Himmlisches Jerusalem – ein Besuch zur Frühjahrskonferenz

Bei der Bewegung «Himmlisches Jerusalem» handelt es sich um eine Gruppierung, die ums Jahr 2015 aus Ortsgemeinden der Brüderbewegung, einer eher konservativeren Seite der Freikirchenszene, herausgewachsen ist. «Himmlisches Jerusalem» legt einen grossen Fokus auf die Endzeit und das baldige Einsetzen der entsprechenden Ereignisse. Um ein besseres Verständnis ihrer Lehren, aber auch ihrer «Mitglieder» zu erreichen, besuchte ich die «Frühjahrskonferenz», die über das Osterwochenende stattfinden sollte, via Zoom.

Exkurs: «Endzeit»? Was ist das, und was genau glaubt Himmlisches Jerusalem?

Die «Endzeit» bezeichnet einen Zeitrahmen, in welchem Jesus nicht auf dieser Erde ist, aber dass die Entrückung und Jesu’ Zweites Kommen (und somit auch das Jüngste Gericht) kurz vor der Tür steht. Bei der Entrückung handelt es sich um ein plötzliches Verschwinden glaubender Christ:innen, woran übrigens viele Freikirchen glauben. «Himmlisches Jerusalem» geht ebenfalls davon aus, dass wir uns bereits in der Endzeit befinden. Sie gehen aber noch einen Schritt weiter: Es scheint, so ist mir nach diesem Besuch klar, die Erwartung zu geben, dass wir uns bereits in den sieben Jahren Trübsal befinden, die meistens, auch in nach Auffassung anderer Freikirchen, mit Jesu Zweitem Kommen und dem Gericht beendet werden. In der Hälfte dieser sieben Jahre, also nach dreieinhalb Jahren, geschehen nach ihrer Auffassung drei Dinge: Erstens, die Christ:innen, die «Erstlingsfrüchte» – also die lebendigen Personen, die als erstes Frucht gebracht haben, die als erstes im Glauben gewachsen sind, die sich «korrekt» verhalten  – werden entrückt. Das heisst, sie verschwinden plötzlich, unerwartet, sind einfach weg. Allerdings nicht alle, sondern nur 144’000. Ein solches Limit ist selten. Und wenn es mal mehr als 144’000 lebendige, glaubende Christ:innen sind (was, meine Einschätzung, bereits zutrifft), dann sind es dennoch nur 144’000 Christ:innen, die wirklich oder genug glauben, die genug «göttlich» leben. Ich stelle mir vor, dass das als Mechanismus, um das Verhalten von Personen zu kontrollieren, sehr effizient sein könnte (Du willst doch auch eine Erstlingsfrucht sein? Dann mach, was ich dir sage., auch wenn es natürlich niemand so direkt ausdrücken würde). «Erstlingsfrucht» ist übrigens ein wichtiges Wort fürs Vokabular von «Himmlisches Jerusalem». Wenn also die Erstlingsfrüchte entrückt sind, taucht der Antichrist auf, dem dann alle Menschen folgen, besonders die «Ungläubigen». Währenddessen werden 144’000 jüdische Personen «versiegelt», dass ihnen also während der zweiten Hälfte dieser sieben Jahre Trübsal kein Schaden entstehen kann.

Achtung Gewalt

Sobald die sieben Jahre vorbei sind, kommt Jesus und «zermatscht» die Heere, welche der Antichrist zum Angriff auf Jerusalem gesammelt hat – sympathischerweise in einem Video der Webseite sehr schön dargestellt, mit Beschreibungen, wie viel Blut dabei entsteht, wenn Jesus die Heere der Welt wie Weintrauben zertritt, für mich ehrlich gesagt zu gewaltverherrlichend, und mit Jesus kommen die 144’000 Entrückten, als «sein Heer», mit welchem er die «gottlose Menschheit» besiegt. Beim Schauen des Videos und Lesen der Beschreibung ihrer Erwartungen lief es mir mehr als einmal kalt den Rücken hinunter. Für Christ:innen haben sie erstaunlich detaillierte und intensive Gewaltfantasien. Das fiel übrigens auch beim Gebet auf: «dass du stichst und blossstellst, Herr» (namentlich die Ungläubigen), und «dass auch dein Gericht Anwendung finden kann, auch in diesem Haus» sind zwei Zitate, die für mich so über der Grenze waren, dass ich sie mir notiert habe. Wenn Christ:innen «gewaltverherrlichend» sind, dann wohl so.

Die Frühjahrskonferenz: eine erste Analyse

Die «Frühjahrskonferenz», die in Stuttgart stattfand, begann bereits am Gründonnerstag, abends, und dauerte gemäss Plan Gründonnerstagabend bis Ostermontagnachmittag, alle Tage dazwischen inklusive. Da donnerstagabends auch eine wöchentliche Versammlung stattfinden sollte, wählte ich mich erst in den falschen Zoomlink ein und war anfangs verwirrt, bis mir einfiel: Gründonnerstag. Natürlich gehört das zur Frühjahrskonferenz. Ich schaltete mich also diesmal in den richtigen Zoomlink ein – der auf der Webseite frei zugänglich war – und bemerkte, trotz der Verspätung, dass die Predigt noch nicht angefangen hatte. Noch war Gebet an der Tagesordnung. Was mir natürlich als erstes auffiel, war das «Amen», mit welchem andere Versammlungsteilnehmende die Betenden konstant bekräftigten. Aber wirklich konstant: Etwa nach jedem Satz, oder Teilsatz, kam wieder eines. Die «Amens» wurden nicht deutsch betont, das heisst, nicht Amen, sondern amen. Während das meines Wissens in semitischen Sprachen durchaus korrekt ist, dass man also nicht die erste, sondern eher die zweite Silbe betont, ist das in der «deutschen Freikirchenszene» vor allem auf US-amerikanischen Einfluss zurückzuführen. Wie stark dieser bei «Himmlisches Jerusalem» ist, sollte ich im Verlauf des Abends noch herausfinden.

Während einzelne Personen, auch Frauen, in Stuttgart beteten, beobachtete ich die Alters- und Geschlechterverteilung der verschiedenen Personen. In erster Linie war ich überrascht, wie international die Namen im Zoom-Call waren: Neben klassisch deutschen Namen kamen auch einige chinesische und vietnamesische Namen dazu, es gab einzelne Spanier, amerikanische Namen, «gemischte» Paare, auch im Konferenzsaal, und dann noch Namen, die ich nicht abschliessend zuordnen konnte. Dazu gab es Übersetzer, die man für den Zoomcall ein- und ausschalten konnte (Englisch, Griechisch, Chinesisch, Vietnamesisch, Polnisch), und die in der Turnhalle – wo die Versammlung stattfand – auch wirklich eigene «Übersetzerboxen» hatten. Die Anzahl Personen überraschte mich auch: Anfangs waren wir noch 105 (und das mit meiner leichten Verspätung!), und im Verlauf der Predigt wurden wir etwa 155. Zusätzlich dazu waren anfangs etwa 100 Personen im Raum in Stuttgart (wobei die Kamera, welche die Versammlung zeigte, so schlecht war, dass ich anfangs meinte, sie hätten die Gesichter extra verpixelt), gegen Ende vermutlich um die 120. Die vielen älteren Frauen und älteren Pärchen im Zoomcall, die ihr Video eingeschaltet hatten, überraschten mich weniger. Es gab aber einige junge Frauen – und Männer –, die via Zoom oder vor Ort waren, und die teilweise etwa in meinem Alter waren, plus mindestens eine Mutter mit Baby vor Ort. Eine «Kleiderordnung», wie ich es von der Brüderbewegung, aus welcher «Himmlisches Jerusalem» entstanden ist, gehört und erwartet habe, gab es nicht. Klar, niemand trug einen «gottlosen Ausschnitt», soweit mit der Kamera erkennbar, aber offene Haare, Hosen bei Frauen, auch «lockerere» Kleidung wie Jeans bei Männern und Frauen waren kein Problem.

Bevor es (endlich?) anfing, sangen sie noch ein Lied. Ich vermute, es ging um Jesus und sein erwartetes baldiges Kommen, aber der Gesang war so schräg (vermutlich auch wegen der Audioqualität), dass mir nichts anderes aufgefallen ist. Der letzte Betende vor der Predigt bezeugte sein sehnliches Erwarten: «Zeig, was du verborgen hast in deinem Herzen. Wir wollen von dir wissen, wie der Weg aussieht. Wir beten, dass du uns jetzt bereit machst für dein Kommen.». Weiter ging es mit: «Gib uns einen tiefen Eindruck von deinem Wort», eine relativ erwartbare Aussage, aber «Salbe uns, und salbe unser Reden», und das spätere Bezeichnen von «uns, die wir durch den Heiligen Geist gesalbt sind», waren etwas unüblich, etwas überraschend. Durch den Heiligen Geist geheiligt, ja, das kenne ich, gesalbt sein kenne ich auch, aber salbe unser Reden? Naja. Die Einleitung zur Predigt machte der Herr, der auch in vielen Videos zu sehen ist. Dieser heisst wohl Tobias Widmer. Er erklärte, dass wir beim letzten Punkt «Zeichen der Zeit» beginnen, mit einem kleinen Witz über «die letzten werden die ersten sein» (ich bin immer erfreut, wenn ich dann doch noch ein Witz in deprimierenden Endzeitgemeinschaften höre), mit der Begründung: «weil es sehr nahegerückt ist». Was nahegerückt ist, wie er gleich danach feststellte: Die Zeit, in der «unser Herr», also Jesus, das zweite Mal auf die Erde kommt, und «wir freuen uns sehr, dass in unserer Zeit es bald geschieht.» Wenn ich kurz erklären kann, warum ich dies so genau zitiere: Endzeiterwartungen sind nicht selten, und es gibt einige Freikirchen, die vermehrt darüber sprechen. So weit zu gehen, dass sie sagen «in unserer Zeit geschieht es», und «wir freuen uns sehr», passiert eher selten, aus dem einfachen Grund: Was, wenn nicht? Diese Option scheint für Himmlisches Jerusalem nicht zu existieren.

Die Kuh: Diesmal wirklich

Gott habe uns also ein ganzes Kapitel (Matthäus 24) geschenkt, um zu zeigen, was «in Kürze» geschehen muss und wie wir das interpretieren sollen (dass es ein wenig länger dauern könnte und auch schon die Frühchrist:innen auf «in Kürze» gewartet haben, ist wohl irgendwie an ihnen vorbeigeschossen, vor allem, da sie auch gar nicht über frühere Christ:innen gesprochen haben). Tobias Widmer bezeichnete die Bibel in einem Video mal als «zuverlässige Quelle», sodass ich annehme, dass er sie als unfehlbar sieht. Neben der biblischen Begründung, wobei sie an diesem Abend aber vor allem über das Buch Daniel geredet haben, sprachen sie auch über «das Zeichen der roten Kuh». Gemäss mosaischem Gesetz müssen sich jüdische Priester vor ihrem priesterlichen Dienst mit der Asche einer «makellosen roten Kuh» (die Kühe sind übrigens braun mit rötlichem Stich, nach meiner Einschätzung), waschen, wobei die Kuh etwas älter als zwei Jahre sein muss (zum Zeitpunkt ihres Opfers). Seit zweitausend Jahren gäbe es keine makellose rote Kuh mehr, aber jetzt, seit dem 15. September 2022, gibt es wieder Kühe, welche die Anforderungen erfüllen, nämlich damals fünf, jetzt noch drei davon, extra von den USA eingesendet. Dies ist übrigens das Alleinstellungsmerkmal, die Antwort auf «Was, wenn nicht?»: Nein, denn die Kühe gab es vorher nicht. Dann spielte er noch ein wenig mit dem jüdischen Zahlensystem: Das Geburtsjahr der Kühe 2020/2021 war, im jüdischen Kalender, das Jahr 5781. Die Charaktere oder «Buchstaben», mit denen das Jahr dargestellt werden, bilden ein «Anagramm» für den Satz: «Es wird ein Jahr der roten Kuh sein.» Solche Zahlenspielereien kenne ich eigentlich mehr aus der esoterischen Szene, es ist irgendwie lustig und gleichzeitig anstrengend, dass manche christliche Kreise auch auf solche Argumentationen verweisen (besonders, wenn sie die esoterische Szene verurteilen). Bei der Erklärung, dass über das Osterwochenende «Shabbat Parah», Sabbat der (roten) Kuh war, fügte er hinzu: «Wer weiss, was geschieht! Diese rote Kuh allein muss uns zeigen, die Zeit ist nah.» Entrückt wurden sie meines Wissens über das Osterwochenende nicht, aber bei nur 144‘000 Menschen weiss ich nicht, wie stark das jetzt ins Gewicht fallen würde.

«Die Juden»

Auch auffallend war, wie sie über die jüdische Gemeinschaft sprachen: «Die Juden». Dass sie nicht genderten, überraschte mich gar nicht, aber irgendwie gibt es bei zionistischen Christ:innen eine merkwürdige Mischung aus internalisiertem Antisemitismus kombiniert mit zionistischen Bestrebungen, im Sinne von «die Juden glauben zwar falsch, aber sie sind immer noch Gottes Volk, und wenn wir das zionistische Ziel erreichen, kommt Jesus und die Welt ist vorbei». Diese Formulierung, «die Juden», hatte entsprechend einen sehr abwertenden Unterton.

Politikwissen in Endzeitgemeinden: Ein wenig Geopolitik

Desübrigen erklärte Tobias Widmer auch, dass die Kuh so wichtig sei, die Hamas hätten öffentlich «durch dies…den da» (den Sprecher der Hamas, dessen Name womöglich zu schwierig war; vielleicht hat er sich aber auch bewusst geweigert, den Namen zu nennen) gesagt, der Anschlag des 7. Oktobers sei wegen der roten Kuh gewesen, weil sie Angst hätten, wenn die Kuh dargebracht wird, dass sie dann die Moschee auf dem Tempelberg verlieren. «Was auch immer.», wie Tobias Widmer erklärte. Ja, wenn natürlich zionistische Christ:innen auf die Wiederherstellung des jüdischen Tempels warten, können islamische Moscheen da nicht bestehen, die müssen weg. Irgendwelche geopolitischen Implikationen von einer Zerstörung eines heiligen Ortes oder andere Themen wie «Respekt gegenüber der Religion anderer Personen», auch wenn es eben nicht die eigene Religion ist, sind irrelevant, weil ja Jesus sowieso demnächst kommt, und bis dann ist sowieso alles schlecht (sieben Jahre Trübsal), wenn man nicht entrückt wurde.

Politikwissen in Endzeitgemeinden: Die Demokratie

Denn, neben der roten Kuh, muss auch das Zeitalter der Demokratie zu Ende kommen. Die möglicherweise bekannte Statue aus dem Buch Daniel, deren Teile jeweils verschiedenen Regierungen oder «Reichen» zugeordnet wird (Löwe = Kopf = Babylon, Bär = Schultern = Persien, Leopard = Rumpf = Griechenland, „aussergewöhnlich starkes Tier“ = Beine = römisches Reich) wird als Symbol für diesen Teil der Predigt genutzt. Bei den Füssen handelt es sich nämlich um die USA, oder „die Demokratie“. Die ist darum wichtig, weil die Demokratie in den USA angefangen habe (was in erster Linie nicht stimmt, ausser wir zählen Athen nicht, oder nur das Vorhandensein einer Verfassung führt zu einer Demokratie), und dass sie darum auch in den USA enden würde. Und auf dieses Ende – der USA – warten «wir», oder zumindest «Himmlisches Jerusalem». Bei US-Amerikaner:innen erwarte ich es nicht anders, aber wenn Deutsche oder viele andere Nicht-Amerikaner:innen, wie auch Tobias Widmer einer zu sein schien, einen derartigen USA-Fokus haben, ist das für mich ein wenig anstrengend.

Die Definition von «Demokratie» laut Tobias Widmer war «Recht und Ordnung, ein Grundgesetz, eine Verfassung». Auch hier konnte ich mich nicht entscheiden, ob ich das lustig oder zum Heulen finden sollte: Mit dieser Aussage behauptet er ja, dass alle Staatsformen ausserhalb der Demokratie kein Recht und keine Ordnung hatten. Und während es seit den USA eine Verfassung gibt, und das auch nach Europa hinübergeschwappt ist, gab es die Demokratie als solches auch im antiken Athen. Während wir in den letzten Jahrzehnten so wenig Krieg wie selten gesehen haben – natürlich nach den zwei gröberen Kriegen – sehen wir, so «Himmlisches Jerusalem», heute eine «massive Gesetzlosigkeit», ein Zeichen, dass die Demokratie in den gesetzlos werdenden USA „komplett demoliert und von innen heraus zerstört“ wird.

Der Prediger wechselte nun, von Tobias Widmer, den ich aus den Videos kannte, zum amerikanischen Prediger und Tobias Widmer blieb vorne, um jeden Satz einzeln zu übersetzen. Der US-amerikanische Prediger begann zu sprechen, sofort emotional (soweit rhetorisch ganz in Ordnung, nicht überraschend für US-Amerikaner:innen). Die USA habe lange die Demokratie verteidigt, und diese Demokratie werde zerstört («dismantled!»). Als Amerikaner kenne er die Verfassung gut. Da ich aufgrund der US-Zentrierung meiner Bildung die Verfassung der USA auch ein wenig vom Geschichtsunterricht kenne, erstaunt es mich gar nicht, dass das bei einem Amerikaner, der vermutlich sein ganzes Leben lang in den USA gelebt hat, auch zutrifft. Man könnte seine Aussage aber auch als Einleitung zu einem «Appeal to Authority», ein Fall eines logischen Fehlschlusses, werten, namentlich: Da er ein Amerikaner ist und die Verfassung kennt, ist er auch eine Autorität auf dem Gebiet. Weil er auf dem Gebiet eine Autorität ist, gilt bei allem, was er sagt, dass es stimmt, weil er schliesslich eine Autorität ist. Den Fehlschluss treffen natürlich die Zuhörenden und nicht er selbst, man könnte aber sagen, er «verleitet» sie dazu. Das sei aber nur am Rande dahingestellt.

Demokratie basiert auf «das Volk regiert», wofür man Pressefreiheit braucht, aber Pressefreiheit ohne Recht und Ordnung werde «versagen». «Ohne Recht und Ordnung hast du keine sicheren Wahlen», und wenn das alles fehle, oder «vor unseren Augen zerstört [wird]», dann sei das ein Zeichen dafür, dass die Demokratie zu Ende geht. Mit dieser Einleitung hatte es mir schon «abgeschaltet», aber es wurde nur schlimmer. Der Prediger sprach über Fake News. Wenn die ganze «Mainstream Media» (die Massenmedien) die «exakt selbe Lüge» jedes Mal wiederholen, dann «wirst du die Lüge glauben» (ausser natürlich, man hat die Fähigkeit, sowas zu unterscheiden). Ja, auch das ist mir bereits bekannt. Wiederholung führt dazu, dass man Dinge glaubt. Was mich mehr überrascht, ist, dass es von der «anderen Seite» des Spektrums kommt. Ich habe es nämlich spätestens während Trumps Regierungszeit gehört, da dieser sich konstant wiederholte, wenn nicht schon vorher mit dem Beispiel des Fisches, dem das ganze Leben gesagt wird, er sei dumm, wenn er nicht klettern kann, und der es dann irgendwann glaubt, obwohl er super schwimmen könnte. Seine Ausführungen über die Massenmedien gingen weiter: Nur schon, wenn man die Titel liest, sei es das Gegenteil der Nachricht. Ja, Titelwahl kann schwierig sein, manchmal schreiben Agenturen reisserische Titel, einfach nur, damit sie die Klicks kriegen. Unsere Medienlandschaft ist eben komplex und versucht zu überleben, idealerweise mit etwas Gewinn, auch wenn man viele Ansätze kritisieren kann. Vielleicht ist eine Versammlung gründonnerstagabends nicht der produktivste Ort, aber vielleicht gehören solche Ausführungen auch einfach dazu. Aber hier hat sich nicht nur ein Mann über etwas aufgeregt, sondern er hat aufgebaut: Das Fundament, auf welchem er weiterhin arbeiten wollte, die «bösen Medien», denen man nicht vertrauen kann. Denn es gibt genau eine Lösung, wie die Demokratie überleben könnte.

Trump.

Bei seinen nächsten Aussagen wurde mir klar, welchen Hintergrund dieser Mann hatte. Er sprach über Trump. Er sprach nicht einfach über einen Präsidenten, der die letzte Wahl verloren hatte und vielleicht dieses Mal gewählt wird, oder einen Präsidenten, den er unterstützt hat und gern weiterhin unterstützen würde. Er sprach über einen Mann, den er später mit Jesus vergleichen würde, einer, über den die Medien negativ berichteten, «nur Lügen» verbreiteten. Der Hintergrund dieses Mannes ist nicht «ich unterstütze Trump», er ist nicht «ich bin rechts-konservativ». Eine Demokratie muss diese beiden Dinge aushalten, auch wenn es vielleicht nicht meiner persönlichen Meinung entspricht. Nein, dieser Prediger vertritt Verschwörungstheorien, wie die Verfälschung der letzten US-Präsidenten-Wahl, und verwendet die Wortwahl, die «in dieser Szene» verwendet wird. Dies würde später noch klarer werden.

Ein gewaltfreies Blutbad?

Ganz grossartig, natürlich ironisch, war sein Beispiel, als er sich aufregte, dass Trump über «a bloodbath», ein Blutbad, gesprochen hat. Das sei «aus dem Kontext gerissen» (natürlich, was sonst?), und Trump hätte eigentlich über die Autoindustrie geredet, nicht über Gewalt! Wenn es mir nicht schon vorher «abgestellt» hätte, dann spätestens jetzt. Gewaltverherrlichende Sprache ist gewaltverherrlichende Sprache. Wenn Jesus tausende Menschen zerstampfen soll und wir das cool finden, dann ist das gewaltverherrlichend. Wenn ein Blutbad in der Autoindustrie passieren soll, ist das auch gewaltverherrlichende Sprache, auch wenn es keine «echten» Blutlachen gibt. Wenn wir, wie in einem Lied meiner ehemaligen Gemeinde, singen «Vorwärts im Krieg, vorwärts zum Siege oder Tod», ist das gewaltverherrlichend, auch wenn niemand aus dieser Gemeinde wirklich in einen «blutigen», «realen», «physischen» Krieg gezogen wäre. Diese Wortwahl ist gewaltverherrlichend und brutal, und hat, zumindest meiner Auffassung nach, weder in der Kommunikation eines US-Präsidenten oder einer anderweitig politisch relevanten Person noch in einer Versammlung von Christ:innen etwas zu suchen.

Zensur und Kommunismus

Aber natürlich war das noch nicht alles zur Pressefreiheit. So erklärt der Prediger, andere Menschen sagten, Zensur sei «angeblich» gut, um falsche Informationen zu vermeiden. Aber für ihn seien falsche Informationen eine Art zu sagen: «Wir werden die Wahrheit vor dir verstecken“. Alles, das nicht dem Narrativ der Regierung entspräche, werde unterdrückt. Google, alles, was einen Algorithmus hat (er zählte auf: Instagram, Facebook, Youtube, …), bei alledem sei es eingebaut, dass die Wahrheit unterdrückt wird. (Dass das erst später eingebaut wurde und auch jetzt noch eingebaut wird, da das automatisierte Entdecken von Desinformation weiterhin schwierig ist, scheint hier entweder unbekannt oder nicht relevant zu sein. Ich erwähne es vollständigkeitshalber.) Aber es wurde besser: an den Unis höre man nur noch eine Sache, nämlich «Communism is the way to go», also Kommunismus ist das, was angestrebt werden sollte. «Alle» sagten das heutzutage. «Alle» Rekrutierenden bestätigten dies, wie der Prediger erklärte: Die Einstellung der neuen Generation. Denn die Erwartungshaltung dieser Generation, deren Ziel sei es, die US-Verfassung zu zerstören, die Polizei komplett zu ignorieren. Während ich alles, was ich über die aktuellen Bewegungen in den USA weiss, in meinem Kopf zusammenkratzte, um zu überlegen, wie er auf diese Aussage kam, erklärte unser Prediger uns nun das erste grosse Problem: Offene Grenzen. Namentlich Landesgrenzen.

Das grösste Problem der USA

Der Prediger regt sich nun also auf über illegale Immigranten, denn man könne nicht mehr sagen «illegale Aliens» (es klingt etwas weniger merkwürdig auf Englisch), denn das sei «zu stark, anscheinend». Diese illegalen Immigranten dürften sich ein Jahr lang in den USA aufhalten, erhielten ein kostenloses Mobiltelefon, unlimitiert, eine «gratis» Debitkarte, mit welcher sie 1000-3000 US-Dollar pro Monat ausgeben können («kostenlos»), und wer in den grossen Städten lebe, dürfe «kostenlos» in fünf-Sterne-Hotels leben. Während ich ihm, aus möglicherweise ersichtlichen Gründen, kein Wort glaubte, hatte er sich genug in Rage geredet, um jetzt, sichtlich bewusst, die «illegalen Immigranten» stattdessen als «illegal aliens» zu bezeichnen, also genau die Wortwahl, die man nicht verwenden sollte. Tobias Widmer, der Satz für Satz vorne stehend übersetzte, schaute ihn einen kurzen Moment lang überrascht an, fasste sich aber schnell und verwendete dies dann auch im Deutschen. Und diese «illegalen Aliens» kriegen angeblich kostenlose Krankenversicherungen. Bei US-Amerikaner:innen trifft dies gar nicht zu. Die katastrophale Situation mit den Krankenversicherungen, und wie wenig diese übernehmen (meistens nur Teile), ist seit langer Zeit Teil des öffentlichen Diskurses. Dass jetzt «illegale Immigranten» (die häufig vom ICE fast schon gejagt werden, und nicht immer, wenn überhaupt je, ganz menschlich behandelt) plötzlich kostenlose Krankenversicherungen erhalten sollten, und die Pflegefachkräfte Amerikaner:innen anderer Staaten mitteilen, sie sollen doch sagen, sie seien illegale Immigranten, damit sie auch kostenlos behandelt werden, wage ich jetzt mal zu bezweifeln. Auf jeden Fall sei das alles «komplett gesetzlos». Man spreche sogar darüber, ihnen das Recht zu wählen und Waffen zu tragen zu geben. Ich bin ja kein Amerikaner, aber an diesem Punkt bezweifle ich so ziemlich alles, was dieser Herr zu irgendwas sagt. Meiner Erwartung nach gehöre ich aber zu den Ausnahmen dieser bis zu 300 Personen, die ihm seine Aussagen nicht abnehmen. Er erklärte weiter, dass man das Gefängnis räumen wolle, beispielsweise indem man eine Gesetzesänderung einführe: Wer unter 950 Dollar stehle, soll nur eine Busse bekommen, kein Gefängnis. Heisst, man könnte jeden Tag für 950 Dollar «einkaufen» ohne zu bezahlen, und müsste nur eine Busse blechen. Dass in Rechtsstaaten wiederholte Straftaten tendenziell härter bestraft werden, scheint ihm auch ein fremdes Konzept zu sein. Ja, die Linksradikalen wie BLM (black lives matter) oder Antifa können nach der Ausübung von Gewalt einfach «weglaufen». Lustigerweise übersetzte der deutsche Prediger die beiden Gruppen als «die Linksradikalen». Ich fragte mich, ob er nicht wusste, wofür «BLM» stand (der Prediger hatte nur die Abkürzung gesagt). Anscheinend hätten illegale Immigranten sogar Polizist:innen verprügelt und seien freigelassen worden. Nach der BLM-Bewegung und der Thematisierung von Brutalität, welche die Polizei ausübt («police brutality») kann ich eine solche Aussage als «ziemlich sicher falsch» (oder «aus dem Kontext gerissen») bezeichnen. Ganz extrem formuliert: Wenn sie beispielsweise ins Jenseits freigelassen wurden, nachdem sie Polizist:innen verprügelt haben, stimmt seine Aussage zwar inhaltlich, aber der relevante Kontext ist eben nicht ganz da.

Eine faire Wahl und die Frage nach dem aktuellen US-Präsidenten

Bevor ich mich erholen konnte, ging es weiter mit seinen vermutlich falschen Aussagen: Man brauche keinen Personalausweis, um zu wählen, man werde so nie eine faire Wahl haben, das klang schon stark nach der Verschwörungstheorie: «Trump ist eigentlich Präsident.» Das bestätigte sich im nächsten Satz: «every charge put against president Trump», jede Anklage, die gegen ‚Präsident Trump‘ erhoben wurde, sei sowieso falsch, und «es gibt keine Beweise, dass er einen kriminellen Akt verübt hat». Wir (oder er und die anderen US-Amerikaner:innen) leben in einem Land, das gesetzestreu («lawful») sein sollte, unschuldig bis erwiesenermassen schuldig, aber heute sei es genau umgekehrt. Irgendwie hat er gleichzeitig MeToo als Bewegung verpasst und doch nicht: Er hat von der Bewegung mitbekommen, dass man nicht alle Straftaten beweisen kann, und dass es hier ein Problem gibt, über welches gesprochen wird, aber gleichzeitig hat er nicht mitbekommen, dass die Grundlage der Rechtssprechung selbst sich nicht geändert hat. Es wurde «nur» etwas thematisiert, was bisher von der Rechtssprechung nicht ausreichend diskutiert wurde. Aber es blieb nicht dabei, dass Trump eigentlich unschuldig sei (was er als Satz genau genommen nie sagte: nur, dass es keine Beweise gäbe). Nein, alles, was ihm vorgeworfen würde, seien eigentlich Straftaten, die «the guy who’s currently in the White House», also der Mann, der aktuell im Weissen Haus sei – das heisst, der aktuelle US-Präsident Joe Biden – verübt habe. Dass sie weder seinen Namen noch seine Rolle (Präsident) nannten, sondern nur, wo er sich befindet, würde alleinstehend bereits reichen für die Schlussfolgerung, dass sie die Verschwörungstheorie vertreten, dass Trump dennoch gewählt worden sei. Aber das in Kombination mit dem Rest? Ja, sogar das FBI habe geholfen, die Demokratie zu kontrollieren, alle Ebenen der Macht seien korrupt, und wenn es so weitergehe, «glaube ich gar nicht, dass wir es bis zu den Wahlen im November schaffen», und wenn die USA falle, werden alle Demokratien der Welt zusammenstürzen, wie er erklärt. Seine Ausführungen beendete er mit der Information, er hoffe, er habe uns «einen kleinen Eindruck gegeben, wie böse dies ist, wie die Demokratie vor unseren Augen zerstört wird». Tobias Widmer fügte an, dass es sich hier um ein «wichtiges Zeichen der Zeit» handle, und der US-amerikanische Prediger entfernte sich wieder vom Podium.

Die Zeichen am Himmel

Eine «Pause» von diesem sehr anstrengenden, äusserst politischen Gottesdienst offenbarte sich im Rahmen eines neuen Kapitels: Gottes Zeichen im Himmel. Ein Alternativbegriff meinerseits: christliche Astrologie. (kleine Erinnerung für die, welche es andauernd verwechseln, wie ich lange: Astronomie ist die Wissenschaft, die sich mit den eigentlichen Bewegungen und dem «messbaren» auseinandersetzt, Astrologie ist die Pseudowissenschaft, die aber auch in anderen Kulturen eingesetzt wird). Denn jedes Mal, wenn etwas Grossartiges passiert, wie beispielsweise der Auszug aus Ägypten, gibt Gott am Himmel irgendein Zeichen. Beispielsweise wird der Himmel bedeckt und die Sterne verdunkelt. Auf einer Karte der USA, die gezeigt wird, sehen wir den Verlauf einer Sonnenfinsternis des Jahres 2017, die nur über die USA ging. Auf diesem Pfad liegen sechs von sieben «Salems» (Städten mit demselben Namen, der wohl «Friede» bedeutet), und da die Sonnenfinsternis 2017 stattfand, und dies das erste Jahr von Trumps Regierung war, interpretierten sie dies als «Gott hat einen Mann eingesetzt, um Frieden in dieses Land zu bringen» (gemeint war natürlich Trump), und in diesem Jahr habe es keinen Krieg, sichere Grenzen, und viele andere Dinge, die das Land sicher machten, gegeben. Dies war eine Warnung von Gott, aber der Friede wurde in den Folgejahren vollständig vom Land weggenommen, «verdunkelt» mit den innenpolitischen «Kriegen», der «Bosheit», und dies gipfelte, so Tobias Widmer, im «grossen Wahlbetrug im Jahr 2020». Der Mann, der dort eingesetzt wurde (Biden), sei «für alles andere als für Frieden», und Gott habe uns mit der Sonnenfinsternis gewarnt und gesagt, der Friede soll kommen, aber weggenommen werden. Am 8. April 2024 gibt es wieder eine totale Sonnenfinsternis, die mit der Sonnenfinsternis von 2017 ein Kreuz bildet, und durch Mexiko, die USA und Kanada geht: Die USA wurde also mit einem Kreuz markiert und wird ausgelöscht, für Gottes Gericht markiert. Das letzte Mal, dass dies geschah, war 1807 und 1811, und nach diesem Kreuz (drei Monate später) gab es das grösste Erdbeben der Geschichte der USA. «Wir werden sehen, was der Herr diesmal tut», erklärte Tobias Widmer.

Die bösen Einwanderer und Städte der USA

Das grösste Problem, die Einwanderung, die eigentlich eine Invasion ist (anscheinend), und über einen sogenannten «Eagle Pass» kommen, welcher übrigens von der Sonnenfinsternis verdeckt sein wird. Die gewalttätigen, illegalen Einwanderer sind «finster, darum gibt es eine Finsternis». Auf der Sonnenbahn lagen übrigens auch Städte mit Namen «Jonah» (wie der Mann der Bibel, welche sich weigerte, Niniveh zu bekehren, und dann von einem Wal dorthin geliefert wurde), und «Niniveh», wobei zwei davon auf der Strecke lagen und viele weitere «ringsum». Die Frage des Predigers: «Ist das nicht erstaunlich?» würde ich beantworten mit: Wenn so viele Städte denselben Namen tragen, ist es eigentlich nicht erstaunlich, nein. Nach einer kurzen Ausführung über die Sonnenfinsternis über Niniveh, welche auf die Warnung Gottes gehört haben und sich bekehrten, und der Erklärung, dass wir nicht auf die Warnung gehört hätten, kam etwas «Positives» in diesem X der beiden Sonnenfinsternislaufbahnen: Eine Stadt namens «Rapture», «Entrückung». Neben dem Pfad habe jemand eine Arche Noah nach biblischem Mass nachgebaut. Das Gebiet, in welchem das X sich befand, heisst wohl «little egypt». Diese vielen kleinen Zufälle sollen Gottes Hand im Rahmen dieser Endzeit zeigen. Man könnte fast, wenn man viel Fantasie hat, sich vorstellen, dass die Menschen, welche die Städte benannten, einfach sehr christlich geprägt waren und entsprechende Namen verwendeten. Aber vielleicht ist das ja zu weit hergeholt.

Himmlischer Zufall oder göttliches Line-Up?

Am Tage der Sonnenfinsternis reihen sich alle sieben Planeten mit der Sonnenfinsternis. Toll war seine Erklärung zu «warum nur sieben Planeten», nämlich weil wir auf dem achten bereits sind (die Erde). An genau diesem Tag, dem 08.04.2024, komme noch ein Eindringling, ein besonderer Komet, der nur alle 71 Jahre kommt, und 100x heller als üblich ist, wegen verschiedener Explosionen. Der Komet ist noch wichtiger, da er spasseshalber «Teufelskomet» genannt wird (er sieht aus wie ein Teufel mit zwei Hörnern). Denn «der Teufel möchte immer seine Nase reinstecken und sich überall in das einmischen, was Gott tut». Dass das Auftauchen eines Kometen auch Gottes Werk sein könnte, wird nicht diskutiert. Aber wenn Gottes Gericht kommt, wird er «nicht nur die Erde richten, nein, der ganze Himmel wird erschüttert werden». Da der Himmel bereits in guter Lage sein wird, wie’s scheint, hoffe ich, die Erde wird nicht zu stark erschüttert. Denn Tobias Widmer endete mit: «Die Zeit ist wirklich nahe», «wir wissen nicht», aber «wir werden sehen, was in den nächsten Wochen, Monaten geschieht». «Die Zeit ist wirklich nahe», so endete er seine Predigt, und ich mache mir etwas Sorgen, um die Leute, die vermutlich enttäuscht werden wie so unendlich viele vor ihnen.

Publikumsfrage nach den USA und Abschluss

Nachdem die Predigt geendet hatte, beteten einige Personen, und jemand fragte nach, warum alle Demokratien zusammenfallen, wenn die Demokratie in den USA zusammenfällt. Ein Mann, der bisher nicht gesprochen hat, ein älterer US-Amerikaner ebenfalls asiatischen Aussehens, beantwortet diese Frage auf Deutsch (meine Einschätzung: enorm beeindruckend vom Sprachlevel her). Nach einer langen Ausführung, die für mich nichts mit der Frage zu tun hatte, einem Jesus = Trump-Vergleich (beide wollen die Welt, die Menschheit retten, und werden bzw. wurden gehasst, obwohl sie nichts getan haben), wurde die Sache klar: Trump hätte den Globalismus stoppen sollen, und wenn die USA fällt, dann fallen alle Nationen; nicht weil die USA so wichtig war, sondern weil Gott das Land eingesetzt hat, um Frieden zu halten (was gewissermassen schon darauf hinausläuft, dass die USA wichtig war/ist). Er betonte, dass der Stein den Fuss trifft, nicht den Kopf, weil dann alles einstürzt. Dass «Himmlisches Jerusalem» kreationistisch tendiert, also an die Schöpfung nur durch Gott glaubt, wurde auch angehaucht. Der ältere Herr meinte, die ganze Schöpfung hört auf Gott, ausser die Menschen. Grossartig fand ich folgendes Zitat: «Die Menschen kommen von Affen? Wenn ich ein Affe bin, bin ich beleidigt!» Es entspricht zwar weder der Evolutionstheorie noch stelle ich mir vor, dass Tiere in diesem Sinne auf Gott hören (wenn überhaupt), aber ein paar Witze nach dieser Predigt sind besser als keine Witze.

Zum Schluss wurde noch gesungen. Diesmal wurde zwar der Liedtext angezeigt, aber dafür klappte die Tonübertragung nicht mehr. Der Text handelte vom «Bräutigam» (Jesus), der die «Braut» (Gemeinde) holen soll (=entrücken). Die Versammlung wurde offiziell beendet mit den Worten. «Morgen früh selber Ort um 10, lobe den Herrn. Maranatha!», was wohl so viel heisst wie «[Unser] Herr, komm», also quasi «Jesus, komm zu uns!».

Das «Auslaufen»: Interaktionen der Gemeindemitglieder untereinander

Da die Kamera auf den Versammlungsort wieder freigeschaltet war, zählte ich kurz durch. Es waren etwas über 120 Personen. Ein Baby wurde durch den Raum getragen und begann später zu schreien – nicht überraschend, donnerstagabends um 10. Personen umarmten sich – meiner Meinung als ehemalige «sehr konservativ denkende Freikirchlerin» nach – zu intensiv, wenn auch nicht alle, dann doch mehr als erwartet. Im Zoomcall entsteht ein Gespräch zwischen einem älteren Pärchen und einem Spanier. Das Pärchen ist wohl nach Malaga umgezogen. Anfangs fragte ich mich, ob sie fürs Evangelisieren dorthin gezogen sind. Jetzt frage ich mich, ob sie mit der Endzeiterwartung «Geniessen wir das Leben noch, solange wir noch auf der Erde sind» nach Malaga umgezogen sind, natürlich mit der Restriktion, so viel wie möglich im Glauben zu wachsen. Ein anderes Pärchen sei auch dorthin gezogen. Im Versammlungssaal läuft ein rund 10- oder 12-jähriges Kind zu Tobias Widmer, während es mit einem Tennisball spielt. Tobias spielt kurz mit ihm, lacht fröhlich, das Kind scheint froh, und haut den Tennisball so fest auf den Boden, dass ich Angst habe, der Ball macht beim Hochfliegen die Kamera versehentlich kaputt. Der Ball landet, ohne Schaden verursacht zu haben, und das Kind verschwindet wieder. Ein Zoomteilnehmer verabschiedet sich aus der Konservation mit «Amen halleluja! Lobe den Herrn. Bis morgen. Amen!» Während «Amen» ja durchaus «so sei es» bedeutet, ist es für mich sehr bizarr, das in einer Verabschiedung unter Bekannten oder Freund:innen zu verwenden.

Zwei andere Gemeindemitglieder begannen eine Konservation. F. erzählt, er hat eine kleine Zusammenstellung gemacht, und stellt B. einige Verständnisfragen. Er fragte beispielsweise nach, ob der Teufelskomet, der hundert Mal heller wäre, hundert Mal heller als normal oder hundert Mal heller im Vergleich zu den Planeten sei. Der Grund, warum Gott die Füsse der Statue (also die USA) kaputt macht, war, wie sie diskutierten, weil der Kopf ja schon in der Vergangenheit liegt. Die beiden diskutierten noch eine Weile länger, und es war klar, dass sie erwarteten, bereits in den sieben Jahren Trübsal zu sein. Heisst: Die Mitte der «Woche», dieser sieben Jahre, wenn die Entrückung stattfindet und der Antichrist auftaucht, könnte schon «sehr sehr bald» sein. Aber vorbei kann die Mitte der «Woche» noch nicht sein, heisst also, es kann nicht bereits 2020 angefangen haben. Einer empfahl dem anderen noch einen YouTube-Kanal, wobei ihre Diskussion dazu, wie dieser aufgefunden werden könnte, etwas länger dauerte als wenn ich mich mit Freund:innen austauschen würde. Dass das @ eine Kennzeichnung ist, auf welche ein Benutzername folgt, schienen sie nicht zu wissen. Entsprechend muss ich davon ausgehen, dass sie eher ältere Menschen oder technisch weniger talentierte Menschen sind (was sich ja nicht gegenseitig bedingt). Ich fand’s sehr süss, traute mich aber nicht, ihr Gespräch zu unterbrechen. Im Chat konnte man es auch nicht schreiben, da nur die Option, den Versammlungsleitenden (also «dem Host») zu schreiben, bestand.

Ein besorgtes Fazit

Als Fazit muss ich schliessen: Diese Gemeinde vertritt nicht nur seit bald 10 Jahren, d.h. seit ihrer Entstehung 2015, die Auffassung, dass Jesus bald kommt, sondern gehen davon aus, dass es weniger als sieben Jahre dauert. Es wirkt auf mich, als würden sie regelmässig auszurechnen versuchen – auch wenn sie das natürlich nicht sagen – wann die Entrückung stattfindet. Auf ihrer App «Berg Zion» gibt es auch einen «Countdown», den man einstellen kann: Man gibt einfach den Tag ein, wo man denkt, dass die «letzte Woche» (also die sieben Jahre Trübsal) begonnen haben, und dann läuft der Countdown. Es scheint zwar nicht so schlimm zu sein, dass sie gar keine Kinder mehr produzieren (es gab ja immerhin ein Baby), aber ältere Pärchen, die nach Malaga umziehen, möglicherweise weil es sich nicht lohnt, noch zu sparen, das Vertreten von Verschwörungstheorien, die gewaltverherrlichende Sprache, vor allem auch in ihren Videos, eine Erwartung, dass es jederzeit, und zwar innerhalb der nächsten 7 Jahre, zu Ende geht, die Internationalität, die eine gewisse Unvorhersehbarkeit impliziert; dies alles gibt mir zu bedenken. Ich weiss nicht, wie gross sie sind, abgesehen von diesen knapp 300 Personen, aber schon diese Gruppe bereitet mir Sorgen. Was wird passieren, wenn nichts passiert? Werden Personen enttäuscht in einen alten Trott zurückfallen? Werden sie nach mehr suchen? Das hängt vermutlich auch davon ab, wie viel sie verloren haben. Ich mache mir Sorgen um die Zukunft der einzelnen Mitglieder.

Angela Heldstab, 02.04.2024

Lexikoneintrag Himmlisches Jerusalem