«Die transformierende Kraft von Om» – Om-Chanting von Bhakti Marga in Winterthur

Es war ein Freitagabend im Dezember, in der Winterthurer Altstadt liessen die Leute die Arbeitswoche ausklingen. Mein Freitagabend-Programm war dagegen eher unkonventionell: ein Besuch beim Om-Chanting von Bhakti Marga, einer neueren aus dem Hinduismus stammenden Bewegung, stand mir bevor.

Ayuverdische Tees, vegane Energiekugeln und Keto Bars

10 Minuten zu Fuss vom Bahnhof Winterthur entfernt, erreichten meine beiden Freundinnen und ich das Ganapati Yogazentrum, wo das Om-Chanting stattfinden sollte. Om-Chantings von Bhakti Marga finden regelmässig in der ganzen Schweiz statt, so auch alle zwei Wochen in Winterthur. Das Ganapati Yogazentrum war ein verwinkelter Ort, der aus einem kleinen Laden und vielen davon abzweigenden Räumen bestand. Ayuverdische Tees, vegane Energiekugeln und Keto Bars waren auf den Regalen zu entdecken, von den Nebenräumen hörte ich beim eintreten Stimmen. Ein älterer Mann, ca. 70 Jahre alt, kam uns entgegen und begrüsste uns freundlich. Er schien Freude zu haben, junge Leute zu sehen.

Die Regeln des Om-Chantings

Der Mann organisiert zusammen mit einer ebenfalls ca. 70-jährigen Frau das Om-Chanting in Winterthur. So begleitete er uns durch den Abend und erklärte, was uns noch bevorstand. Das Om-Chanting hält was es in seinem Namen verspricht: eine Gruppe von Leuten singt 45 Minuten lang die Silbe «Om». Dabei gibt es einige Regeln zu beachten. Man sollte während des Gesangs keine unnötigen Pausen machen, sondern möglichst ununterbrochen singen. Man sollte mit Kraft singen und den eigenen Ton finden, gleichzeitig aber möglichst gemeinsam mit der Gruppe mitstimmen, um einen schönen Ton zu erzeugen. Der Kreis darf während des Chantings nicht verlassen werden. Uns wurde deshalb extra noch geraten vorher auf die Toilette zu gehen.

Anklage wegen Nicht-Heilen

Das Om-Chanting folgt auch einer gewissen Struktur und Ordnung, damit es eine möglichst hohe Wirkung erzeugen kann. Die Gruppe wird in einen inneren und äusseren Kreis geteilt, wobei die Zuteilung zufällig ist und nicht irgendeiner Hierarchie folgt. Ziel des Om-Chantings ist das Heilen – psychisch, körperlich, für die ganze Menschheit und für den Einzelnen. Deshalb hiess das Om-Chanting ursprünglich Om-Healing, was nach einer Anklage geändert werden musste. Der Kläger aus Deutschland meinte es dürfe nicht Om-Healing heissen, weil es ihn nicht geheilt hatte. Die beiden Kreise sollten eigentlich zu einem Kreislauf der heilenden Energie führen: im inneren Kreis steigt sie nach oben, dann runter zum äusseren Kreis, zurück zum inneren Kreis und so weiter. Um die heilende Energie besser zu entfalten, können, gemäss älterem Herr, «mudras», also symbolische Handgesten wie man sie typischerweise aus dem Hinduismus kennt, hilfreich sein.

Der umstrittene Meister

Kurz vor Beginn des Chantings weist uns der Herr darauf hin, dass solche Om-Chanting-Gruppen nicht einfach so gebildet werden dürfen, sondern der Segen des Gründers und Meisters von Bhakti Marga, Sri Swami Vishwananda, erforderlich ist. Den Namen des Meisters sprach der Herr mit einer gewissen Ehrfurcht aus. Ich fragte mich, ob er die zahlreichen Vorwürfe gegen den Meister nicht kennt, nicht glaubt oder einfach ignoriert. Sri Swami Vishwananda wird vorgeworfen Sex mit seinen Schülern gehabt zu haben, Aussteiger unter Druck zu setzen, Tricks zu verwenden und seine Anhänger und Anhängerinnen auszunehmen, indem sie ihr ganzes Geld in die Ashrams einbringen müssen.

Die drei Sris

Die Stühle für die beiden Kreise waren schon bereitgestellt worden. Es herrschte eine entspannte Atmosphäre, zu spüren war auch Vorfreude auf den bevorstehenden Abend. Der Raum gehört zum Ganapati Yogazentrum, deren Leiterin der Sri Chinmoy-Bewegung angehört. Der Raum war deshalb mit der Kunst von Sri Chinmoy dekoriert. Auf vielen Bildern waren Vögel zu sehen, die die Freiheit der Seele verkörpern sollen. Einzelne Wörter wie «unity» (Einheit), «perfection» (Perfektion) oder «hope» (Hoffnung) wurden unter die Bilder geschrieben. Der Raum war weiss gestrichen und mit blauen Vorhängen verziert, Kerzen waren im gesamten Raum verteilt worden. Kontrastierend zu den Bildern von Sri Chinmoy, stand vorne auf einem kleinen Tisch ein Portrait von Sri Swami Vishwananda sowie ein Portrait dessen Gurus und angeblichen Vorfahren, Sri Mahavatar Babaji.

Die transformierende Kraft von Om

Zu diesen Portraits drehten wir uns zu Beginn des Om-Chantings. Meine beiden Freundinnen und ich besetzten 3 der 4 Stühle des inneren Kreises, da die 7 Stühle des äusseren Kreises schon voll waren. Zu Beginn sangen wir gemeinsam, Sri Swami Vishwanda und Sri Mahavatar Babaji anschauend, ein Mantra. Im Mantra, beginnend mit «Om Sri Gurubhyo Namaha», begrüssten wir die beiden Gurus. Danach drehten wir uns wieder, sodass die Personen der beiden Kreise einander anschauen konnten. Als nächstes starteten wir den Hauptteil des Abends: das Om-Chanting. Und tatsächlich sangen wir 45 Minuten lang die Silbe Om. Nach hinduistischem Verständnis ist das gesamte Universum aus den Vibrationen dieser Silbe entstanden und es soll die Gegenwart des Absoluten, der höchsten Gottesvorstellung bezeichnen.

Übung macht die Meisterin

Der ältere Herr hatte uns bereits vor Beginn des Chantings gesagt, dass man die heilende Energie nicht nur für sich selber brauchen sollte. Man solle an Personen denken, die die Kraft brauchen und könne diese Wünsche auch auf einen Zettel schreiben und in die Mitte des inneren Kreises legen. Zu Beginn des Chantings versuchte ich mich darauf einzulassen und ich erhoffte mir in einen meditativen Zustand zu kommen. Ich schloss die Augen und liess das tiefe Om durch mich vibrieren. In Realität begann aber meine Stimme weh zu tun nach relativ kurzer Zeit und ich musste mich darauf konzentrieren regelmässig die Stimmlage zu wechseln, um verschiedene Stimmbänder in Anspruch zu nehmen. Meine Freundin, die christlich ist, regelmässig an Gottesdiensten teilnimmt und betet, schaffte es einen meditativen Bewusstseinszustand zu erreichen, wie sie mir später berichtete. Auch beim Beten sei sie jeweils hochkonzentriert aber trotzdem tief entspannt. Übung macht die Meisterin.

Die Anhänger und Anhängerinnen von Bhakti Marga

Zweimal, nach 15 und nach 30 Minuten, wechselten wir die Plätze, damit jede Person einmal im inneren Kreis sitzen konnte. Während des Om-Chantings hatte ich grösstenteils die Augen geschlossen, unter anderem auch um die anderen Praktizierenden zu respektieren. Trotzdem nahm ich mir kurz Zeit, um diese Bhakti Marga Anhänger und Anhängerinnen zu begutachten. Es waren 4 Männer und 7 Frauen (mit uns) anwesend, die meisten im mittleren oder älteren Alter. Nur ein jüngerer Mann, ca. 25 Jahre alt, sass neben mir. Er schien fast schon am enthusiastischsten zu singen und ich wurde regelmässig von seiner lauten, manchmal etwas schiefen Tonlage abgelenkt. Auch das Singen in einem kleinen, ungelüfteten Raum ohne Masken schien mir zu diesen Zeiten ein wenig unpassend und irritierend.

Leider kein Om-Healing

Die 45 Minuten gingen schnell vorbei. Der ältere Mann läutete einen Gong, die Teilnehmenden öffneten die Augen und lächelten. Um die heilende Energie nicht zu verlieren, rieben wir schnell die Hände aneinander und berührten uns an einer Stelle, die geheilt werden sollte. Ich berührte meinen Hautausschlag an den Armbeugen. Den Ausschlag habe ich jetzt noch an der exakt gleichen Stelle, da ich aber auch während des chantens kaum etwas der Energie spürte, zog sie vielleicht an mir vorbei. Die anderen Teilnehmenden sahen aber erfrischt und glücklich aus, während wir noch einige Minuten in Stille dasassen. Der Gedanke, dass man die heilende Kraft an Personen wünscht, die sie in diesem Moment brauchen, fand ich schön. Dieser Gedanke widerspiegelte sich im Abschluss-Mantra: Lokah Samstah Sukhino Bhavantu – Mögen alle Wesen Glück und Harmonie erfahren.

Der Hinduismus im Westen

Wir hatten das Ende des Om-Chantings erreicht. Wie immer bei solchen neohinduistischen Praktiken war es mir ein wenig unwohl, dass sich Personen aus dem westlichen Kulturkreis Praktiken aus der östlichen Welt zu eigen machen. Ein ähnlicher Gedanke ging wohl einem Teilnehmer durch den Kopf, der ursprünglich aus Indien stammte und das erste Mal am Om-Chanting in Winterthur teilnahm. Er erklärte die Bedeutung der Mantras, die wir soeben aufgesagt hatten und es schien ihm wichtig zu sein, uns ein Verständnis darüber zu geben, was wir soeben gemacht hatten.

Keine Religion, sondern Spiritualität

Im Gespräch mit dem älteren Herrn nach dem Om-Chanting, zeigte dieser ein grosses Interesse an meinem Studium der Religionswissenschft. Ihm war es wichtig zu betonen, dass alle Religionen ähnlich sind und ähnliche Ziele haben. In dieser Hinsicht hätte jede Religion ihre Daseinsberechtigung. Nur was manchmal mit der Religion gemacht werde, sei nicht gut. Bhakti Marga sei aber keine Religion und gehöre auch nicht dem Hinduismus an. Bhakti Marga sei eine Art von Spiritualität und eine Lebensweise. Ich war erschöpft vom Gesang und vom Abend und freute mich an die frische Luft zu gehen. Der Einladung für einen Tee zu bleiben folgte ich daher nicht.

Louisa Bernet, 6. Januar 2022

Lexikoneintrag Bhakti Marga