Alevitentum

Die Entstehung des Alevitentum fand während einer längeren Zeitspanne statt, in der sich in einem komplexen politischen und religiösen Umfeld Anatoliens eine religiöse Weltsicht entwickelt hat. Der Begriff «Alevitentum» entspricht einem modernen Überbegriff für ursprünglich distinkte tribale Abstammungsgemeinschaften, die sowohl Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede aufwiesen. Der Begriff «Alevit» oder «Alevitin» ist eine Fremdbezeichnung, welche sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Begriff für die Vielfalt an religiösen Praxen in ostanatolischen Regionen durchsetzte. Viele Aleviten und Alevitinnen distanzieren sich jedoch von der Begrifflichkeit. Die Nähe und die Abgrenzung zur in Anatolien vorherrschenden sunnitisch-islamischer Glaubenstradition prägt die Glaubensgemeinschaft bis heute. Das Alevitentum ist der vorislamischer Kultur von Anatolien weitgehend verbunden.

Das Alevitentum ist in einem über Jahrhunderte andauernden Prozess entstanden, was sich heute in einer sehr heterogenen Glaubensgemeinschaft zeigt. Die Religion formte sich zwischen dem 10. und 16. Jahrhundert in Anatolien.  Ab dem 13. Jahrhundert bildeten sich Personen mit undogmatischen und synkretistischen Lehren zu religiös-geleiteten Herrschaftspositionen heraus, welche den jeweiligen Herrschaften grosse Probleme bereiteten. Ihre zentralen Aspekte standen in Opposition mit der Weltsicht der herrschenden Dynastien. Dazu gehörten eine chiliastische Erwartungshaltung, also die Hoffnung auf ein Friedensreich auf Erden, ein esoterisches Religionsverständnis und eine Charisma-Loyalität. Hadschi Bektasch zählt zu den wichtigen Figuren des 13. Jahrhunderts. Er war ein Mystiker und formte das Alevitentum aus. Zu seinen Lehren gehörten die Gleichheit der Geschlechter, wie auch der Vorrang der Vernunft gegenüber der Dogma.
Die anatolischen Kizilbasch des 16. Jahrhundert werden zu den eigentlichen Vorläufern des heutigen Alevitentums gezählt. 1501 wurde deren Anführer Ismail I. zum Herrscher von Persien, was zu Kämpfen zwischen den Safawiden, deren Begründer er war, und den Osmanen führte. Ismail wurde schliesslich besiegt und die Kizilbaschs mussten sich, um der Verfolgung zu entkommen, in die Berggebiete Anatoliens zurückziehen, wo sie ihren Glauben im Verborgenen praktizierten.

In den 1950er Jahren setzte in der Türkei unter der Glaubensgemeinschaft des Alevitentums die Binnenmigration in grössere Städte ein. Für die ländliche alevitische Bevölkerung brachte dies grosse Veränderungen mit. Als Konsequenz gingen religiöse Praktiken und andere Traditionen verloren. Die alevitische Religiosität verlagerte sich hauptsächlich auf die Ebene der Volksreligion in Form von Wallfahrten, Heiligen- und Gräberkulte. In den 1960er Jahren wuchs als Folge davon eine Generation der Gläubigen an, welche die Einführung in die Geheimlehre nicht mehr so erlebte, wie frühere Generationen. In dieser Phase setzte auch ein Säkularisierungsprozess unter den jüngeren Mitgliedern ein. In Hochschulen kamen sie mit links-revolutionären Ideologien in Berührung. Als Folge gab es eine Uminterpretaion des Alevitentums als Verfechter der osmanische Zentralmacht und als Kämpfer gegen Unterdrückung und Ausbeutung. In den 1970er Jahren wurden Aleviten und Alevitinnen stereotypisch mit dem linksrevolutionären Block gleichgesetzt, während der politische Islam mit dem rechten Flügel gleichgesetzt wurde.
Am 12. September 1980 griff die Armee mit einem Putsch ins Geschehen ein. Danach wurden die alevitischen linkrevolutionären Aktivisten und Aktivistinnen massiven staatlichen Repressionen ausgesetzt. Worauf viele versuchten nach Europa zu fliehen. Dort setzten sie ihre Oppositionspolitik gegen den türkischen Staat fort. Doch Ende der 80er Jahre wurden neue Wege eingeleitet. So fanden die Mitglieder des Alevitentums in der Diaspora wieder in religiöse Identitätsmuster. Die alevitische Wiederbelebung  wurde auch durch kurdische Einflüsse möglich und heute setzen sich alevitische Vereine sowohl in Europa wie auch in der Türkei für die offizielle Anerkennung des Alevitentums als eigenständige, vom Islam unabhängige, Religionsgemeinschaft ein. (Suter Reich, Virginia. 2012. «Bericht zur alevitischen Bevölkerung im Kanton Zürich», forum-der-religionen.ch)

Während vieler Jahrhunderte waren die Gläubigen des Alevitentums Ächtung, Verfolgung, Massakern und einer Assimilationspolitik ausgesetzt. Dies ist teilweise auch heute nicht anders. Im Alevtitentum werden alle Religionen und Glaubensrichtungen toleriert und keine diskriminierenden Unterschiede gemacht. In der Türkei wird das Alevitentum bis heute nicht als eine eigenständige Religion anerkannt.

Die in der Schweiz lebenden Mitglieder des Alevitentums deuten ihre religiöse Zugehörigkeit unterschiedlich. Einige verstehen sich als Teil einer eigenständigen Religion, während andere das Alevitentum dem Islam zuordnen. Andere Quellen jedoch behaupten, dass alle alevitische Verbandsvertreter in Europa seit den 1990er Jahren fordern, dass ihr Glaube als eigene Religion anerkannt wird.

Auf der Webseite des alevitischen Verbundes Schweiz steht: «Das Alevitentum bietet eine umfassende Sicht der Welt, die Entstehung des Universums, die Vergangenheit der Menschheit, die Vervollkommnung der Menschen, die Beziehungen zwischen dem Göttlichen und Menschen sowie zwischen Menschen und Natur und die Zukunftsvisionen behandelt und die dazu gehörige Fragen beantwortet.»

Die meisten der in der Schweiz lebenden Mitglieder des Alevitentums sind ursprünglich aus der Türkei in die Schweiz migriert. Die erste Phase dieser Migration begann mit einer türkischen Bildungselite Ende des 18. Jahrhunderts bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Die zweite grössere und wichtigere Phase begann mit der Arbeitsmigration aus der Türkei in die Schweiz in den 1960er Jahren und dauerte bis in die 70er. Zu dieser Zeit wurden von Seiten der schweizerischen Privatwirtschaft türkische Arbeitsmigranten angeworben. Die dritte Phase war hauptsächlich durch die Fluchtmigration geprägt. Die politischen Unruhen in der Türkei, der Militärputsch von 1980 und die anhaltenden Kriege in den kurdisch besiedelten Provinzen verursachten eine grosse Fluchtwelle nach Europa. Es gibt keine genauen statistischen Angaben zu Aleviten und Alevitinnen in der Schweiz, da sie ohne besonderen Umgang in die Schweiz migriert sind, das heisst, sie wurden wie andere Personen aus der Türkei behandelt und nicht speziell als Mitglieder der Glaubensgemeinschaft des Alevitentums erfasst. Anzunehmen sind zwischen 35‘000 – 50‘000 in der Schweiz lebende Gläubige des Alevitentums. Auch eine Radiosendung von DRS aus dem Jahre 2010 schätzte die Anzahl der Gläubigen in der Schweiz auf ungefähr 40‘000.

Das Alevitentum ist eine eher mündliche Religion. Die allgemeinen Glaubensinhalte verorten sich in der kurdisch-geprägten Richtung der «Raya/Riya Heq», was «Weg der Wahrheit» heisst. In dieser Auffassung ist die Wahrheit nicht absolut, sondern die Gläubigen begeben sich in diesem Verständnis auf den «mystischen Weg» nach der Suche der Wahrheit. Was einem auf der Suche begegnet, kann von Mensch zu Mensch unterschiedlich aufgefasst werden und sich auch ändern. Eine Gottheit im monotheistischen Sinne existiert nicht unbedingt. Gläubige des Alevitentums sehen den ganzen Kosmos als eine Einheit. Gott entwickelt sich in mehreren Stufen. Die sichtbare Gestalt Gottes ist die Natur und damit auch der Mensch. Jeder Mensch ist eine Manifestation Gottes, auch der «Gottlose»; allerdings sind diese missglückte Experimente Gottes. Jede und jeder muss selbst zur Erkenntnis von Gott und Natur kommen. Jeder und jedem  wird das freie Selbstbestimmungsrecht zugestanden.  Jede und jeder kann beliebige Rituale pflegen oder darf sogar Atheist sein, sofern die eigenen Ansichten nicht anderen aufgezwungen werden. Die sozialen Normen wie das Verbot des Tötens, des Diebstahls, der Verleumdung und des Ehebruchs gelten für Alevitinnen und Aleviten gegenüber allen Menschen. Die Frage nach dem Tod und den Jenseitsvorstellungen ist im Alevitentum nebensächlich. Das Verhältnis zum Mitmenschen ist wichtig.

Die Gebete im Alevitentum sind auf Türkisch. Sie achten beim Gebet auf eine bestimmte Fussstellung und legen ihre Hand aufs Herz. Oft zünden sie dabei eine Kerze an. Das Symbol des Lichts hat sowieso eine wichtige Bedeutung im Alevitentum. Gemäss alevitischer Lehre kommen alle aus dem Licht und gehen zu ihm zurück. Gleichzeitig symbolisiert es auch die Erkenntnis.

Im Alevitentum hat die Zahl 12 eine wichtige Bedeutung: Die Gläubigen fasten beispielsweise während 12 Tagen im Jahr und es heisst, wer das Fasten während 12 darauffolgenden Jahren einhaltet, erreicht eine höhere Glaubensstufe. Des Weiteren soll es 12 Dichter geben, welche mit ihren Lehren das Alevitentum begründet haben.

Ali, Cousin und Schwiegersohn vom muslimischen Propheten Mohammed, gehört zu den zentralen Figuren des Alevitentums. Der alevitische Ali hat Eigenschaften, welche sich gut in die alevitische Erzählung des Leidens und der Unterdrückung einreihen lassen. Diese spezifische alevitische Darstellung Alis strapaziert die Verbindung Alis zur muslimischen Geschichte. Im Alevitentum wird neben der eigenen Darstellung Alis und auch Mohammeds auch auf nicht-muslimische Quellen des Alevitentums zurückgegriffen, wie etwa auf Schamanismus, auf die Lehren Zarathustras, auf das frühe Christentum oder auch auf humanistische Lehren. Es werden gerne Parallelen auch zu christlich-mystischen Glaubensverhältnissen, wie auch zu buddhistischen und hinduistischen Meditationsformen gesehen. Des Weiteren gibt es unter dem Alevitentum eine starke Naturbezogenheit. Nicht nur der Kosmos als Einheit, sondern auch die vier Elemente erhalten eine besondere Bedeutung.

In der Schweiz werden Aleviten und Alevitinnen mal zum Islam gezählt mal als eigenständige Religion gesehen. Auch sie selbst sehen und bezeichnen sich in diesem Spektrum. Wie bei allen Religionen zeigt sich auch hier eine Heterogenität innerhalb einer Religion ab. Der schweizerisch-alevitische Dachverband betont jedoch ganz klar, eine eigenständige Religion zu sein und kein Zweig des Islams. Es geht um ein eigenes Selbstverständnis und Selbstbeschreibung der Mitglieder, das im Vordergrund steht.

Mezhep, «Rechtsschule» oder «konfessionelle Gruppierung», steht für ein Alevitentum als spezifische Auslegung oder Richtung innerhalb des Islams. Die Gläubigen welche sich mit diesem Begriff identifizieren, möchten sich dafür aussprechen, dass das Alevitentum analog zum sunnitischen Islam in der Türkei verwaltet und kontrolliert wird. Zugleich wird versucht einen religiösen Text zu etablieren.

Das Alevitentum als islamisch definieren auch jene, welche das Alevitentum als den wahren Islam verstehen. Sie berufen sich auf den «Ur-Koran», welcher vom Imam Ali memoriert und niedergeschrieben und dann von Mohammed selbst autorisiert wurde, und dann aber auf Veranlassung der ersten drei Kalife vernichtet wurde. Diese Argumentation besagt, dass diese Mitglieder des Alevitentums der ursprünglichen Botschaft Mohammeds treu geblieben seien.

İnanç, «Glaube», steht für jene Gläubigen, die betonen wollen, dass das Alevitentum nicht als eine Religion im engeren Sinne zu verstehen sei. So nehmen sie nicht nur Distanz zum Islam, sondern auch zum Begriff «Religion», weil sie diesen mit strenger Regelhaftigkeit gleichsetzen und mit dem sunnitischen Islam identifizieren. Sie verstehen das Alevitentum als offene Geisthaltung, welche alle Lebensbereiche durchdringt. Es ist Glaube, Humanismus, Philosophie und Kultur zugleich.

Unabhängig von diesen unterschiedlichen alevitischen Interpretation herrscht relativ grosse Einigkeit über die Unterschiede des Alevitetnums mit dem Sunnismus . Sie grenzen sich vom sunnitischen Islam ab, indem sie diesen als eine Religion identifizieren, die sich durch starre Regelhaftigkeit auszeichne. Aleviten und Alevitinnen sehen sich als über diesen «äusserlichen» Regeln stehend und heben hervor, dass sie sowohl die Scharia, wie auch die fünf Pfeiler des Islams ablehnen. Sie besuchen keine Moschee, machen keine Pilgerreise nach Mekka, kennen kein obligatorisches Fasten usw.

Obwohl der Koran gelesen wird, erhält er nicht dieselbe Wichtigkeit wie bei den Muslimen. Sie berufen sich vielmehr auf mündliche Überlieferungen von charismatischen Leitfiguren wie Hadschi Bektasch. Der Buyruk (Gebot) gilt jedoch als zentrale schriftliche Quelle für das Alevitentum. Sie beinhaltet Glaubensvorstellungen, Prinzipien, Beschreibung von Bräuchen und Zeremonien und Erzählungen. Es sei im 16. Jahrhundert entstanden sein.

Als zentraler Versammlungsort der Aleviten und Alevitinnen dient der Dergâh. Er ist sowohl Sakralraum fürs Gebet, wie auch Treffpunkt für andere Aktivitäten des Vereins. In der Dergâh findet auch der Cem statt. Es ist das zentrale religiöse Ritual im Alevitentum. Der Cem (Kreis, Ring) ist eine religiöse und soziale Versammlung, die mindestens einmal jährlich abgehalten wird und wahrscheinlich auf uralte Formen zurückgeht. Ein Cem besteht aus verschiedenen Teilen und deckt wichtige Aspekte des religiösen und sozialen Lebens ab: Gericht und Versöhnung, Belehrung und Spiritualität. Ansprachen und Unterweisungen von Dedes (spirituellen Leitern) und von Laien, Gebete und Segnungen folgen sich in einem mehrere Stunden dauernden Ablauf.

Rituale der Musik und des Tanzes sind im Alevitentum zentral. Semah, der kultische Tanz zu den Klängen der Saz (traditionelles Instrument, das an eine Laute erinnert und in der Türkei und in den umliegenden Ländern weit verbreitet ist) gehört als ein weiterer wichtiger Faktor dazu. Jede Person bringt nach Möglichkeit etwas Essbares mit. Das gestiftete Essen wird am Schluss der Zusammenkunft an alle Anwesenden verteilt. Die beim Cem eingesetzte Saz ist ein Bestandteil der Kultur und wird von vielen Menschen gespielt. Alevitentum ohne Saz ist praktisch undenkbar. Deshalb werden möglichst viele Gläubige zum Spiel dieses Instruments angeleitet.

Geschätzt zwischen 35‘000 und 50‘000 Alevitinnen und Aleviten in der Schweiz.

Das Alevitentum ist vor allem in Türkei und im Balkan verbreitet. Hat jedoch auch eine grosse Diaspora im restlichen Europa.

In der Region Basel leben ca. 8‘000 – 10‘000 Mitglieder des Alevitentums. 1997 entstand aus einer Abspaltung der Kulturvereinigung der Aleviten und Bektaschi ein Verein namens «Basek ve çevresi çagdas aleviler dernegi / Verein der zeitgenössischen Aleviten». Dieser neue Verein schloss sich 1997 und 2005 mit je einer weiteren Gemeinschaft zusammen und trägt heute den Namen «Alevitisches Kulturzentrum Regio Basel». Seine Mitglieder verstehen das Alevitentum als eine eigene Religion und fühlen sich nicht dem Islam zugehörig. 2012 erhielt die alevitische Gemeinschaft die kantonale Anerkennung in Basel-Stadt.

Im Kanton Basel-Stadt gibt es vier öffentlich-rechtlich anerkannte Religionsgemeinschaften.  Das sind die evangelisch-reformierte Kirche, die römisch-katholische Kirche, die christkatholische Kirche und die israelitische Gemeinde. Seit der neuen Kantonsverfassung des Jahres 2005 können zusätzlich privatrechtlich organisierte Gemeinschaften anerkannt werden. Diese kantonale Anerkennung hat seit dem 17. Oktober 2012 nun auch die alevitische Gemeinde in Basel. Der Entscheid, der eine absolute Mehrheit erfordert, wurde mit 68 zu 13 Stimmen angenommen.

Föderation Alevitischer Gemeinden in der Schweiz
Aumattstr. 7
5210 Windisch
https://alevi.swiss/

Alevitsches Kulturzentrum Aargau
Aumattstrasse 7
5210 Windisch
www.aargau-alevi.ch

Alevitisches Kulturzentrum Regio Basel
Elsässerstrasse 209
4056 Basel
http://www.akmb.ch/

Alevitisches Kulturzentrum Ostschweiz
Schachenstrasse 9
9016 St. Gallen
http://www.diakm.ch

Alevitisches Kulturzentrum Fribourg
Rue du la Carriere 3a
1700 Fribourg

Centre Culturel des Alevis Anatolien de Jura
rue Pré Guillaume 15
2800 Delémont

Alevitisches Kulturzentrum Solothurn
Emmenhofstrasse 4B
4552 Derendingen

Anatolisch Alevitisches Kulturzentrum in Zürich
Zürcherstrasse 110
8102 Oberengstringen

Alevi-Bektaschi Kulturzentrum Winterthur
In der Euelwies 22
8408 Winterthur

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