieren müssen. Anhand des Fokus auf die Gottlosigkeit bereits in der Einleitung dürfte diese Ansicht der Welt dann doch auf den Mitternachtsruf zutreffen. Ein Musical, «De Schatz im Acker», würde auch stattfinden, und man solle doch seine Bekannten einladen. Es müsse live gesehen werden, um die missionarische Botschaft weiterzubringen. Ja, ich hoffe, ich werde nicht eingeladen, wir hatten noch nicht einmal Beginn der Predigt erreicht und ich war schon da müde vom Mitternachtsruf. Ein ganzes Musical? Nett gemeint, aber nein danke. Nach Ansage, wofür die Kollekte sei – die Mission in Bolivien – kam kurz nach dem Lied «Herr, sei mir nah» auch endlich die Predigt näher.

Der Moderator nannte den heutigen Predigttext (Genesis 2, Vers 4-17), und kommentierte, dass wir nun hören würden, welche «Botschaft Gottes» dem Prediger «auf das Herz gelegt wurde». Es wurde gebetet, wir sollten erquickt werden, und alles Störende sollte weggenommen werden. Dieses Gebet funktionierte im Gegensatz zum Sommercamp-Gebet leider nicht, denn jemand schüttelte (unabsichtlich) die ganze Zeit meine Stuhlreihe, wohl indem er auf den Boden «stampfte» (das besonders bei Personen mit ADHS verbreitete Beinzappeln, das niemand kontrollieren kann) und hörte erst nach meinem mehrfachen subtilen Umdrehen damit auf, um später wieder anzufangen. Und: einmal ging irgendwo ein Handy los. Das wäre ja nicht schlimm gewesen, und ich dachte mir tatsächlich, ja, das kommt davon, wenn man sich zu viel aufs eigene Gebet einbildet. Der Prediger trat also zum Rednerpult und begann, über Adam und Eva und den Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen zu sprechen. Mein erster Eindruck seiner Stimme? Eine absolute Hörbuchstimme. Ich hätte schwören können (wenn ich denn schwören würde), ihn bereits einmal in einem dieser christlichen Hörbücher meiner Freunde in der EBG gehört zu haben.

Eine zerrissene Gesellschaft

Thomas Lieth sprach über ein Prinzip des Gehorsams, denn es könne keine grenzenlose Freiheit geben, die friedlich sei, darum brauche es Regeln und Rücksichtnahme. «Wenn jeder seine Rechte einfordert […], wird die Gesellschaft zerrissen.» Wer wohl seine Rechte nicht haben darf? Der christliche Prediger da vorn? Der stereotypisch heterosexuelle, alte, weisse cis Mann, der Thomas Lieth zu sein scheint? Oder darf er die Rechte haben und dafür alle anderen nicht, weil sonst wird die Gesellschaft zerrissen? Darf er wählen, wer die Rechte hat? Anscheinend schon, denn was alles falsch sei, davon sprach er später. Einleitend aber erzählte Lieth, dass Regeln Konsequenzen brauchen, ansonsten sei der Gesetzgeber unglaubwürdig und überflüssig. Interessant war auch, wie häufig die Gemeinde über seine Aussagen und Witze lachte. Nicht sehr nett formuliert verstehe ich es in dieser inhaltlich trostlosen Kirche, dass man wenigstens ein wenig lachen möchte. Die Predigt war nämlich voll von einem Menschenbild, in dem der Mensch nichts, aber auch gar nichts Gutes tun kann. Der Mensch, der könne nur Gutes meinen, aber nicht Gutes tun, und er könne nicht Böses lassen, so sagte es Thomas Lieth. Da ich am selben Tag auf meinem Weg bereits einer nicht sehr IT-affinen Frau mit den Zugverbindungen, und auch schon im Rahmen meines Lebens anderen Personen effektiv geholfen hatte, fragte ich mich, wer denn entscheidet, was gut ist und was nicht. Wird die Frau jetzt verdammt, nur weil sie diesen Zug genommen hat? Wobei, da ich ja angeblich nicht imstande bin, Gutes zu tun, hätte ich ihr wohl anscheinend genau gleich viel Gutes getan, indem ich sie einfach ignoriert hätte. Schliesslich kann ich, als Mensch, das Böse ja anscheinend nicht lassen.

Der böse Sündenfall

Lieth erzählte, wie alles Sündige vor dem Sündenfall «unbekannt» war. Und wie er erzählte: Melodisch wunderbar. Es ging in etwa so: «Neid? UNBEKANNT, Völlerei? UNBEKANNT». Wie aus dem Hörbuch. Ich konnte es aber doch irgendwie nicht ganz ernst nehmen. Es grenzte zu stark ans Theatralische. Kurz nachdem er angefangen hatte, dieses perfekte Paradies, von dem weder Adam noch Eva wussten, dass es sich um ein perfektes Paradies handelte – wie auch? Sie kannten nichts anderes -, zu beschreiben, ersehnte ich mich nach der Erlösung von dieser Qual. Es würde aber noch genügend Zeit brauchen. Ich machte mir noch einige Gedanken zum Anfang von Genesis selbst. Es ist durchaus anzumerken, dass die Art, in welcher über Gott gesprochen wird, stark polytheistisch geprägt ist. Erstens mal gibt es die zwei widersprüchlichen Schöpfungsmythen aus Genesis 1 und Genesis 2, dann kommt Gott und spaziert im Garten, um nackte Eva und nackten Adam versteckt vorzufinden. Und dann sagt er, der Mensch sei wie «wir» geworden. Wer denn? Wohl nicht den dreieinigen Gott, der nur noch über «mich» spricht? Die häufigste Ausrede ist das literarische «Wir» als Zeichen von «grosser Macht», und dass Gott herumspaziert, ist eben, weil damals noch Gemeinschaft mit Gott möglich war. Heute ist es unvorstellbar, aber an allem ist der Sündenfall schuld. Woran auch sonst. Meistens ist auch noch Eva mehr schuld als Adam, auch wenn der genauso gut nein hätte sagen können. Über das regte ich mich aber nicht das erste Mal beim Mitternachtsruf auf, also lassen wir dieses Thema besser.

«Künstliche Intelligenz» – ein Schlagwort für Menschen, die nicht wissen, was es ist

Der Prediger fuhr fort und erklärte, wie Gott eben Menschen mit freiem Willen wollte, denn schliesslich wolle er keinen Roboter, der einfach «gehorsam» Befehle ausführte. Und so sagte Thomas Lieth: «Gott hat eben keine künstliche Intelligenz, sondern eine lebendige Intelligenz geschaffen!» Dies unterhielt die Gemeinde bestens, stiess aber auf einen ungünstigen Punkt bei mir. Ich studiere Computerlinguistik, und künstliche Intelligenz, wie sie funktioniert, wie wir damit arbeiten, was Risikofaktoren und ethische Aspekte sind, und noch einige weitere Punkte sind essenzielle Bestandteile meines Studiums. Meinen Bekannten zuzuhören, was sie denken, was künstliche Intelligenz beinhalte, ist mal unterhaltsam, mal anstrengend, besonders, wenn sie so tun, als wüssten sie es. Und dann steht der Hörbuchprediger da und erzählt von künstlicher Intelligenz, als wäre es einfach eine Liste von Regeln. Eine Liste von klar definierten Regeln an einen PC geben, ein sogenanntes «Skript» schreiben, beispielsweise mittels einer Programmiersprache wie – in unserem Fall – Python, um beispielsweise einen Text zu verarbeiten, das ist einfach. Gemütlich. Sobald man die Logik und die Programmiersprache drin hat, geht das innerhalb von kürzester Zeit. Aber Künstliche Intelligenz? Das ist komplizierter.

Ein kurzer Exkurs

Ich versuche es hier, möglichst nachvollziehbar darzustellen, möchte aber darauf aufmerksam machen, dass eine solche Erklärung nie ganz vollständig ist. In erster Linie verwenden wir maschinelles Lernen, wobei wir ein Modell trainieren (= das Lernen), welches später verwendet wird. Dabei handelt es immer sich um einen primär mathematischen Prozess, und bei der Computerlinguistik selbst liegt der Fokus auf der Sprachverarbeitung. Wörter werden dabei in Vektoren, also eine Reihe von Zahlen, umgewandelt, wobei diese Vektoren den Kontext, in welchem die Wörter auftauchen, thematisieren. Wörter, die häufig im selben Kontext auftauchen, haben ähnlichere Vektoren – was man ja auch ausrechnen kann – als Wörter, die nie im selben Kontext auftreten. Diese Vektoren verwendet man dann als «Input» in einer (durchaus sehr, sehr langen) mathematischen Funktion, um beim «Output», also dem finalen Ausrechnen der Funktion, andere Vektoren, die ebenfalls Wörter darstellen, zu erhalten. Die Funktion selbst ist in ihrer einfachsten Form, beim einfachsten Training, eine lineare Funktion: f(x) = y = ax + b. Die Konstanten a und b werden beim Training geändert – ein Hauptteil des Trainings – und bleiben dafür bei der Anwendung konstant. Natürlich wird die lineare Funktion in ihrer einfachen Form nur zum Illustrieren der Prozesse verwenden, realistisch sind die Funktionen komplizierter. Der Output der Funktion sollte möglichst nahe am idealen Output, den der Mensch vorgibt, sein. Wenn der Output beispielsweise 20 sein soll, und x = 3 ist, dann müssen a und b so verändert werden, dass y möglichst 20 ist (zum Beispiel a=5 und b=5). Und das jetzt mehrmals. Wie bei einem linearen Gleichungssystem, nur für zehntausende von Fällen, und somit auch nur noch Annäherungen. Für alle kann es nie stimmen, und so ist eine 100%-Übereinstimmung ist dabei nie zu erwarten. Ab 80% sind wir schon gut dran, ab 90% sehr gut. Ein solcher Ansatz wird beispielsweise beim maschinellen Übersetzen, also DeepL, verwendet. Dabei kommen die Wörter aus dem Input und die Wörter aus dem Output aus einem, üblicherweise sehr grossen, Datensatz der beiden Sprachen, von denen wir übersetzen möchten. Natürlich gibt es noch sehr viele weitere Faktoren zu berücksichtigen, aber das sprengt den Exkurs dann wirklich. Sprachmodelle wie ChatGPT funktionieren ebenfalls mathematisch und mit riesigen Datensätzen, aber mit viel grösserem Fokus auf Statistik. Dort wird gezählt, wie häufig ein Wort unter welchen Umständen vorkommt, diese Häufigkeiten werden in ein «statistisches Modell» umgewandelt, und dieses statistische Modell generiert dann, basierend auf Statistik, einen neuen Satz. Das Trainieren hier beruht auf dem Ausrechnen all dieser Wahrscheinlichkeiten. Dabei essenziell ist der Satz von Bayes, der die Wahrscheinlichkeit beschreibt, dass ein Ereignis eintritt, unter der Bedingung, dass ein anderes Ereignis eingetreten sei. Also: Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass auf das Wort «Jesus» direkt «Christus» folgt? Mit diesen Wahrscheinlichkeiten erstellen wir ein Sprachmodell.

Ganz kurz zusammengefasst: Maschinelles Lernen und die damit verbundene künstliche Intelligenz ist alles in allem reine Mathematik, aber weil die Datensätze nicht exakt sind, da eben alles ausserhalb der exakten Wissenschaften nicht exakt ist, kann die Mathematik auch nicht immer das exakt Gewünschte oder «Richtige» ausrechnen. Unsere Modelle irgendwie so zu manipulieren und anzupassen, dass es möglichst nahe drankommt, ist einer der Ansätze. Ausserdem benötigen wir einen genügend grossen Datensatz, der aber auch noch brauchbar sein muss. Weil kein Datensatz perfekt ist, muss aufgeräumt werden, und was man berücksichtigen will und was nicht, muss auch entschieden werden. Oder wie man ein trainiertes Modell, das aber beispielsweise unbeabsichtigt rassistisch wurde – weil der Datensatz rassistisch war und es niemand merkte, weil er zu gross war – ändert. Das sind alles Themen, die nicht mit ein paar simplen Regeln geklärt werden können, wie wir ein Skript «debuggen», also von Fehlern und ungewünschten Nebeneffekten befreien können. Zum Training selbst benötigen wir ausserdem einen Computer, der ausreichend leistungsfähig ist. Und trotz aller Massnahmen wissen wir doch nicht, ob wir am Ende das erhalten, was wir wollten. Die Funktion ist zu kompliziert, die Vektoren zu unterschiedlich, die Modelle zu vielfältig, als dass man alles genau ausrechnen und nachvollziehen könnte. KI und die damit verbundene Mathematik mögen sehr viel tun können und nicht sehr menschlich sein – abgesehen vom Irren -, aber ein «Gehorsamsroboter» ist das auf keinen Fall. Ja, wenn Künstliche Intelligenz so einfach wäre, wie Thomas Lieth es dargestellt hatte… dann wären mein Studium und die ganze Forschung zwar signifikant einfacher, aber bemerkenswerterweise wohl auch langweiliger. Der Unterschied zwischen Skripts und künstlicher Intelligenz ist vielen Personen unbekannt, was ja nicht schlimm ist, solange sie nicht so tun, als wüssten sie, was künstliche Intelligenz ist.

Eine theologische Diskussion? Wie satanisch!

Die Predigt wechselte dann vom ungehorsamen Menschen zum Fokus auf Liebe und Vertrauen. Mit Liebe wurde Gottes Liebe dem Menschen gegenüber und mit Vertrauen ein blindes Vertrauen der Menschen Gott gegenüber gemeint. Mit der Erklärung, dass Satan Gottes Wort in Kapitel 3 infrage stellte, kam Lieth zum Schluss, dass Menschen nie das Wort Gottes in Frage stellen sollten. Ja, wir sollen sein «wie ein Kind, das sich liebenden Eltern unterstellt». Seit wann machen Kinder das? Die einzigen Kinder, die genau das tun, was ihre Eltern wollen, sind wohl die, welche die Bestrafung fürchten. Oder die, welche zufälligerweise sowieso das tun wollen, was ihre Eltern auch wollen. Und die eigenen Eltern in Frage stellen ist wohl auch kein neues Konzept. Vielleicht hätte er angeben müssen, wie alt das Kind genau sein sollte, denn ein Kind macht doch einige Phasen durch in seiner Entwicklung. Vielleicht gibt es ja eine «Gehorsamkeitsphase» (wohl kaum). Und Lieth sprach weiter und je mehr er sprach, desto mehr hörte ich «Wenn Gott jemanden sendet, der die Bibel infrage stellt, dann ist das ein Test von Satan.» Spannend war, wie er kommentierte, dass Eva Gottes Wort falsch wiedergab, sie sagte nämlich zu Satan, man dürfe weder die Frucht essen noch sie berühren. Im Kapitel vorher hatte Gott aber zu Adam gesagt, man dürfe sie nicht essen – von Berühren war keine Rede. Soweit konnte ich Lieth zustimmen, meine Bibel sagte dasselbe. Allerdings: Dass Gott es auch Eva gesagt hätte, kam nirgends in der Geschichte vor. Dass hier vielleicht sogar Adam Gottes Wort verdreht hätte, auf die Idee kam Lieth gar nicht. Nein, Eva war schuld. Sie hätte Gott direkt fragen sollen, so erklärt Lieth, wenn sie Zweifel hätte, und nicht Satan zuhören (wobei sie meiner Einschätzung nach eher erst mal die Frucht berührte, sah, dass sie nicht starb, obwohl es hiess, sie würde sofort sterben, und dann entschied, sie zu essen). Schliesslich hätte sich Eva auf eine, wie Lieth es nennt, «theologische Diskussion» eingelassen. Im Moment, als er das sagte, war mir klar: Diese Gemeinde predigt, keine Zweifel zu haben, Zweifel sofort zu beseitigen, und jedes kritische Wort direkt auszublenden, damit es dem eigenen Glauben nicht schade. Dass Zweifel einem Glauben guttun können, darüber wurde nicht gesprochen. Ein theologisches Bild, das keine Kritik aushalten kann, ist vielleicht auch einfach zu schwach, um auf den eigenen Füssen zu stehen. Kennzeichnend war auch, wie Lieth sagte, das erste Wort, das Satan (die Schlange) spräche, wäre eine Lüge. Das stimmt nicht, denn es handelt sich dabei um eine Frage. Eine Frage kann suggestiv sein, aber sie ist keine Lüge, denn es handelt sich dabei nicht um eine Aussage. Ich weiss nicht, was mich mehr enttäuscht: zu wissen, dass solche Kritik direkt abgeblockt werden würde, oder die Tatsache, dass ich so Offensichtliches dann doch noch ausschreiben muss, um es klar zu stellen.

Ist es wirklich so gemeint?

Es ging weiter mit einer Runde von Fragen, ob Gott gewisse Bibelstellen wirklich so gemeint habe. Die Beispiele? «Praktizierende Homosexualität, keinen Sex vor der Ehe, dass Gott Mann und Frau geschaffen hat». Kurz: Ein homosexuelles Paar ist sündig, Sex vor der Ehe sowieso, und dass Gott «Mann und Frau» geschaffen hat, bedeutet übersetzt, dass er keine trans Personen geschaffen hätte. Und Lieth fragte (rhetorisch): «Soll Gott gesagt, und es so gemeint haben?» Ja, das Nicht-Akzeptieren und Nicht-Tolerieren von anderen ist offensichtlich so wichtig, dass es gar nicht infrage gestellt werden darf. Die Liebe, die Menschen gemäss Gebot der Nächstenliebe haben sollten, war im Mitternachtsruf gar nicht zu spüren. Satan stelle Gott als Lügner dar, er sage «glaub doch nicht alles, was da geschrieben steht». Dass Eva und Adam einfach neugierig waren, kann ich ihnen nicht vorwerfen. Lieths Beispiel aber kann ich ihm vorwerfen. Er beschrieb den Grund für das Essen als «Gier nach mehr». Meines Wissens dürfte eine unberechtigte Gier, also eine Gier nach etwas, das man nicht hat, aber auch nicht braucht, durchaus als sündig klassifiziert werden. Vor allem mit den Beispielen «Neid» und «Völlerei», die ja angeblich vor Sündenfall gar nicht existiert hätten. Irgendwie stand der Prediger da und erklärte einerseits, dass es gar keine Sünde gab vor dem Sündenfall, aber gleichzeitig gab es dann doch die Sünde der Gier, die den Menschen in den Fall brachte. War da jetzt Sünde oder nicht? Ist Neugier die schlimmste Sünde? Schliesslich hat sie das ganze Sündengefälle ausgelöst. Und wenn sie, bevor sie vom Baum assen, nicht gut und böse unterscheiden konnten, wie hätten sie wissen sollen, dass eine Regelverletzung eben nicht gut, sondern böse ist? Auch Kinder lernen, dass Handlungen Konsequenzen haben, und wenn das eben ihre erste Handlung war, und sie nie lernten, dass es Konsequenzen gab, ist es wohl verwerflich zu behaupten, dass sie von Grund auf böse seien. Aber nicht nur die Gier nach mehr sei das Problem (gewesen), wie Lieth erklärte, sondern der «grenzenlose Hochmut, Gott sein zu können». Denn wer Gott ist, der braucht keinen Gott. Sagt man zumindest im Monotheismus. Im Polytheismus sind mehrere Götter doch vereinbar. Dann begann eine wunderschöne Auflistung von Dingen, was die Welt macht und was sie erntet. Dabei waren: «Man lehrt Evolution und erntet der Stärkere gewinnt» (wobei die Schwachen heute mit der Lehre der Evolutionstheorie stärker geschützt werden als im Mittelalter, wo man an eine Schöpfung in sechs Tagen glaubte), «Sie wollen das Klima schützen und töten die Kinder im Leib der Mutter» (was herzlich wenig miteinander zu tun hat und einfach ein politisches Statement ist), «sie sprechen über Toleranz und dulden keine zweite Meinung». Ja, das nennt man das «Toleranzparadox». Wer tolerant ist, der ist Intoleranten gegenüber intolerant. Die Tolerierten haben dabei nichts, worüber sie sich beklagen könnten, aber die Intoleranten schon – sie werden nicht toleriert. Kurz: Wessen Meinung es ist, dass jemand keine Existenzberechtigung verdient, den toleriere ich nicht. Existieren zu dürfen und seine Identität frei zu finden ist nicht dasselbe wie anderen Personen dies abzusprechen. Eines schränkt niemanden ein, das andere schon. Auch schön: «Sie reden über Menschenrechte und missachten Gottes Recht». Sie stellen Menschenrechte infrage. Eine Grundlage für unsere Gesellschaft heute. Eine Bewegung, die unabhängig ihres Ursprungs mehr Nächstenliebe in sich vereint als die ganze evangelische Gemeinde «Mitternachtsruf». Die Bibel lesen sie anscheinend wirklich nur dort, wo es ihnen gerade passt. Ob sie wohl auch was gegen Amnesty und andere Menschenrechtsorganisationen haben, die eben ohne missionarische Ziele Menschen helfen? Ist es Gottes Recht, dass Menschen nur aus physischen Notlagen befreit werden dürfen, wenn sie dafür bekehrt werden? Was genau versucht der Mitternachtsruf, den Menschenrechten abzusprechen?

Die Predigt endete mit der Aussage, der Mensch könne schliesslich nichts Gutes tun, und: «Geh zu Jesus. Dann bist du nicht wie Gott, aber zuhause.» Bei Jesus vielleicht schon, aber nicht in dieser Kirche. Den barmherzigen und liebenden Gott aus dem Neuen Testament konnte ich in diesem Gottesdienst nirgendwo wiedererkennen.

Es gab wieder ein Gebet nach der Predigt, dann sangen wir «Amazing Grace» mit deutschem Text, und dann war es vorbei. Ich packte meine Sachen und bemerkte, wie andere Personen meiner Stuhlreihe darauf warteten, dass ich fertig würde. Ich machte mich aus dem Weg und stellte mich in die andere Reihe, um alles schön in meiner Tasche zu versorgen. Die drei Männer, die während dem Gottesdienst hinter mir sassen (und dank denen ich schönen Gesang von hinten hörte, auch wenn sie nicht ganz alles trafen), betrachteten mich meiner Auffassung nach ein wenig zu lange. Vielleicht bin ich auch eitel, aber ich erhielt doch auch bei anderen Frauen den Eindruck, dass diese und andere Männer sie etwas länger angeschaut hätten als notwendig wäre, um zu erkennen, ob diese Person bekannt ist und man ihr «Hallo» sagen sollte. Und der Blick war zu genau und zu forschend, als dass es einfach darum gegangen wäre, dumm reinzuschauen, weil man eben sonst nichts anzuschauen hat. Dass die Gemeinde als Ort, potenzielle Partner kennenzulernen, dient, ist nichts Neues, das gab es schon vor hundert Jahren – aber gerade so offensichtlich war es bei anderen christlichen Gemeinden, die ich bereits besucht hatte, dann doch nicht. Ist der Mitternachtsruf etwa weniger Kirche und mehr Datingportal für konservative Christen?

Angela Heldstab, 25.07.2023

Lexikoneintrag Mitternachtsruf