Wannabe-High-Society: Ex-EBG-Mitglied besucht die YOU Church

Der Anfang

Meine allererste Erfahrung mit der YOU Church war enttäuschend: Ich versuchte mich dreimal auf der Webseite für den Gottesdienst anzumelden, und es klappte gar nicht. Da schrieb ich eine Mail, auf die ich die Bestätigung erhielt, dass ich gehen könnte. Ein Fehler im Backend hätte die Fehlermeldung ausgelöst. Türöffnung sei um 16:45. Ich landete also mit dem Bus um 16:38 an der Haltestelle direkt bei der YOU Church, mitten im Industriegebiet. Es schien sonntags in dieser Umgebung nichts anderes zu geben als die YOU Church, vor der etwa vier Personen bereits warteten. Diese begrüssten mich freudig und jener, der mich am allerfreudigsten begrüsste, verwies mich direkt an seine Frau, die mir alles zeigen und erklären soll. Sie tauchte sofort in der Tür auf und meinte, ich solle kurz warten, sie kontrolliere noch, ob der Soundcheck bereits vorbei war, und verwies mich auf die Toilette, falls ich gehen müsste. Dort hatte es einen riesigen Spiegel, sowohl in der Kabine als auch beim Waschbecken, was natürlich super war, um meine vom Wind verwehten Haare in Ordnung zu bringen.

Das Gefühl von «(Frei)Kirche» spürte ich gar nicht, es war eher, als wäre ich irgendwie an einem Wannabe-High-Society-Treffen gelandet. Beim Gespräch mit jener Frau, die mir alles zeigen sollte – obwohl es viel zu wenig zu zeigen gab – fühlte ich mich erstmal ausgequetscht: Wie ich auf die YOU Church gestossen sei, ob ich die Webseite angeschaut hätte, ob ich in einer anderen Freikirche wäre, ob ich den Weg schon mit Gott ginge. («Zufällig, ja sicher, nein, nur der reformierten, und ja, natürlich»). Das Gespräch erinnerte mich mehr an ein Vorstellungsgespräch, und ich erwartete schon fast, mehr zu meinem Lebenslauf und meinen Stärken mitteilen zu müssen. Allerdings ein unangenehmes Vorstellungsgespräch: Ich fühlte mich so unwohl beim Ausgequetscht-Werden, dass ich meine Antworten enorm kurz hielt, und mir mehrmals überlegte, ob ich jetzt einfach weglaufen sollte. Schon in diesem Gespräch erzählte sie mir von ihrer eigenen Glaubensfindung, wie in der Bibel steht «wer Gott sucht, der wird rewarded, auf Deutsch…», ich half ihr: «belohnt», und noch viel mehr. Ich dachte erst, es gäbe eine Verwechslung mit «wer Gott sucht, der findet», aber sie meinte Hebräer 11, 6: «Denn Gott hat nur an den Menschen Gefallen, die ihm fest vertrauen. Ohne Glauben ist das unmöglich. Wer nämlich zu Gott kommen will, muss darauf vertrauen, dass es ihn gibt und dass er alle belohnen wird, die ihn suchen.» (Hoffnung für alle). Die Anglizismen, die es von überall hagelte, konnte ich verhältnismässig schnell akzeptieren, ich muss mich auch immer zusammenreissen, nicht konstant von Sprache zu Sprache zu wechseln. Viel mehr überraschte mich, dass wir über Gott und Jesus redeten. Ich hatte vor lauter Strahlen und Schminken und High-Society vergessen, dass ich eine Freikirche besuchte.

Das Strahlen der Sterne des Kreators

Irgendwann war der Soundcheck vorbei und wir konnten hineingehen. Jede Person, die mir irgendwie über den Weg lief, war so überfreundlich, dass andere Freikirchenmitglieder im «Strahlen» keinem Vergleich standhalten würden. Einige kommentierten, wie schön es sei, dass ich so jung schon auf der Suche nach Gott wäre. Diese Aussage kenne ich, als Ex-Freikirchenmitglied in meiner Jugend ohne «gläubige» Eltern, natürlich sehr gut. Jene, S., welche mich in einer Liste eintrug und mich nach meiner Nummer fragte, erkundige sich nach dem Herkunftsort meines Dialektes, den ich ihr natürlich mitteilte. Ihre Antwort darauf war «Ah, sieht man dort nicht die Sterne enorm gut?» (Ja, sieht man!) Und dann kam: «Es ist wunderbar, was der Kreator alles geschaffen hat.» S. wirkte enorm nett, aber die Art, wie sie sprach, die glasigen Augen; ich würde es als «verliebt» oder «verblendet» bezeichnen. Es war wirklich, als würde sie unser Gespräch ganz anders wahrnehmen als ich. In diesem Moment fiel mir wieder ein, dass ich hier nicht an irgendeinem sozialen Event war, sondern eben in einer Freikirche, und ich sprach darüber, wie wunderbar es war, dass Gott sich für uns, die wir im Vergleich zu den Sternen so klein sind, doch interessiert. Ich hatte deklariert, dass ich «den Weg mit Gott» ging, also musste ich zumindest auch so tun. Sie verwies mich dann an meinen Platz – erst wollte sie selbst, aber eine andere Frau kam uns entgegen und es wechselte dann zu «ah, sie zeigt dir, wo du sitzen darfst». Ich liess mich also nieder und sah, dass auf den Stühlen neben und vor mir noch Zettelchen waren. Auf meinem Stuhl hatte es keinen mehr gegeben, vermutlich wurde der vorzeitig entfernt, wie ich es anschliessend bei den restlichen Platzanweisungen beobachtete. Ich setzte mich auf meinen Platz, packte meine Sachen aus und schaute mich um.

Der Raum hätte locker mehr als das Doppelte tragen können, wir waren etwa zwanzig Personen (allenfalls noch weniger), doch die familiäre Atmosphäre, die sich in solchen Situationen ergeben könnte, war für mich weniger spürbar. Es war eher eine überfreundliche Atmosphäre von den meisten Personen, die versuchten, offen zu sein. Bei einigen fühlte ich mich aber klar beobachtet und beurteilt. Ein paar gingen mir auch aus dem Weg, was für mich passte, denn wenn 20 Personen alle fast schon aggressiv auf einen zugehen, ist es dann schnell zu viel. Irgendwann begannen wir zu singen – der Text erneut auf der Leinwand projiziert. Dafür standen wir auf. Der Typ vor mir war leider zu gross und ich zu klein, und ich musste, um den Text lesen zu können, mich die ganze Zeit von links nach rechts bewegen. Ich bin nicht sicher, ob andere Personen das als charismatischen «Heiligen Geist» interpretiert hatten, aber an irgendeinem Punkt machte ich das Hin- und Her in Kombination mit etwas «tänzerischer» Ausgestaltung. Spannender war, wie genau der Liedtext gezeigt wurde: Es war eine Aufnahme eines Gospelchores aus Nigeria mit Untertiteln. Aus Nigeria, weil: Es wurden im Video mehrere Telefonnummern angezeigt mit der Vorwahl +234, was die nigerianische Vorwahl ist. Das Video schien eine Mischung aus Online-Konzert und Werbung für den Chor zu sein, und da sie genügend laut waren, fühlte es sich auch gar nicht an, als wären wir nur 20 Personen, sondern eben, als wären wir eine riesige Gruppe. Etwas beeindruckend fand ich das Ausnutzen der Technik, um potenziellen Katzengesang auszugleichen, schon. Etwas gewöhnungsbedürftig war das «Yes, Amen, Praise the Lord!», das neben, hinter und vor mir immer wieder hineingerufen wurde, mitten im Lied.

Eines der Lieder hatte den Liedtext «there’s no place I’d rather be». So ganz konnte ich das nicht vertreten, aber ich hatte schon lange entschieden, dass ich bei Dingen mitsingen würde, unabhängig davon, ob ich derselben Meinung bin, weil ich eben einfach gerne singe. Mit Ausrufen der Zustimmung während des Singens konnte ich also noch weniger anfangen.

Eine Pastorenzentrierung

Nach Singen gab es dann eine «Lesung» – aus dem «Rhapsody», dem Andachtsbüchlein für jeden Tag. Der Text aus dem Rhapsody wurde auf dem Bildschirm angezeigt und ein Mann las es vor. Wir konnten mitlesen. Das war enorm schräg, besonders bei den paar Wörtern, bei welchen er sich versprach. Wir sprachen gemeinsam das Gebet, das er uns Stück für Stück vorsagte (obwohl es auf dem Bildschirm angezeigt wurde?), das gemeinsame Gebet war aber «jeder in seinem Tempo». Etwas enttäuscht davon, dass wir es nicht wirklich gemeinsam und gleichzeitig sprachen, war ich schon. Besonders bei so wenigen Leuten sollte es doch umso einfacher sein. Es ging weiter und die Predigt begann nach weiteren Liedern. Diese wurde gehalten von: einer Frau. Keine Seltenheit mehr, aber ich hatte schon den Pastor J erwartet, der ja auf der Webseite sehr ersichtlich auftaucht (riesiges Bild als das Erste, das man sieht). Bei der Frau handelte es sich, wie ich später herausfand, um Andrea Wanieck, die Pressesprecherin und jene, die mein Mail beantwortet hatte. Eines der ersten Dinge, die sie sagte: Sie richtete den Dank des Pastors (Jella Wojacek, aber niemand nannte ihn so) aus, der schon viele Geburtstagswünsche erhalten hätte und ganz herzlich danken liess. Ich dachte erst, er hätte diese Woche Geburtstag gehabt, anscheinend war es aber wirklich an genau diesem Tag. Ich fand die Situation enorm schräg. Bei keiner anderen Kirche oder Freikirche, weder der Evangelischen Bibelgemeinde EBG noch der reformierten Kirche noch irgendeiner anderen, die ich besucht hätte, wäre so etwas gesagt worden. Ich wusste und weiss bei keinem einzigen Pfarrer, Prediger, Priester oder Pastor (oder Pfarrerin oder Predigerin), wann sie Geburtstag haben, ausser jetzt beim «Pastor J».

Christliche Fragen: Aggression und die Bibel

Die Predigt war etwas chaotisch, obwohl es um ein Thema ging, wurden doch verschiedenste Dinge und enorm viele Bibelverse angesprochen. Besonders nervte mich schon sehr früh in dieser Predigt, dass Andrea die ganze Zeit fast schon aggressiv «OKAY?!» zu allen möglichen Aussagen dazunahm. Das nächste, was sie machte, war eine Liste von Bibelversen hinauszuhauen und all die erwähnten Bibelverse zu erläutern und zu erklären. Auch ganz toll: Manchmal dauerte es etwas länger, bis der Techniker den Bibelvers aufgeschaltet hatte. Und dann wurde Andrea fast schon aggressiv, nannte den Vers, den sie sehen wollte, mit einem sehr herrischen Unterton, und lief wartend auf und ab, und einmal sagte sie sogar drohend «ich such ihn gleich selbst» (auf ihrem eigenen Handy). Der Techniker tat mir enorm leid. Er war schon bei den Liedern, als die Lyrics noch nicht aufgeschaltet waren, halb verzweifelt an seinem Technikerpult, und jetzt wurde er auch noch praktisch vor versammelter Gemeinde beleidigt. Ein wenig unchristlich fand ich das Verhalten schon, Geduld sollte ja vor allem Christen kein Fremdwort sein.

Es dauerte nicht lange, bis der – mutmassliche – Lieblingsvers der Gemeinde aufgesagt wurde, nämlich Hebräer 11, 6, in dem es darum geht, dass Gott jene, die ihn suchen, auch belohnt. Wir sollen Gott im Wortstudium (ein spannendes Synonym für «Bibelstudium») suchen, und Loblieder singen. Andrea redete darüber, wie Personen bei einem Coldplay-Konzert auch komplett hin und weg von der Band waren, und wie sie von all ihrem Singen und Glauben und die Band-Anbeten genau: Nichts hätten. Zumindest auf länger gerechnet. Aber Gott belohnt ja. Um mich um erklang dabei «Praise the lord!», «Yes!», «Amen» und fast schon spöttisches Gelächter. Das fühlte sich nicht sehr christlich an, vor allem, weil ja in Römer 2,1 steht «Darum bist du nicht zu entschuldigen, o Mensch, wer du auch seist, der du richtest! Denn worin du den anderen richtest, verurteilst du dich selbst; denn du, der du richtest, verübst ja dasselbe!» (Schlachter 2000).

Eine chaotische Liste von «Messages»

Weitere «Messages», die einigermassen in die Predigt passten, aber dann doch etwas zusammenhanglos waren: Schau auf Gott, die Wissenschaft entwickelt sich weiter, aber Gott war schon vorher; das Zeugnis dient für dich, nicht um andere zu bekehren, das Wort Gottes schafft («er sprach: es werde Licht, und es ward Licht»), man soll verstehen, was man unterschreibt, wir arbeiten alle in unserem besten Wissen und Gewissen, aber Gottes Wort ist ewig und immer wahr, die Frage «lebst du in deinem höchsten Potenzial?», welches von einer hinter mir ganz leise mit «nonid!» beantwortet wurde, man soll das Evangelium predigen, damit Menschen die Wahl hätten, zu Jesus zu finden («wenn du noch nie von der Insel Korfu gehört hast, kannst du auch nicht dort hin!»), «mach du dein Ding! Und ich mach meins!» zu den Personen, die «Nein» zu Gott sagen, «wenn du keine Liebe hast, biste nichts. Biste einfach ein Poser», «nimm das Wort und werde besser. Jesus ist gekommen, damit du perfekt sein kannst.»

Und wer an Gott glaube, erklärte Andrea, der werde eben manchmal als «dumm» bezeichnet. Sie redete so intensiv darüber, dass andere einen als «dumm» bezeichneten, «dann sind wir halt dumm», dass jedes «Dumm» sich immer mehr in meinem Kopf festsetzte. Soll sich eine Gemeinde so verhalten, wenn Leute sie als dumm bezeichnen? Ist das etwas, was YOU Church-Besuchende häufig hören? Es fühlte sich an, als würde sie uns darauf aufmerksam machen, dass wir uns diese Beleidigung nicht zu Herzen nehmen sollten, da es sowieso nicht stimmt – nur die, welche Gott nicht kennen, bezeichnen jene, die ihm folgen, als «dumm». Das war das «Take-Away» dieses Teils.

Dann ging es darum, dass man sich nicht schlecht fühlen sollte, wenn jemand das Evangelium nicht hören will – «sie sagen nein zu Gott, nicht zu uns!», und dass es die freie Entscheidung jeder Person sei, nicht an Gott glauben zu wollen. Man soll das akzeptieren, wie andere einen auch akzeptieren sollten. Andreas erste «Message», die auch wieder aufgegriffen wurde, war: Das Wort Gottes vermischt sich mit dem Glauben und «löst etwas aus». Und wir sollen das Wort selbst konsumieren, heisst: selbst die Bibel lesen, damit es in uns etwas auslöste. Die Predigt beinhaltete auch die (teilweise paraphrasierten) Botschaft «wenn du betest und etwas nicht klappt, dann liegt es nicht an deinem Glauben! Lies das Wort und arbeite an deiner Beziehung mit Gott!», auch: «Dann leidet deine Beziehung mit Gott!». Ich fragte mich dabei, wie sich der Typ im Rollstuhl hinter mir fühlte. Die Gemeinde predigt Heilung – das war schnell klar, denn Andrea erzählte, kurz bevor sie das sagte, von Wundern, die Ärzte bereits erlebt hatten. Und dann ist also nicht sein Glaube das Problem, sondern seine Beziehung mit Gott? Läuft das nicht irgendwie auf dasselbe raus, nämlich dass er selbst schuld daran sei, dass er noch im Rollstuhl ist?

Die Esoterik – von Gott, aber ohne Gott

Andrea erklärte, Dinge wie «positive affirmations» und «Bestellung im Universum» (was man vielleicht bei Würfelspielen macht: «so, jetzt bitte eine 6»), das alles sei dasselbe, und käme ursprünglich von Gott, «ne». «Die» (vermutlich «die Welt» oder «die da draussen») bedienten sich der Glaubensprinzipen, und liessen aber Gott aus. Dabei wolle Gott nur eines: Gemeinschaft mit dir. Besonders spannend an der Ausführung fand ich, wie sie die esoterische Terminologie sehr gut kannte. Andere Freikirchen hätten das eher noch als teuflisch verurteilt oder erklärt, worum es sich handelt, und warum es falsch oder gottlos war, und irgendwelche einigermassen (halb)richtig klingende Wörter verwendet, aber Andrea verwendete alle Begriffe aus der «Szene» selbst. Vielleicht hatte sie selbst mal eine Phase?

Die Sprache

Sympathisch an der Predigt war, wie häufig es um das griechische «Originalwort» ging. Immer wieder übersetzte Andrea das Wort und las die verschiedenen alternativen Übersetzungen vor. Ich finde diesen Ansatz enorm spannend und würde am liebsten selbst besser im Altgriechischen sein, um es ihnen nachzuempfinden. Anscheinend ist das auch der YOU Church-«Bibelstudium»-Ansatz, was meines Wissens bei den meisten Gemeinden gern auch gesehen wird.

Die Bibelverse wurden sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch angezeigt. Ich persönlich verstehe Bibeldeutsch gut – es ist einfach etwas älteres Deutsch und etwas gewöhnungsbedürftig, aber wer zwei Jahre lang intensiv Bibeldeutsch liest, lernt es schnell – aber das konnte wohl über die restliche Gemeinde nicht gesagt oder angenommen werden, denn Andrea verwies bei einigen Bibelversen auf die englische Version. Sie las die deutsche Variante vor, kommentierte «das ist wieder so komisches Deutsch!», erklärte, was in der englischen Version stand und wie sie es auf Deutsch übersetzen würde. Selbst bei einzelnen Wörtern: «Einsicht» war wohl zu schwierig, im Englischen steht «Understanding», also hiess es «Verständnis im Englischen». Da fragte ich mich wirklich, warum man nicht einfach eine andere Übersetzung verwendete. Wenn eine Gemeinde Mühe hat mit «Bibeldeutsch», ist das ja nicht schlimm, aber dann verwendet man eben eine verständlichere Bibelübersetzung. Oder die Gemeinde lernt eben Bibeldeutsch. Oder man erklärt den deutschen Bibelvers, indem man die deutsche Version liest. Wörter wie «Einsicht» sind sicherlich für Personen, die nicht deutscher Muttersprache sind – wovon es ein paar in dieser Kirche gibt – schwieriger, aber auch dann: Warum nicht einfach eine andere Bibelübersetzung? Ich erhielt in der YOU Church wirklich das Gefühl, dass Personen denken, die englische Übersetzung wäre irgendwie besser oder «ursprünglicher» als die deutsche, obwohl erst die deutsche (1466) und erst später die englische (1535) Übersetzung existierte. Die Häufigkeit, mit der englische statt deutsche Wörter – trotz sehr einfachen Übersetzungen – verwendet wurden, wirkte fast «zu modern» auf mich. Und in diesem Fall war es im Vergleich zu anderen sich «modern» positionierenden Freikirchen noch falscher, weil so stark auf die englische Bibelübersetzung verwiesen wurde.

Die «Holy Communion» und das Geben

Nach der Predigt gab es die «Holy Communion». Es handelte sich hierbei nicht um das «Abendmahl», das ich als Wort kein einziges Mal hörte, sondern eben: die «Holy Communion». An jedem ersten Sonntag im Monat gibt es wohl Abendmahl, und genau den Sonntag erwischte ich. Die Service-Leute gingen bereits etwas früher aus dem «Publikum» und holten Brot und Wein, während Andrea sprach. Das ging so lange, wenn ich eine der zwei Frauen, die mit Essen und Trinken dort gewartet hatten, gewesen wäre, dann hätte ich es nicht geschafft, sie so verliebt-verblendet und geduldig anzuschauen und zuzuhören. Etwas Rücksicht auf die Mitarbeitenden dürfte man ja nehmen. Aber nur schon die Technikersituation spricht dafür, dass dieses Konzept der YOU Church fremd ist. Wir erhielten also alle Brot und Wein. Ich war nicht besonders motiviert, unerwartet Alkohol zu konsumieren, aber mein Problem löste sich beim Trinken schnell, es handelte sich nämlich um (nicht alkoholischen) Traubensaft. Vielleicht war das ja absichtlich, weil die beiden Jungs vor mir vielleicht noch unter 16 waren, aber in anderen Gemeinden (namentlich der EBG, die sonst enorm abstinent ist) schien dies fürs Abendmahl nie ein Problem zu sein. Vielleicht waren ja einige schwanger? Kleine Kinder gab es keine, und ob die Erwachsenen noch in einem zeugungsorientierten Alter waren, konnte ich auch nicht beurteilen. Andere Leute zwischen 12 und 30 schien es auch nicht zu geben, neben uns dreien.

Nach Abendmahl begann etwas für mich Ungewohntes, nämlich das Geben (von Geld). Alle Personen machten sich auf den Weg nach vorn, zu einer Bühne mit einem Tritt, und legten ihre kleinen Briefumschläge auf den Tritt. Auch die zwei Jugendlichen, die mutmasslich ihr Lehrgeld opferten, legten den bereits vorbereiteten Briefumschlag auf den Tritt. Jetzt wusste ich zumindest, was drin war. Während alle nach vorn gingen, sprach Andrea weiter. Sie erzählte erst, dass Jesus sagte, wer sät, wird das Dreissigfache ernten. «Kannste ausrechnen!». Sie bezog sich damit vermutlich auf Markus 4, 8: «Und all das Übrige fiel auf das gute Land, ging auf und wuchs und brachte Frucht, und einiges trug dreißigfach und einiges sechzigfach und einiges hundertfach.» (Luther 2017), oder auch Matthäus 13, 3-8. Wer die Bibel etwas kennt, weiss es bereits, wer den Vers aus Markus liest, merkt vielleicht: «Das Übrige?» Ja, in Markus 3-8 wird erzählt, wie ein Sämann säte, einiges wurde von den Vögeln gegessen, anderes landete auf felsigem Boden, und anderes wurde von den Dornen erstickt. Der Rest brachte die Frucht. Dasselbe wird im erwähnten Matthäus auch geschrieben. Dieser Teil wurde aber nicht erwähnt, was durchaus aussagekräftig war: Mit der Information, wer sät, wird dreissigfach ernten, werden Personen dazu animiert, selbst zu geben, aber dass es sich bei der YOU Church um felsigen Boden handeln könnte, die Vögel es wegessen könnten, Dornen die Frucht ersticken könnten, das wird nicht kommuniziert. Aber niemand, der eine Kirche besucht, glaubt, dass es sich bei der Kirche nicht um «gute Erde» handelt.

Neben dieser Animation erzählte Andrea uns auch die Geschichte, nämlich die der armen Witwe mit jungem Kind, die nur noch eine Portion Essen und eine Portion Trinken  hatte, und es dem Propheten Elia gab, und die später dafür belohnt wurde. Die Botschaft der Erzählung war klar: Gib alles, was du hast. Gott belohnt dich dann schon. Andrea versuchte, die Erzählung noch mit etwas anderem zu verbinden, nämlich «für andere wäre das wenig gewesen, aber für sie war es alles! Verurteile andere nicht! Es kommt nur darauf an, ob du mit dem Herzen gibst!» Diese ganze Erzählung machte sie, während sie mit mir den Blickkontakt hielt. Es war also nicht sehr schwer, sich betroffen oder angesprochen zu fühlen.

Dank der Tatsache, dass ich bereits wusste, wie Personen alles Geld an die Kirche verloren – Verzeihung, gegeben – hatten, und dass ich gehört hatte, wie der Pastor J einen teuren Lifestyle hätte, konnte ich ihrem Blick eher problemlos standhalten. Spannend fand ich, wie sie nicht ansatzweise erwähnte, wozu das Geld ausgegeben würde. Es wurde nicht erwähnt, dass die Technik oder der Traubensaft – Wein – kostete, oder dass damit die Mission aufgebaut wurde, oder meinetwegen die Familie des Pastors im Ausland finanziert, nein, es ging darum, Geld zu geben, um Geld gegeben zu haben. Auch über «knausrige» Personen sprach sie, aber während sie mit einer anderen Frau, die zuvorderst sass, Blick- und teils Körperkontakt (ihre Schulter) hielt. «Die können nix dafür, ihre Eltern waren knausrig und Kinder schauen ab!». Als Person, die sich als «sparsam» bezeichnet, fühlte ich mich natürlich gar nicht betroffen, aber wenigstens wurde ich nicht mehr in den Boden gepredigt.

Das Rhapsody und der Abschluss

Dann sangen wir noch ein wenig, und Andrea sprach noch mehr, und irgendwie endete dieser Gottesdienst dann auch. Ich erhielt noch das «Rhapsody» (Andachtsbuch) des Monats Juli, das wohl alle Newcomers (kostenlos) erhalten – Bisherige dürfen es im Shop kaufen oder täglich auf der Webseite, auf welcher es aufgeschaltet wird, anschauen – und Andrea erklärte mir, wie genau es aufgebaut war. Es beinhaltet einen Vers, eine Ausführung zum Vers, ein Gebet, das man sprechen kann (was ich schräg finde, man soll doch eigenständig beten?), und zwei bis vier weiterführende Bibelstellen. Dabei stehen manchmal auch die Übersetzungen, die man sich anschauen soll, und manchmal eben auch die englische Version, beziehungsweise der Vers ist auf Deutsch, aber verweist auf eine englische Version, und die Übersetzung wurde von den Predigern getätigt. Zudem gibt es noch ein Bild eines Pastors oder anderer Gemeindemitglieder oberhalb des Titels. Ein Titel heisst mal «Wahrheit: Realität über Fakten hinaus», mal «Gib alles». Eine linguistische Analyse der Häufigkeit des Konzepts «Geben» wäre sicherlich spannend. Ich packte also mein neu erworbenes Rhapsody im Briefumschlag ein und verstaute es in meiner Tasche.

Wir sprachen noch über Bibel-Apps und ich erkundigte mich nach dem Pastor, «der, welcher so gross auf der Webseite auftaucht», wo der denn sei. Dann erfuhr ich, dass Andrea die Predigt netterweise übernommen hatte, damit er Geburtstag feiern konnte, dass er aber nächste Woche käme, zusammen mit vielen anderen Predigern aus «aller Welt» (beispielsweise «Holland» und «Italien»). Ich kommunizierte also, dass ich eventuell nächste Woche wiederkommen würde, und sie erzählte mir, wie einige Personen wirklich bei der Anmeldung fragten, ob denn Pastor J dort wäre, und wenn er nicht dort war, dann kämen sie auch nicht. Das fand ich dann schon ein wenig krass. Die zwanzig Personen, die dort waren, gehörten wohl zum «harten Kern». Andrea erzählte mir auch, dass es viele Personen gab, die mal kamen, aber auch noch andere Freikirchen besuchten, und erkundigte sich, wie es bei mir aussähe. Ich erzählte, dass ich auch einige Freikirchen kannte, die ab und an besuchte, und dass ich nicht auf der Suche nach einer Kirche war, aber auch nicht abgeneigt dagegen, bei einer zu bleiben, die mir passte. Strategie: alle Türen offenlassen. Mit Andrea zu sprechen war aber durchaus angenehm, wir sprachen neben «wie fandest du es» und anderen «religiösen» Angelegenheiten auch über mein Studium und die Sprachen, die wir sprechen, bis ich mich entschied zu gehen. Da die Predigt drei Minuten vor dem nächsten Bus geendet hatte und ich ja noch mein Rhapsody entgegennehmen musste, hatte ich bereits entschieden, auf den Bus eine halbe Stunde später zu gehen.

Ich verabschiedete mich also noch vom Rest und wartete dann rund 15 Minuten auf den Bus. Lieber draussen im Wind warten, als weiterhin dort drin sein. Der Gottesdienst hatte knapp zwei Stunden gedauert und ich war komplett erschöpft. Bei anderen Gemeinden hatte ich die Räumlichkeiten verlassen und meine Musik gehört, mich über allfällige Homophobie und Bibelironie aufgeregt, aber dieses Mal war ich einfach k.o. Solche Wannabe-High-Societies sind gar nichts für mich. Es wäre vermutlich angenehmer gewesen, wenn wir über Aktien und Investitionen gesprochen hätten, was mehr dem «Vibe» der Gesellschaft dort entsprochen hätte, denn dann wüsste ich wenigstens, worin das Geld investiert wird und inwiefern es sich lohnen könnte, wie gross das Risiko wäre, wie diversifiziert wird, und so weiter. Hier fühlte es sich mehr an, als würde das Geld einfach in eine Kasse mit Loch gepumpt, und man hofft dann einfach, dass Gott die Rendite schon auszahlt. Ehrlich: Lieber richtig in Aktien und andere Wertschriften investieren als in ein Luftschloss, wie es die YOU Church zu sein scheint. Ansonsten besser das Investieren ganz sein lassen.

Angela Heldstab, August 2023

Lexikoneintrag YOU Church