Soka Gakkai – Wahrer Buddhismus oder Prominenten-Instant-Spiritualität?

Georg O. Schmid, 2013

In den letzten zwei Jahrzehnten wurde die Schweiz von einer eigentlichen Buddhismus-Welle erfasst: Tibetische Gebetsfähnchen flattern auf Balkons von Genossenschaftswohnungen ebenso wie an Ferienchalets und auf Bergspitzen, Buddhistische Publikationen überschwemmen den Buchmarkt und buddhistische Lehrer erfreuen sich hoher Plausibilität und medialer Beachtung. Von dieser Trendiness des Buddhismus profitieren auch buddhistische Gemeinschaften. Viele konnten in den letzten Jahren kontinuierliches Wachstum verzeichnen, wobei auch solche Gruppen von der allgemeinen Beliebtheit des Buddhismus profitierten, welche mit den landläufigen Vorstellungen dessen, was Buddhismus ausmacht, wenig gemein haben.

Ein solches Beispiel ist die japanische Organisation Soka Gakkai. Sie konnte eben den 1000. Anhänger in der Schweiz feiern und zählt rund 100 lokale Gruppen, obwohl sie von den Merkmalen, welche üblicherweise als Stärken des Buddhismus genannt werden, kaum eines teilt. Während der Buddhismus in unserer Gesellschaft oft eher als Philosophie denn als Religion wahrgenommen wird, versteht sich Soka Gakkai explizit als Glaube, als Religion und als rituelle Praxis. Wo westliche Buddhisten gern davon sprechen, dass Buddhismus Selbstfindung bedeute, lehrt Soka Gakkai Verehrung und Hingabe. Und wenn Westler den Buddhismus – allerdings recht unhistorisch – als nicht missionarisch darstellen, kann dem Soka Gakkai nur heftigst widersprechen: für den wahren Buddhismus zu werben, ist der beste Dienst, der den Mitmenschen und der ganzen Welt geleistet werden kann. Doch die Differenzen zwischen herkömmlichem Buddhismus und Soka Gakkai sind noch viel grundlegender: Wo landläufiges Verständnis mit dem Buddha des Buddhismus Siddharta Gautama meint, bezieht sich Soka Gakkai auf den japanischen Mönch Nichiren als «wahren Buddha.» Und der Ausstieg aus dem Rad der Wiedergeburt, der üblicherweise als Ziel buddhistischer Weltanschauung gesehen wird, ist für Soka Gakkai weder erstrebenswert noch möglich, vielmehr geht es darum, im ewigen Kreislauf des Lebens möglichst viel Glück zu erfahren. Wie kommt es aber, dass Soka Gakkai von einer Welle profitiert, mit welcher sie abgesehen vom Namen nicht viel gemein hat?

Unlängst hatten wir Gelegenheit, an einer Versammlung einer lokalen Soka-Gakkai-Gruppe in Zürich teilzunehmen. Eingeladen wurden wir von der Cousine meiner Frau, welche seit ein paar Jahren Soka Gakkai praktiziert. Die Gruppe trifft sich in einer Wohnung im Zürcher Stadtkreis 3. Die Ankommenden werden an einer Altbauküche mit recht investitionsbedürftiger Installation vorbei in ein Zimmer geführt, dass nach Ausweis der dort untergebrachten Haushalts- und Sportgeräte nebst der Praxis von Soka Gakkai auch Aufbewahrungs- und Hausarbeitszwecken dient. Jetzt sind ein Sofa und verschiedene Stühle ganz unterschiedlichen Baujahrs in einem Halbkreis aufgestellt, in dessen Mittelpunkt sich das Zentrum der Praxis der Soka Gakkai befindet: Der Gohonzon, eine gut DIN A4 grosse hängende Papierrolle, die mit traditionell von oben nach unten laufenden chinesischen Zeichen unterschiedlicher Grösse und schwungvoller Ausführung bedeckt ist. Die Papierrolle hängt in einem Kästchen, das innen mit Goldfarbe angemalt und mit zwei Türchen versehen ist, so dass der Gohonzon bei Nichtgebrauch verdeckt werden kann. Das Kästchen steht auf einem kleinen Möbel, das weitere Hinweise auf die Bedeutung des Gohonzons für Soka-Gakkai-Praktizierende trägt. Vor dem Kästchen mit dem Gohonzon stehen eine Kerze und ein Ständer für Räucherstäbchen. Eine Zimmerpflanze und Früchte als Symbole des Lebens stehen daneben. Beachtenswert ist ferner, was fehlt. Obwohl der Raum mindestens teilzeitlich für buddhistische Praxis zweckbestimmt ist, findet sich keinerlei Buddhastatue. Was heutzutage in Gartenzentren, Einrichtungsläden, manchen Restaurants und vielen Privatwohnungen geradezu zum Standard-Inventar gehört, Buddhastatuen in allen möglichen Formen und Materialien, sucht man bei den aktiven Buddhisten von Soka Gakkai vergebens. Soka Gakkai bezieht sich, wie eingangs erwähnt, nicht auf den Gründer des Buddhismus, Siddharta Gautama, sondern auf einen Reformer des japanischen Buddhismus im 13. Jahrhundert, den Mönch Zennichimaro, der sich den Namen Nichiren («Sonnenlotus») gab und sich als den wahren Buddha verstand, welcher dem Buddhismus seine für unsere Zeit angemessene Form gab. Nichiren hat, so sieht es Soka Gakkai, das von Siddharta Gautama begonnene Offenbarungswerk vollendet. Nichiren war es auch, der die Vorlage für den Gohonzon kreiert hat. Auf Nichiren geht auch die Liturgie zurück, die nun folgt.

Nach und nach setzen sich die Anwesenden auf Sofa und Stühle. Eine der beiden Leiterinnen der Gruppe nimmt auf einem Stuhl Platz, der sich zwischen Halbkreis und Gohonzon befindet. Sie wird, wie sich bald zeigt, quasi als Vorbeterin amten. Alle Anwesenden, auch die Vorbeterin, richten ihren Blick zum Gohonzon. Vom Parterre her sind Fetzen von Barmusik zu hören, die allerdings alsbald übertönt werden. Sogleich wird klar, warum Soka-Gakkai-Gruppentreffen in Altbauwohnungen über Restaurants ideal untergebracht sind: Eine gegenüber akustischen Immisionen abgehärtete Nachbarschaft ist optimal. Denn die spirituelle Hauptpraxis der Soka Gakkai ist das Chanten (der Begriff «Chanten» wird bei Soka Gakkai nach britischem Brauch mit «a» ausgesprochen, im Gegensatz zu den Hare Krishnas, welche nach amerikanischer Art «Chänten» sagen). Das Chanten stellt bei Soka Gakkai, genau wie bei den Hare Krishnas, eine Mantra-Meditation dar. Allerdings beinhaltet das Mantra von Soka Gakkai, im Gegensatz zum Mahamantra der Hare Krishnas und zu den meinsten hinduistischen Mantren, keine Anrufung einer Gottheit, sondern es ist der Titel des für den japanischen Buddhismus wichtigsten buddhistischen Texts, des Lotus-Sutras. Dieses heisst im Sanskrit Saddharmapundarika Sutra, «Lehrtext vom der Lotusblüte des Wahren Gesetzes», was auf japanisch Myoho (wahres Gesetz) Renge (Lotusblüte) Kyo (Lehrtext) ergibt. Diesem Titel wird die Verehrungssilbe «Nam» vorangestellt, woraus sich das Mantra «Nam-Myoho-Renge-Kyo» bildet.

«Nam-Myoho-Renge-Kyo» wird nun von allen Anwesenden gesungen, monoton und ohne jede Melodie, aber durch verschiedene Teilnehmer auf unterschiedlichen Tonhöhen, wodurch sich der typische sonore japanische Mantraklang ergibt. Die Praktizierenden halten eine Gebetskette in ihren Händen, die wie in Asien üblich 108 Perlen umfasst. Allerdings dient diese Kette, im Gegensatz etwa zu den Hare Krishnas, nicht zum Abzählen der Mantren und damit zur Bestimmung der Gebetsdauer. Diese wird vielmehr von der Vorbeterin gewährleistet – durch regelmässigen Blick auf ihr iPhone, welches sie vor das Kästchen mit dem Gohonzon gelegt hat. Die Gebetsketten werden aber von manchen Anwesenden gelegentlich zwischen den Handflächen gerieben, wodurch ein rasselndes Geräusch entsteht. Später erklärt man uns, dass das Reiben der Gebetsketten der Rückgewinnung der Konzentration diene, wenn diese abschweife. Die Zentrale der Soka Gakkai in Japan würde das Kettenrasseln allerdings nicht gerne sehen. Die Betrachtung des Gohonzon allein sollte, so wird dort erklärt, zur Aufrechterhaltung der Konzentration ausreichen. Fast meinen die Anwesenden, sich uns gegenüber für diese von der Leitung verfemte Praxis entschuldigen zu müssen. Für den Religionsexperten ist jedoch der Fortbestand solcher «Unsitten» immer ein eher beruhigendes Zeichen. In rigiden autoritär-hierarchischen Organisationen wäre der unliebsame Brauch längst abgestellt.

Nach einer halben Stunde des Chantens von «Nam-Myoho-Renge-Kyo» und gelegentlichen Rasselns einzelner Gebetsketten schlägt die Vorbeterin eine kleine Klangschale, die als Gong dient. Es folgt der Gongyo, die Rezitation von zwei Kapiteln das Lotos-Sutras, des zweiten und des sechzehnten, in altchinesischer Sprache mit altjapanischer Aussprache. Schnell zeigt sich, wer schon länger praktiziert: die alten Hasen können den Text längst auswendig, wogegen Anfänger ein Büchlein verwenden. Auch Gäste werden mit einem solchen versehen, das Rezitationstempo ist allerdings so hoch, dass es Uneingeweihten nicht gelingt, dem Text zu folgen. Wer den Text der beiden Kapitel, die nach Nichiren die Essenz des ganzen Sutras enthalten sollen, in einer deutschen Übersetzung, etwa von Margareta von Borsig im Herder-Verlag, nachschlägt, findet dort hervorgehoben den Gedanken der Ewigkeit der Buddhaschaft. Erleuchtung ist kein historisch einmaliges Ereignis, das dann zum Erlöschen im Nirvana führt, sondern vielmehr ein potenziell ewiger Zustand. Hieran schliesst die Auffassung von Soka Gakkai an: Buddhaschaft ist kein Erlöschen im Nirvana, und auch kein Leben in einem paradiesischen «reinen Land» jenseits der irdischen Realität, wie es andere buddhistische Schulen Japans sehen, sondern ein Seinsstand im diesseitigen menschlichen Leben, der von Glück und Wohltaten geprägt ist. Wer Buddhaschaft verwirklicht, dem ist grundsätzlich nichts unmöglich. Er steigt nicht aus dem Rad der Wiedergeburt aus – warum sollte er auch? Er reiht vielmehr ein glückliches Leben ans nächste. Zur Erlangung dieser Buddhaschaft ist, so lehrt es Soka Gakkai, das Chanten wichtig. Nur wer morgens und abends «reichlich chantet», wie es der Soka-Gakkai-Präsident Daisaku Ikeda ausdrückt, und den Gongyo rezitiert, hat eine Chance zur Erlangung der Buddhaschaft.

Angesichts des rassigen Rezitationstempos dauert die Wiedergabe der zwei Kapitel des Lotos-Sutras nur wenige Minuten. Anschliessend wird erneut das Mantra «Nam-Myoho-Renge-Kyo» gechantet, wiederum für rund eine halbe Stunde. Während des Chantens, so wird Neulingen beschieden, soll man sich auf Wünsche konzentrieren, die verwirklicht werden sollen. Wer chantet, der betet – so sagt es Präsident Ikeda – zum Gohonzon. Und er übt, so ein weiterer gängiger Ausdruck, Glauben an den Gohonzon. Der Gohonzon nimmt mindestens partiell beinahe die Stelle einer Gottheit an – immerhin steht er ja dort, wo bei hinduistischem Mantragebet sich die Bildgestalten der Gottheiten oder die irdischen Repräsentanten der Götter, die Gurus befinden.

Der Gohonzon enthält in chinesischen Schriftzeichen das Mantra «Nam-Myoho-Renge-Kyo», den Namen Nichirens und einige buddhistische Schutzgottheiten. Zwar betont Soka Gakkai in der Werbung gerne, dass der Buddhismus atheistisch sei, den Praktizierenden wird aber immer wieder die Unterstüzung durch buddhistische Gottheiten zugesichert. Eine atheistische Gemeinschaft, welche die Hilfe von höheren Wesenheiten verspricht?

Dieser Widerspruch wird von Soka Gakkai mit dem Argument aufzulösen versucht, dass die buddhistischen Gottheiten nicht unsterblich seien, und deshalb nach westlichem Verständnis nicht als Götter gelten könnten. Es handelt sich hier um eine auch ausserhalb von Soka Gakkai öfter gehörte buddhistische Argumentation, die allerdings von recht beschränkter Reichweite ist. Zwar ist selbstverständlich richtig, dass Judentum, Christentum und Islam mit der Ewigkeit Gottes rechnen. Die meisten Götter der Religionsgeschichte sind aber nicht ewig, sondern sterblich; sie wurden zu einem bestimmten Zeitpunkt geboren und müssen zum Erhalt ihres Lebens Vorkehrungen treffen, indem sie sich opfern lassen oder regelmässig Verjüngung spendende Getränke oder Früchte zu sich nehmen. Immer wieder kommt es vor, dass Götter sterben und auferweckt werden müssen – oder auch bewusst im Tode gelassen werden. Nicht selten lösen sich ganze Göttergeschlechter ab. Theismus ist nicht nur die Vorstellung eines ewig existierenden, als Person aufgefassten Urgrunds des Seins, sondern jeglicher Glaube an das Eingreifen höherer, transzendenter Mächte ins Leben der Menschen, egal ob diese ewig existieren oder nur eine begrenzte Lebenszeit aufweisen. Insofern ist Soka Gakkai selbstredend keine atheistische Gemeinschaft. Wichtig ist aber auch, dass der Urgrund des Seins für Soka Gakkai keine persönlichen Züge trägt, es ist vielmehr das Gesetz des Karmas, von Ursache und Wirkung, das letztlich nur durch das Chanten von Nam-Myoho-Renge-Kyo nachhaltig positiv beeinflusst werden kann. Der Gohonzon steht für diesen Urgrund, er wird deshalb «das Absolute» genannt und empfängt Verehrung und Glauben – und nicht etwa die buddhistischen Gottheiten. Diese sind dem Gesetz untergeordnet. Während des Chantens soll denn auch nicht zu den buddhistischen Gottheiten, sondern zum Gohonzon gebetet werden.

Dabei dürfen diese Gebete durchaus sehr konkret sein, gerade Anfängern wird empfohlen, sich auf ihre Wünsche zu konzentrieren. Wenn der Glaube an den Gohonzon genügend stark ist – so betont es Präsident Ikeda immer wieder – und reichlich gechantet wird, dann ist schlechterdings nichts unmöglich. Erfolg, Wohlstand und Glück sind möglich demjenigen, der dem «wahren Buddhismus Nichirens» folgt und die Buddhaschaft verwirklicht. Es ist deshalb durchaus legitim, beim Chanten an irdische Ziele zu denken, die man erreichen möchte. Mit der Zeit, so wird betont, würden die konkreten Wünsche allerdings hinter den spirituellen Zielen zurücktreten.

Anschliessend an Chanten, Gongyo und erneutes Chanten folgen bei Versammlungen von Soka-Gakkai-Gruppen jeweils entweder Diskussion oder Studium, in alternierender Folge. Studium ist nebst Chanten und Mission eine der drei Säulen der Ausübung von Soka Gakkai. Studiert wird die sog. «Gosho», das sind Texte aus der Feder von Nichiren, die Glaubensfragen oft in kryptischer Sprache behandeln. Dass die «Gosho» schwierig zu lesen sei, gibt Präsident Ikeda zu. Er rät aber, die Lektüre der Gosho trotzdem zur regelmässigen spirituellen Praxis zu machen, indem täglich mindestens eine Seite oder doch wenigstens ein Satz Gosho gelesen wird. Denn in der Gosho sei die Lösung für jedes Problem zu finden. Und ihre Lektüre ist zur Verwirklichung der Buddhaschaft auch dann förderlich, wenn ihr Inhalt nicht verstanden wird.

Der Abend, den wir besuchen, ist aber nicht dem Studium, sondern der Diskussion gewidmet. Diskussionsabende sollen Gelegenheit geben, Fragen zur Praxis der Soka Gakkai zu stellen und von den Gruppenleitern und den erfahrenen Praktizierenden beantwortet zu erhalten – «Führung zu empfangen», wie das bei Präsident Ikeda heisst. Da Neulinge anwesend sind – gemeint sind wir – gibt’s erst eine Einführung ins Mantra Nam-Myoho-Renge-Kyo anhand einer Kurzerklärung auf einem A4-Blatt. Die einzelnen Worte werden erläutert und mit einer universalen Bedeutung versehen, so wird «Myoho», das «Saddharma», das «wahre Gesetz» Buddhas, zur grundlegenden Gesetzlichkeit allen Seins erklärt, und aus «Kyo» für «Sutra, Lehrgedicht» wird ein umfassendes Wort für die Wahrheit. Der geübte Stil der Einführung macht klar, dass die Gruppenleiterin diese Anfänger-Info sehr oft durchführt. Die Diskussionsabende stellen nämlich auch eine Plattform für die Einführung von Interessenten in die Lehre der Soka Gakkai dar. Wie schon eingangs erwähnt hält Soka Gakkai nichts von der vornehmen Zurückhaltung grosser Teile des Buddhismus in Sachen Mission, ganz im Gegenteil, den «Wah- ren Buddhismus Nichirens» weltweit zu verbreiten ist eine der wesentlichen Ziele der Organisation. Diese Zielsetzung wird auch den Praktizierenden eingeschärft: Für den Buddhismus zu werben ist nebst dem Chanten und dem Studium eine der grundlegenden Säulen der Ausübung und zur Erlangung der Buddhaschaft unerlässlich. Wer nicht missioniert, zeigt, so betont es Präsident Ikeda immer wieder, nicht einen Glauben, der tief genug wäre, um die Absichten des Praktizierenden zu erreichen. Denn das Ziel der Mission ist nichts Geringeres als der Weltfriede. Wenn dereinst alle Menschen dem wahren Buddhismus Nichirens folgen, dann wird Friede sein. Aber auch schon dann, wenn ein rechter Teil der lokalen Bevölkerung chantet, soll sich die Gesellschaft zum Positiven verändern, indem etwa Verbrechen und Drogenkonsum zurückgehen würden. Soka Gakkai lehrt damit ein ganz ähnliches Konzept, wie es von der Transzendentalen Meditation her als «Maharishi-Effekt» bekannt ist: Ein gewisser Prozentsatz Praktizierender schafft positive Auswirkungen auch für den Rest der Gesellschaft.

In ihrer Geschichte schreckte die Soka Gakkai nicht davor zurück, für das missionarische Engagement auch recht schrille Töne zu wählen. Die Missionsmethode wurde «Shakubuku» genannt, «Brechen und Unterwerfen». Die bestehende Weltanschauung des Missionsobjekts – wozu auch alle anderen Formen des Buddhismus zählen – soll aufgebrochen und der Anzuwerbende dem wahren Buddhismus unterworfen werden. Seine Rettung und diejenige der Welt rechtfertigen, so sah es Soka Gakkai, auch ruppige Methoden. Inzwischen wird moderater vorgegangen. Interessenten werden im sozialen Umfeld gesucht, in die Mantrameditation eingeführt und bei positivem Echo zu Gruppenveranstaltungen mitgenommen. Wer Soka Gakkai beitritt, erhält seinen eigenen Gohonzon im Rahmen einer Einweihungsfeier.

Auf die kurze Erklärung des Mantras folgt eine Runde, in welcher die Anwesenden ihren Werdegang zu Soka Gakkai darstellen. Manche nennen spezifische Probleme, welche sich durch die Praxis von Soka Gakkai gelöst hätten, mehrfach wird mangelndes Selbstvertrauen erwähnt, das sich durch die regelmässige zweimal tägliche Mantrameditation verbessert habe. Ein junger Mann berichtet vom beruflichen Erfolg, den er auf sein Mittun bei Soka Gakkai zurückführt. Zwei Frauen sind Soka-Gakkai-Anhängerinnen der zweiten Generation, sie haben als Kind schon mit ihren Müttern praktiziert und sich jetzt als Erwachsene selbst einweihen lassen. Eine der beiden Frauen der zweiten Generation, ihre Mutter ist Japanerin, ist eben von einer Schulung in der Zentrale in Japan zurückgekommen, und hat dort, wie sie erzählt, gelernt, dass die Chance, welche die Anwesenheit von Neuen an Diskussionsabenden darstellt, unbedingt genutzt werden müsse. Aber auch wenn Missionsobjekte abweisend reagieren, war die Bemühung nicht vergebens, denn einerseits gibt sie dem werbenden Mitglied Gelegenheit, seinen Glauben auszuüben, was für die Entwicklung seiner Buddhaschaft förderlich ist. Zum anderen wird, trotz dessen Abweisung, im Missionsobjekt der Same der Buddhaschaft gelegt, der irgendwann aufgehen wird – wenn nicht in diesem Leben, dann in einem nächsten.

Eine Anwesende berichtet davon, wie beruhigend das Chanten auf sie wirke. Wenn ihr Ehemann nerve, dann ziehe sie sich zu einer halben Stunde Mantra-Meditation zurück. So gestärkt könne sie dann ihren Partner viel besser ertragen (wobei möglicherweise der Effekt mitspielt, dass der Mann in den dreissig Minuten Gelegenheit hat, sich ebenfalls etwas zu beruhigen).

Zwei Damen meditieren schon seit dreissig Jahren, aber viele sind erst seit ein zwei Jahren dabei, was ein Zeichen für das Wachstum der Organisation in der Schweiz, aber auch für den nicht unerheblichen Durchlauf bei Soka Gakkai ist. Ein rechter Teil der Menschen, welche mit dem Praktizieren beginnen, hört damit nach ein paar Monaten oder wenigen Jahren wieder auf. Soka Gakkai teilt damit das Schicksal anderer weltanschaulicher Gemeinschaften, welche ebenfalls konkreten Nutzen im Hier und Jetzt versprechen: sie wirken attraktiv auf Menschen mit Problemen, werden aber auch bald wieder verlassen, wenn sich die hochgespannten Erwartungen nicht erfüllen.

Eine Frau meint denn auch, dass sie zwar seit anderthalb Jahren regelmässig morgens und abends chante, dass sich aber in ihrem Leben noch nicht viel getan habe. Sie würde, so sagt sie, langsam die Geduld verlieren. Andere Anwesende, insbesondere die langjährigen Mitglieder, versuchen sie mit der Aussicht aufzumuntern, dass sich die Lage ganz sicher über kurz oder lang verbessern werde, dass es aber Geduld und eine positive Einstellung brauche. Wer klagt und jammert, so betont es Präsident Ikeda immer wieder, zeigt nur einen schwachen Glauben, und ist dann gewissermassen selbst schuld, wenn sich in seinem Leben nichts zum Positiven verändert.

Erörtert wird auch die Frage der Notwendigkeit der Organisation Soka Gakkai. Mantrameditation kann ja im Grunde gut allein und ohne Anschluss an eine Gemeinschaft betrieben werden, und auch das Schrifttum Nichirens kann im Selbststudium gewürdigt werden. Wofür ist dann die Einbindung in eine Organisation vonnöten? Als Solo-Buddhist, da sind sich die Anwesenden einig, geht es schlecht. Allein, ohne die Unterstützung durch andere Praktizierende, wirft einen die erste Schwierigkeit aus der Bahn, oder das Engagement erlahmt alsbald. Deshalb wird auch Präsident Ikeda nicht müde, die Bedeutung der von ihm geleiteten Gemeinschaft zu betonen. Nur die Führung durch Soka Gakkai kann, so formuliert es Ikeda, die korrekte Ausübung des Glaubens gewährleisten. Wer etwa das Mantra falsch ausspricht, wird wenig Nutzen haben. Dasselbe gilt für die zwei zu rezitierenden Kapitel des Lotos-Sutra. Auch diese müssen sprachlich korrekt wiedergegeben werden, um wirklich wirksam zu sein. Und wer kann schon Nichirens Schrifttum ohne Erklärung durch eine erfahrene Organisation verstehen? Ohne Soka Gakkai, so der Tenor, ist Buddhaschaft in diesem Leben nur schwer zu erreichen, wenn überhaupt.

Umso grösser ist die Freude über die grosse Zahl von Anwesenden. Zwölf Leute plus zwei Gäste plus der Partner der Wohnungsinhaberin als Zaungast – das ist mehr, als sich die Gruppe gewohnt ist. Und mit Stolz wird der Erfolg festgehalten, denn es ist gerade der Stichtag, an welchem die Gruppen für den Jahresbericht fotografiert werden.

Gern wird auch auf die Prominenten unter den Praktizierenden hingewiesen, etwa auf Tina Turner, Orlando Bloom oder Herbie Hancock. Soka Gakkai gehört zu den Gemeinschaften, die auch für erfolgreiche Menschen im Showbusiness attraktiv sind. Zwar reicht sie in Sachen Promi-Gehalt nicht an die Transzendentale Meditation heran, geschweige denn ans Kabbalah Centre, aber mit Scientology darf sich Soka Gakkai bezüglich der Zahl international bekannter Anhänger durchaus vergleichen. Soka Gakkai teilt denn auch ein paar Gemeinsamkeiten mit den genannten sog. «Hollywood-Religionen»:

– Organisationen sind für Prominente besonders dann interessant, wenn sie konkreten Nutzen im Diesseits versprechen, etwa umfassenden beruflichen und privaten Erfolg im Fall von Scientology, Gesundheit und Lebensfreude bei der Transzendentalen Meditation, Gelassenheit und Glück beim Kabbalah Centre. Die bei Soka Gakkai verheissenen Wohltaten für die Praktizierenden passen da gut.

– Dabei überschreitet der Nutzen, den die unter Prominenten erfolgreichen Gemeinschaften versprechen, die Grenzen des konventionellen Menschseins bei weitem. Scientology verheisst den Absolventen ihrer OT-Kurse zur «Ursache über Materie, Energie, Raum und Zeit» zu werden und damit ihr Leben potenziell beliebig beeinflussen zu können. Das Kabbalah Centre hält ewiges Leben und ewige Jugend für erreichbar. Die Transzendentale Meditation lehrt nicht nur Yogisches Fliegen, sondern hat den Meditierenden auch schon körperliche Verjüngung versprochen. Soka Gakkai bleibt mit ihrem Versprechen der Buddhaschaft und des immer neuen, glücklichen Lebens auf dieser Erde nicht weit hinter diesen Verheissungen zurück.

– Wer in Hollywood Erfolg haben will, muss mindestens die Absicht haben, am Weltfrieden zu arbeiten. Scientology will den Planeten «klären» und damit Krieg, Verbrechen, Drogenkonsum und psychische Krankheiten ausrotten. Das Kabbalah Centre rechnet mit Weltfrieden dann, wenn genügend Menschen sich den Lehren des Zohar geöffnet haben. Die Transzendentale Meditation will aktuell dabei sein, den globalen Frieden zu schaffen durch die 1331 Meditierenden, welche im TM-Zentrum in Indien friedensförderliche Sutren rezitieren. Soka Gakkai erwartet den Frieden durch die weltweite Ausbreitung des wahren Buddhismus Nichirens.

– Der Weg zu diesen hohen und hehren Zielen ist ein simpler, repetitiver und mechanischer. Scientology lehrt mit ihrem Auditing eine von aussen besehen mechanistisch wirkende Vorgehensweise zur Lösung aller möglichen psychischen Schwierigkeiten. Beim Kabbalah Centre soll täglich der Zohar «gescannt» werden, d. h. es wird der aramäische Text des Zohar durchgeblättert und angeschaut, auch wenn er nicht verstanden wird. Die Transzendentale Meditation und Soka Gakkai praktizieren die tägliche Meditation des immer gleichen Mantras.

– Auffällig ist bei allen Gemeinschaften das Zurücktreten der spirituellen Anliegen. Scientology nennt sich «religiöse Philosophie» und betreibt in kritischer Sicht eine Art technoide Pseudo-Psychotherapie. Das Kabbalah Centre versteht sich als «Technologie der Seele». Die Transzendentale Meditation hält sich für eine Wissenschaft. Mit spirituellen Texten würde sie, so die Auskunft, rein technisch umgehen. Soka Gakkai spricht zwar von Religion und Glaube, wirkt aber im Vergleich mit anderen Formen des Buddhismus ausgesprochen mechanistisch und materialistisch.

– Prominenten-Gemeinschaften haben einen hohen Durchlauf an Mitgliedern. Hochtrabende Versprechungen ziehen Menschen in Scharen an, um sie alsbald enttäuscht wieder zu entlassen. So leben in der Schweiz heutzutage weit mehr Ex-Scientologen als aktive Scientologen. In Prominentenkreisen ist die Zahl ehemaliger Träger des typischen roten Kabbalah-Armbands eindeutig grösser als die Anzahl aktueller Mitglieder. Wer in esoterischen und alternativ-spirituellen Gemeinschaften nach Werdegängen fragt, stösst dort regelmässig und zahlreich auf ehemalige TM-Praktizierende. Auch deren Zahl wird die Summe der aktuell mit ihrem TM-Mantra Meditierenden bei weitem übertreffen. Für Soka Gakkai wird über kurz oder lang dasselbe gelten. Die Summe der Gohonzons, die auf Estrichen und in Kellern ihr Dasein fristen oder gar entsorgt werden, wird die Zahl der aktiv verehrten Gohonzons früher oder später zweifellos übersteigen. Der Traum von der weltweiten Ausbreitung des Buddhismus Nichirens wird ebenso wie die «Klärung» des Planeten oder die Erlangung des Weltfriedens durch indische Meditierende ein Traum bleiben.

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