Ehemaliges EBG-Mitglied besucht Konferenz der Evangelischen Bibelgemeinde (EBG)

Hintergrund und Einladung

Als ich im Jahr 2016 die Evangelische Bibelgemeinde EBG verliess, vermutete ich, dass ich die durch die EBG kennengelernten Menschen aus anderen Ecken der Schweiz wohl (gar) nicht mehr sehen würde. Ich besuchte die Konferenzen ja nicht mehr. Mit einigen hatte ich dennoch weiterhin Kontakt, wenn auch selten und stockig, mit sehr wenigen regelmässig. Und so kam es, dass ich dieses Jahr via SMS von meiner Bekannten an den UK-Abschluss eingeladen wurde. Der UK-Abschluss (Unterweisungskurs-Abschluss, gleich einer Konfirmation am Ende des Konfirmationslagers) ist eine der drei Feierlichkeiten («Konferenzen») im Jahr, in welchem alle EBG-Mitglieder, die können, am selben Ort zusammenkommen. Die anderen zwei Konferenzen sind an Ostern und am Buss- und Bettag, an Weihnachten gibt es bewusst keine. Ich entschied also zu gehen, einerseits, weil ich wissen wollte, wie ich die EBG jetzt, sieben Jahre später, wahrnehmen würde, und andererseits natürlich für Relinfo. Einige Bekannte äusserten ihre Sorge, dass ich dann wieder hineingezogen würde, aber: Ich war 13, als ich in die EBG kam. Wenn ich so lange danach immer noch so beeinflussbar wäre, würde ich vermutlich jetzt weder politisch aktiv sein noch studieren, sondern wäre weit weg auf Mission, vielleicht schon mit Kindern, vielleicht noch ledig. Zu meiner persönlichen Unterstützung nahm ich aber dennoch meinen Partner mit, der selbst keinen freikirchlichen Hintergrund hat. Auch, weil er die EBG so sicher anders sehen würde als ich und ein zweites Paar Augen immer gut ist.

Erste Eindrücke des Altbekannten

Ich ging also an den UK-Abschluss und fuhr mit Partner und mit zwei Freundinnen, die weiterhin die EBG besuchen und mit denen ich die Freundschaft trotz Austritt aufrechterhalten konnte, nach Hägendorf, wo neuerdings die Konferenzen stattfinden. Es fand effektiv in einer Mehrzweckturnhalle statt. Das war ein wenig merkwürdig. Der mir bekannte Versammlungsort in Biberist hatte zwar einige Bilder von Jazz-Spielenden, was natürlich «satanisch» war, aber wenigstens fühlte er sich konferenzartiger an. Die Turnhalle in Hägendorf, genannt «Raiffeisen-Arena», fühlte sich mehr nach Sport und Wettbewerb als nach Gott und Bibel an. Wir gingen in die «Raiffeisen-Arena» und meine Freundinnen begrüssten allerlei Leute, die ich selbst nicht kannte. Irgendwie hatte ich im Kopf, dass EBG-Mitglieder grundsätzlich offen sind und «ansaugen», sobald sie jemanden sehen, der ihnen unbekannt ist. Das mag bei den Ortsgemeinden zutreffen, aber bei der Konferenz fühlte ich mich mehr, als wäre ich in ihren «Safer Space» eingedrungen. Mich begrüssten nur die, welche ich bereits seit «damals» kannte. Die anderen guckten mich schräg an und redeten weiter mit meinen Freundinnen. Jene, die ich kannte, waren vor allem überrascht, mich zu sehen, natürlich mit Ausnahme von der, welche mich eingeladen hatte. Ihr hatte ich vergessen, rechtzeitig vom Kommen zu erzählen, und sie erfuhr es dann am Morgen der Konferenz. Es war sehr typisch, die Freude, mich zu sehen, das bekannte «so schön!» und die Frage «geits?», im breitesten Berner Dialekt. Im Verlauf des Tages fragte ich mich, wie ich früher darauf antwortete, denn an diesem Tag war ich nach etwa dem dritten Mal bereits unterfordert und fragte mich, was sie hören wollten. Zudem fiel mir auf: Die Menschen sahen alle plötzlich älter aus – gut, es war auch 7 Jahre her, seit ich sie das letzte Mal gesehen hätte – und die Mütter, die waren plötzlich müde. Mir wäre es früher nie aufgefallen, aber die einzigen Mütter, die nicht müde aussahen, waren jene mit erst einem Kind oder die, deren Eltern dabei waren, die also «grosselterliche Unterstützung» hatten. Alle anderen sahen so ermüdet aus, dass ich mir Sorgen um sie zu machen begann. Ui. Zum Glück war ich ausgetreten, bevor ich selbst eine Reihe an Kindern produziert hatte. Durchschnittlich waren es sechs Kinder pro Familie, wie mein Partner schätzte. Das ist einfach zu viel, besonders ohne Grosseltern. Aber die EBG zirkuliert Kleider durch die Reihen, sodass die Eltern der jüngsten Jugendlichen ihre Kleider an andere Familien weiterschenken.

Wir setzten uns also auf die aufgereihten Stühle – leider unbequem – und ich richtete mich ein, holte Bibel, Schreibzeug und Notizblock hervor, wie meine Freundin zwei Sitze weiter, bei der ich es damals einfach kopierte. Diesmal fühlte ich mich weniger merkwürdig, da ja noch jemand Notizen machte, nur meinem Partner war ziemlich sofort langweilig.

Die Musik

Wir sangen, immer noch aus dem gleichen Buch wie damals, aber es sah schicker aus. Mir wurde damals ein Liederbuch geschenkt, in welchem noch der Evangelische Brüderverein, Vorläufer der Gemeinde für Christus, von der die EBG sich aufgrund der Modernisierung abgespalten hatte, als Gemeinde aufgeführt war. In den schickeren Konferenzliederbüchern stand aber die Evangelische Bibelgemeinde als Gemeinde. Soweit alles altbekannt, nur: Es gab plötzlich einen Männerchor. Ich erkundigte mich also, seit wann es einen Männerchor gab, und fand heraus, dass dieser extra für diesen Zweck geformt wurde. Der Chor klang wirklich gut, viel besser als die Gemeinde. Vielleicht auch, weil ich bei Frauenstimmen öfters höre, dass es mit den Tönen nicht ganz klappt. Natürlich darf auch gesagt werden, dass viel zu viele Lieder einfach zu hoch nach oben gehen, und eingesungen mit korrekter Position (stehend) gesungen werden müssen, damit man anständig raufkommt. Ich versuchte natürlich auch mein Bestes, mit nach oben zu kommen, aber das war quasi unmöglich, auch, weil mir die Übung fehlt. Alle anderen Frauen versuchten es bei den hohen Tönen ebenfalls, aber gelungenen Gesang auf dieser Höhe hörte ich nicht. Ich gebe den Liedern und den Personen, die ohne Rücksicht auf anständiges Aufwärmen die Lieder wählen, die Schuld daran. 

Die Vormittagskonferenz

Meinem Partner, der mich netterweise begleitete, hatte ich angekündigt, dass in erster Linie erklärt würde, was am UK alles gut lief, und für die Gebete gedankt würde. Und das war tatsächlich eines der ersten Dinge, die passierten: Es wurde gedankt. Unterhaltsam fand ich, dass der Mitteilende, Christoph Sardi, ein Prediger, auch meinte «Ihr habt jetzt Grund zu danken» – im Sinne, ihr habt gebeten, Gott hat geschenkt, jetzt könnt ihr danken. Nach den Mitteilungen standen die zehn UK-Absolvent:innen auf und rezitierten Teile des Psalms 139. Dieser würde der Bibeltext für die Predigt danach sein. Ich hatte damals auch den UK absolviert und wir lernten damals Psalm 91 auswendig, nur waren wir so schlecht, dass es nur wenige schafften. Bei uns stand jemand und wir lasen einfach seine Lippen. Da auch dieses Mal ein Prediger vor ihnen stand, erahnte ich, dass auch dieses Mal er den Vers mitsprach, damit sie im Notfall ablesen konnten. Ausserdem war das sinnvoll, um gleichzeitig zu sprechen, was die Gruppe gut machte. Aber nur 10 Absolvierende? Bei uns, im Jahr 2015, waren es 8 Mädchen und etwa gleich viele Jungs, dieses Jahr waren es 7 Mädchen und 3 Jungs. Vielleicht landete ich auch einfach in einem jahrgangsstarken UK.

Die Predigt hielt Peter Zaugg, der auch meinerzeit den UK mitleitete, und einst in Papua Neu Guinea (PNG) mit seiner Frau missionierte. Er sprach darüber, dass Gott allwissend sei, und es kristallisierten sich zwei Aspekte dieser Allwissenheit: Entweder es ist super, weil Gott ja sowieso alles weiss und man sich auf ihn verlassen kann, weil es Sicherheit gibt, oder es ist gar nicht super, weil das ja auch heisst, dass er all die Sünden kennt, und das einengt. Während seiner Predigt schrien einige Babys und weinten einige Kinder, denn obwohl es einen Hüteort gab, waren ein paar Kinder weiterhin im Konferenzsaal (oder der Turnhalle). Er liess sich nicht beirren und sprach weiter, einfach lauter. Nicht lange in die Predigt hinein beugte sich mein Partner zu mir und kommentierte: «Gute Redner haben sie nicht». Naja, ich kannte die EBG nicht anders, aber nach kurzem Nachdenken musste ich ihm zustimmen. Rhetorisch ist die EBG nicht gut. Und das galt für jeden Redner an diesem Tag, mit einer einzigen Ausnahme: Der Mann, Vater eines UK-Absolventen, der später auf Französisch ein Zeugnis ablegte. Der war rhetorisch gut. Die Übersetzung des Zeugnisses dann schon wieder nicht. Und Französischkenntnisse haben EBG-Mitglieder nicht überdurchschnittlich im Vergleich zum Rest der Deutschschweiz. Aber wenigstens etwas.

«Der Bruder» und wie es nicht weitergehen konnte

Nachdem der UK ein Lied namens «einer, der die Gnade fand» sangen (nicht besonders gut, weil es wieder viel zu hoch war), erhielten sie alle ihren Vers. Das läuft ab wie bei einer kirchlichen Konfirmation: Man wird aufgerufen, der Vers wird vorgelesen, und einen in die Hand gedrückt, oder eben dann später in die Hand gedrückt, wenn es logistische Komplikationen gibt. Es kamen zwei Aufsätze zum Thema «Wie ich die Wiedergeburt erlebt habe». Ich musste damals auch einen Aufsatz schreiben. Ich wollte erst über das 5. Gebot oder Gottes Schöpfung schreiben, und produzierte dann irgendetwas chaotisches, auf das ich selbst nicht stolz war. Dann meinte jemand der Leitenden, es wäre viel spannender, wenn ich über das Thema «Wie ich die Wiedergeburt erlebt habe» schreiben würde. Schliesslich war ich ja aus ungläubigem Elternhaus. Nach dieser UK-Konferenz verstehe ich, dass es bei ungläubigen Elternhäusern spannender ist. Ich hatte das Gefühl, jede Person hatte denselben Verlauf. Sie waren allesamt in «gläubigem» Elternhaus aufgewachsen und wussten schon früh, dass vieles falsch und sündhaft war. Mehrere der Vorlesenden schrieben «ich wusste / mir war klar, dass es so nicht weitergehen konnte». Und dann nahmen sie Kontakt auf mit einem «Bruder» und «durften sich bekehren». Nicht lange danach fielen sie wieder in die Sünde. Und dann nahmen sie wieder Kontakt auf mit einem «Bruder» und «durften sich bekehren». Für mich als Person, die auch immer wieder sündigte und sich enorm schlecht fühlte und konstant Busse tat, nur ohne «Bruder», war es merkwürdig zu hören, dass andere sich mehrfach bekehrten. Aber die Tatsache, dass ich zuhause nie Angst vor Gott hatte, weil ich nie von Dingen wie der Entrückung oder der Hölle (höchstens als veraltetes katholisches Konzept) hörte, mag auch dazu beigetragen zu haben. Ich weiss noch, wie neidisch ich war, dass die anderen in einem gläubigen Elternhaus aufwachsen durften – und ich nicht – aber heute bin ich unendlich froh.

Ausserdem fiel mir diesmal auf, wie häufig man wirklich noch über «Brüder» und «Geschwister» sprach. Ich fand es damals toll, eine so riesige Familie zu haben, dass alle Personen, die meinen Glauben teilten, meine «Geschwister» waren. Wer wünscht sich nicht, dass die beste Freundin auch eine Schwester sein kann? Aber so dazusitzen, wenn man selbst nicht mehr glaubt, oder mal sicher nicht an dasselbe, und zu hören, wie 16-jährige über «den Bruder» sprechen…das war merkwürdig. Ich verstehe jetzt viel besser, warum sich meine Mutter immer über die «Brüder» lustig machte. Irgendwie muss man mit dieser Bizarrheit umgehen.

Andere Aufsätze handelten vom 8. Gebot – du sollst nicht stehlen – und davon, was Gebet bedeutet. Die Vorlesende erklärte, es ginge beim Gebet darum, still zu werden, Gott sprechen zu lassen (idealerweise durch auswendig gelernte Bibelverse, die einen zufällig in den Kopf «ploppen»), dass Gebet das Atmen der Seele sei, und man solle beten, damit man Kraft hätte, anderen von Jesus weiterzuerzählen. Öffentliche Gebete sollen kurz, klar, deutlich sein. Kein Anliegen zu gross, keines zu klein. Das erinnerte mich daran, wie ich früher meiner Grossmutter empfahl, Gott fürs Annähen eines Reissverschlusses um Hilfe zu bitten. Es war schön zu sehen, dass die EBG das offensichtlich unterstützen würde.

Rhetorik und Logik – Fremdwörter, aber in der EBG noch mehr

Dann gab es ein Lied, das von Männerchor und UK gemeinsam gesungen wurde, und Philipp Grossenbacher, der auch damals schon den UK geleitet hatte, ehemaliger PNG-Missionar und 13-facher Grossvater, predigte weiter. Er redete weiter über Psalm 139, und gab einen Rückblick über den UK. Philipp erzählte, wie sie gemeinsam die Schöpfung angeschaut hätten, dann den Sündenfall, die Erbsünde – alles, was wir auch lernten, nämlich dass wir alle von Geburt an sündhaft sind. Philipps Lieblingsbeispiel war damals: «Was ist das Erste, was ein Kind macht, wenn es zur Welt kommt? Es schreit! Was ist das Erste, was es sagt? ‘Nein’». Als Kind, das nach der Geburt nicht geschrien, sondern gelächelt hat – gemäss meiner Mutter, die dabei war – fühlte ich mich von diesem Beispiel nie besonders betroffen. Aber das Grundkonzept galt für mich natürlich trotzdem. Philipp sprach weiter, über die 10 Gebote, die wir alle übertreten hatten, besonders nach der neutestamentlichen Auslegung («Ehebruch im Herzen»), und dann elaborierte er über die Sünde und über das Gericht. «Klassisch Philipp», dachte ich, «spricht mehr über Sünde und Gericht als über Gnade und Freiheit». Er erklärte, wir hätten vor dem lebendigen Gott gesündigt – was ich lustig fand, gibt es tote Götter? Die sind doch unsterblich? – und führte dann aus, dass gewisse Personen eben an gar keinen Gott glaubten. Ob es einen gäbe? «Wir werden’s sehen…aber dann ist’s zu spät». Besonders logisch fand ich diese Erklärung nicht, aber sie war auch nicht untypisch. Die EBG macht gern ein wenig Angst, den Leuten, die noch unbekehrt sind, oder die zu stark wieder in die Welt gerutscht sind. Ich gehöre sicher zu der zweiten Gruppe dazu. Nach langem Sprechen über Sünde und Gericht kam es: die Erlösung durch Jesus. Für etwas, das so erlösend sein sollte, war Philipps «Delivery» kalt. Und es ging weiter mit den Themen, die sie im UK besprochen hatten: Das Gebet, das Unser-Vater, die Neutestamentliche Gemeinde, die mal als Braut, mal als Schafherde, mal als Tempel dargestellt wurde, die Taufe (und deren Bedeutung), das Abendmahl, die Entrückung, das tausendjährige Reich, das Endgericht, und die Ewigkeit. Also kurz: Die gesamte, grundsätzliche Lehre, welche die EBG vertritt. Einfach alles, in zwei Wochen gepackt. Aber das war nicht alles, es ging weiter: Umgang mit Geld, was wir auch ansahen, Medien, Suchtverhalten, Freizeitbeschäftigungen, Freunden, Gruppendruck, so modernere Dinge. Die wir aber auch alle angeschaut hatten im Jahr 2015. Wenn sie dasselbe lehrten wie damals: Wir sollen immer versuchen, Gott zu ehren, auch in den Freizeitbeschäftigungen, uns nicht Gruppendruck beugen, keine Suchten entwickeln, den Medien grundsätzlich nicht vertrauen und uns ganz sicher nicht verschulden. Wenigstens Teile davon kann ich noch heute vertreten. Philipp erklärte, dass sie die Gebete der Gemeinde gespürt hätten, dass Gott auch beim Wetter geholfen hätte – es war angenehm kühl – und erklärte, dass niemand einen aus Gottes Hand hinausholen könnte. Kein Geschöpf könne uns von Gott scheiden, weil ja alles ausser Gott «Geschöpf» sei (weil Gott es ja «geschöpft», eigentlich geschaffen, hatte – solche Fokusse auf die Wortbildung sind beliebt in der EBG). Ich, als ehemaliges EBG-Mitglied, fand das unterhaltsam. Es hiess in den ersten paar Büchern der Bibel nie, dass es keine anderen Götter gäbe, nur, dass man sie nicht anbeten solle. Und dass Gott diese nicht geschaffen hätte, war ja auch klar, denn wenn schon, müsste er nicht mit ihnen konkurrieren. Aber das ist natürlich auch einfach meine Bibelauslegung. Der Rückblick war vorbei, es gab ein Angebot, dass wir uns bekehren oder um Gebete bitten dürften, und dann kam ein Musikstück der UK-Absolvierenden, mit einem Cello, zwei akustischen Gitarren (zu meinem grossen Erstaunen), und einer Geige. Auch wir durften damals auf unseren Instrumenten etwas vorspielen, nur hatte ich bis dort vor allem Schlagzeug gespielt, und das ging natürlich nicht. Dass sie aber Gitarre spielten, war für mich neu. Es ging weiter und der französischsprachige Vater eines UK-Absolventen legte sein Zeugnis ab, rhetorisch gut. Die Übersetzung war klar merkwürdig, denn sie hatten jemanden gebeten, dessen Muttersprache klar Französisch war, und eigentlich empfiehlt man, auf die eigene Muttersprache zu übersetzen. Der Vater sprach darüber, wie die UK-Absolvent:innen nun die Waffenrüstung aus Epheser 6 brauchten, um in den Glaubenskampf, der nach UK eintreten würde, zu treten, um bereit zu sein, wenn der Feind angriff. Ein wenig heimelig war es schon. Die Vorstellung, dass Satan einen jederzeit angreifen kann und man immer seine Bibel – das Schwert – braucht, um sich wehren zu können. Dann wurde gebetet, dass Gott uns bewahren möge, und eine gute Mittagspause schenken möge – wo ich sehr erleichtert war, dass schon jetzt Mittag war – und es gab erneut einen «Bekehrungsaufruf». Heisst: Sie sagten, wer wolle, dürfe auf sie zukommen und mit ihnen sprechen. «Heute noch ist Gnadenzeit», hiess es und ich freute mich, dass es jetzt – kostenloses – Essen gab, nämlich Sandwiches.

Ein kleiner, aber gerechtfertigter Schock und das Ablegen alter Ängste

Wir begrüssten also weiterhin alle, die zu uns kamen, und ich musste ein bis zweimal während der Pause meinen Partner allein lassen, wobei ich mich ein wenig sorgte, dass er dann «missioniert» werden würde. Nicht, dass er darauf anspringen würde. Aber die Vorstellung ist dennoch unangenehm. Wir hatten Glück, und er wurde nur von einer meiner guten Bekannten angesprochen, die mitbekommen hatte, dass er «zu mir» gehörte, und die ihn freudig begrüsste. Ein Prediger, vor dem ich früher immer Angst hatte, weil er sehr forsch war in seiner Art – fast schon militärisch, aber ohne den Machtkampf, einfach forsch – begrüsste mich auch. Er war plötzlich nicht mehr so beängstigend, jetzt war er einfach alt. Verständlich, seine ältesten Kinder waren schon verheiratet, als ich die Familie kennenlernte, und jetzt sind alle verheiratet, aber trotzdem: Zu wissen, dass ich spätestens jetzt keine Angst mehr vor ihm haben musste, das war angenehm. Dass er rhetorisch nicht mehr so imponierte wie früher, als ich keine Ahnung von Rhetorik hatte und mich einfach von ihm einschüchtern liess, half natürlich. Natürlich sah ich auch jene, die ich seit Ewigkeiten nicht gesehen hatte, beispielsweise die drei, mit denen ich seit UK kaum noch Kontakt hatte. Nur zwei, mit denen ich den UK absolviert hatte, sah ich nicht: beide waren schon lange ausgetreten, eine kurz vor, die andere nicht lange nach mir. Eine, mit der ich unschön auseinandergegangen war, begrüsste mich, als wäre nichts gewesen, wie man das eben als Erwachsene so macht. Es fühlte sich dennoch komplett falsch an. Eine andere, mit der ich nie gross zu tun hatte, freute sich auch, mich zu sehen, was für mich weder falsch noch richtig war, und mich mehr überraschte, weil ich sie als «moderner» im Kopf hatte und erwartet hätte, dass sie schon lange ausgetreten wäre. Und die dritte, deren Hochzeit ich (bewusst) verpasste, nachdem sie mich jahrelang nur an Versammlungen und Gottesdienste statt zum Zeit-Verbringen, wie man es als Jugendliche macht, einlud, trug ihren Ring mit viel Freude und Stolz. Dann gab es noch eine, mit der ich mich damals super verstand, bei der es auch kein Drama gab, aber auch nicht viel Kontakt (sie schreibt durchschnittlich alle zwei Monate oder seltener zurück). Bei den Gesprächen mit allen verschiedenen Mit-UK-Absolventinnen des Jahres 2015 fiel mir vor allem eines auf: Wir haben nichts, aber auch gar nichts (mehr) gemeinsam. Ohne den Glauben teile ich mit ihnen nur die gemeinsame Vergangenheit und so natürlich auch die Erinnerung an das UK-Lager, in dem sie mich vor allem husten hörten (Lungenentzündung). Aber ohne den Glauben gab es die Verbindung eben nicht mehr, oder sie war zu gering. Es war zumindest nicht mehr dasselbe. Das ist zwar irgendwie logisch und verständlich, denn es war der Grund, warum ich sie kennenlernte, und unsere Beziehung fusste auf gemeinsamem Verständnis von Jesus, und wir hatten uns alle entwickelt, seit wir (rund) 16 waren, ich natürlich in eine komplett andere Richtung als sie. Es war aber gleichzeitig auch sehr schockierend. Mir wurde erneut klar, wie bedingt die Liebe und Unterstützung, die ich damals erfuhr, wirklich war, und wie stark das Supportnetzwerk der EBG damals eine andere Person, mit der ich mich heute nicht mehr identifizieren kann, unterstützte. Ich hatte den Verlust schon beim Austritt mühselig versucht einzuordnen, aber so klar zu merken, dass der Verlust komplett gerechtfertigt war und mit meiner Persönlichkeit langfristig notwendig, somit unvermeidbar, war ein anderes, neues Level, und ein neuer Schock. Die Freundinnen, mit denen ich angereist war, die waren schon vor der EBG meine Freundinnen, und auch wenn ich sicher bin – besonders nach diesem Tag -, dass sie weiterhin wollen, dass ich wieder in die EBG komme, kann und konnte ich trotzdem weiterhin mit ihnen befreundet sein. Aber die anderen? Es «funkt» nicht mehr. Die Gefahr, dass ich mich wieder so verändere, um hineinzupassen, ist definitiv sehr gering.

Und so verbrachte ich meine Mittagspause damit, den jüngsten Sohn einer grösseren Familie für seinen älteren Bruder zu halten – ich hatte ihn als 16-jährigen in Erinnerung und jetzt war er plötzlich 24 und verheiratet – meinem Partner die ganzen Beziehungen und Verwandtschaften zu erklären, und festzustellen, wie fern ich den durchschnittlichen Menschen dort unterdessen war. Und natürlich damit, mein Sandwich und dann mein Dessert zu essen, und alle aufliegende Literatur einzusammeln. Gewisse Dinge ändern sich eben doch nicht.

Gott und die Zeit

Nach der Mittagspause ging es weiter. Es wurde erneut etwa zwanzig Minuten vor offiziellem Beginn gesungen bis zum Beginn, dann kam ein Musikstück der Absolvierenden – zwei Querflöten und ein Klavier, leider nicht so sicher wie am Morgen, und das Klavier musste offensichtlich mehrmals auf die Querflöten warten, aber es sind auch erst 16-jährige – und es kam erneut eine Einleitung, diesmal von Philipp Grossenbacher, und ein Gebet. Dort fiel mir wieder auf, dass Personen gern als «Brüder» bezeichnen und bezeichnet werden. Die UK-Absolvierenden rezitierten einen anderen Teil des Psalms 139, und Christoph Sardi predigte. Er sprach darüber, wie Jesus eine neue Kreatur aus Menschen macht («Darum: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen; siehe, es ist alles neu geworden!», 2. Korinther 5, 17 aus Schlachter 2000), und sprach darüber, dass einen der Teufel versucht – ich notierte mir diesen Teil der Predigt zusammenfassend als «Verteufelung des Teufels» – und dass man (ziemlich sofort) sündige, wenn man nicht wachsam sei. Man müsse ausharren, ein weiteres, in der EBG beliebtes Wort. Christoph bezog sich in seiner Predigt nicht nur auf den Bibeltext – Psalm 139, 13-16 – sondern auch auf gesungene Lieder, und diverse andere Bibelverse. Es war etwas chaotisch, aber ich kannte es ja. Die Struktur war ganz typisch: Ein Bibeltext wird chronologisch erläutert, es wird anekdotisch erzählt, ergänzt, andere Bibelverse werden genannt. Christoph erklärte, Gott hätte uns wunderbar gemacht, wir sollen Gott dafür danken, «und wenn du älter wirst», zählte dann auf, was plötzlich alles schmerzen und stören könnte, und endete diesen Teil mit «dank ihm trotzdem». Dann erzählte er noch eine Geschichte eines anderen Predigers – den ich schon lange nicht mehr gesehen hatte – der Gott als Kind einmal bat, ihm sich zu zeigen, am nächsten Tag verschlafen hatte, voller Stress in die Schule ging und dann merkte, dass alle anderen auch noch draussen waren. Der Kamin hätte geraucht und man hätte nicht hineingehen können. Er hatte verschlafen, aber es war niemandem aufgefallen. Abgesehen von der schönen Geschichte erstaunte es mich, dass ein Prediger die Geschichte eines anderen Predigers erzählte. Durfte er das? Ist der andere in der Zwischenzeit gestorben? (Oder «nach Hause gegangen», wie man in der EBG sagt.) Nicht dass ich wüsste, denn niemand machte einen entsprechenden Kommentar. Aber jetzt weiss ich, woher ich mein Verständnis von Zeit habe: Gott ist zeitunabhängig, und somit könnte ich morgen für gestern beten. Beispielsweise, wenn ich nicht mehr wusste, ob ich etwas eingepackt hatte. Ich betete einfach «Gott, bitte lass es mich eingepackt haben», und dann tauchte es meistens auf.

Weitere Aufsätze und eine harte Meinung

Es ging weiter mit dem nächsten UK-Lied und drei Aufsätzen, zu den Themen «Wunder der Schöpfung», «Wer ist Gott» und «Wie ich die Wiedergeburt erlebt habe». Einer der Jugendlichen erklärte, dass der Grund dafür, dass wir keine Bilder von Gott machen durften, war, da es ihn in «seiner Herrlichkeit verkleinern» würde. Und die Dreieinigkeit, die könnten wir nicht verstehen, solange wir Menschen wären. Gott zeige sich einfach auf drei verschiedene Arten. Der Aufsatz über die eigene Wiedergeburt war wieder bekannt, es ging wieder darum «wenn ich so weitermache…» und es wurde sich mehrmals bekehrt.

Und dann möchte ich noch ein hartes Urteil über die Aufsätze des gesamten Tages fällen: Ich weiss, es sind 16-jährige, mit unterschiedlichen Bildungsgraden und unterschiedlichem schulischen Engagement, aber die Aufsätze waren weder gut noch schön vorgelesen. Die wenigen, welche schön vorgelesen wurden, waren rhetorisch oder logisch nicht besonders gut. Aber nach dieser Konferenz kann ich es niemandem vorwerfen, in der EBG keine Logik zu lernen. Ich erhielt nicht den Eindruck, dass die Predigten besonders logisch geprägt waren. Und man kann nichts lernen, das man nicht mitkriegt. Das gesagt habend, zurückdenkend empfand ich den französischen Aufsatz als besten, vielleicht, weil er wirklich der Beste war, vielleicht auch, weil ich bei Sprachen, die nicht meine Muttersprache sind, geringere Anforderungen habe. Vielleicht sind die französischen Redner auch einfach besser.

Der Elefant in Psalm 139: Die Abtreibung

Es gab erneut ein Musikstück, eine Anekdote auf – breitestem – Berndeutsch, und eine nicht enorm subtile Anspielung auf den Wert des «ungeborenen Lebens». Ich weiss natürlich, wie die EBG zu Abtreibungen steht, und ich war bereits überrascht, wie wenig wir über das «ungeborene Leben» hörten, wo Psalm 139 mit seinem Vers 13 «Denn du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe.» (Lutherbibel 2017) eine beliebte Grundlage sein dürfte. Die Abtreibungsreferenz kam da, als der Prediger ein weisses Blatt hochhob und uns fragte, ob wir das Blatt sähen («ja»), und ob wir denn auch den schwarzen Punkt sähen («nein»). So klein sei ein Embryo in der 5. Woche, und schon da habe Gott es gesehen, und alle seine Tage gezählt. Also kurz für alle, die nicht mitgekommen sind: Wenn Gott es sieht und die Tage gezählt und den Plan für das Kind ausgelegt, hat der Mensch kein Recht, sich da einzumischen und das Kind vorzeitig zu entfernen. Dass ein allwissender Gott wohl auch weiss, wann jemand abtreiben würde, und dies bei seiner allwissenden Planung selbstverständlich berücksichtigen kann, wurde nicht erwähnt. Das wäre vielleicht auch zu viel erwartet von einer Gemeinde mit durchschnittlich sechs Kindern pro Familie.

Der Prediger, dessen Name ich leider nicht kannte (und mir nicht merken konnte), sprach am Ende seiner Ausführung darüber, dass wir unsere Gaben für Gott einsetzen sollten. Das führte mich zu meiner alten Frage: Was ist «meine Gabe»? Wer weiss, vielleicht will Gott, dass ich über christliche Gemeinden schreibe. Das wäre «gäbig», denn das mache ich gern. Ob der Prediger das auch gemeint hatte? Wer weiss.

Der Schluss und der andere Elefant im Psalm 139

Es gab erneut ein Musikstück, der Männerchor und der UK sangen ein anderes Lied zusammen, und die letzten Verse des Psalms wurden genannt. Was den ganzen Tag lang auch nicht ansatzweise erwähnt wurde, obwohl der ganze Rest des Psalms durchgenommen wurde, waren die folgenden Verse: « Ach, Gott, wolltest du doch den Frevler töten! Dass doch die Blutgierigen von mir wichen! Denn voller Tücke reden sie von dir, und deine Feinde erheben sich ohne Ursache. Sollte ich nicht hassen, HERR, die dich hassen, und verabscheuen, die sich gegen dich erheben? Ich hasse sie mit ganzem Ernst; sie sind mir zu Feinden geworden.» (Lutherbibel 2017, Psalm 139, Verse 19 – 22). Ich hatte mich nämlich schon den ganzen Tag gefragt, wie sie diese Verse christlich einordnen würden, wenn doch Gottes Wort 1:1 verstanden werden muss. Nach dieser enttäuschenden Feststellung sprach noch ein Missionar, der in der Schweiz in den Ferien und sonst in Madagaskar ist, der erklärte, «wir» Christen seien berufen zu leuchten, wie es im Matthäus 5, 13-15 steht, und dass wir im Alltag Gott treu sein sollen. Wir sollen für Jesus herausstechen, was als weibliches EBG-Mitglied – was ich als ehemaliges bestätigen kann – sehr einfach ist: Man braucht sich nur entsprechend zu kleiden, zu jeder Tages- und Nachtzeit ausser im Sportunterricht und wenn man im See badet, und schon fällt man auf und sticht «für Jesus» heraus. Der Missionar meinte «Gott geht mit: Du bist niemals allein», dann wurde gesungen, gebetet, die letzten Mitteilungen verkündigt und dann war es – endlich – fertig. Der Sauerstoffmangel in der Halle war unterdessen genügend gross, dass ich während dem Gebet kurz aufhörte, das Sprechen wahrzunehmen, und plötzlich dachte, es wäre schon vorbei. Zum Glück sass ich nur auf, statt sehr offensichtlich «Amen» in der Mitte des Gebets zu brüllen. Aber als wir dann endlich gehen konnten, war ich sehr erleichtert. Wir gönnten uns noch ein wenig Zvieri, ich begrüsste noch die paar Leute, die ich noch nicht gesehen hatte, und dann machten wir uns schnell auf unsere Verabschiedungsrunde. Die war kürzer als erwartet, denn eine Bekanntschaft redete so lange mit mir und meinem Partner, dass dieses Gespräch erst zu Ende war, als meine Freundinnen ihre gesamte Runde bereits gedreht hatten. Ich wollte aber mehr nach Hause als jetzt noch alle suchen, und so gingen wir.

Als meine Freundinnen mich zuhause abluden und weiterfuhren, merkte ich, dass sie meine Anwesenheit in der EBG vermissten. Die meisten Frauen in unserem Alter waren lange verheiratet, und beide hatten andere Prioritäten, als einen Typen zu heiraten. Der Sozialkreis war entsprechend: Entweder man verbringt Zeit mit den grosselterlichen Erwachsenen, oder man verbringt Zeit mit den kleinen Kindern. Andere Personen in meinem Alter sah ich, neben den anderen UK-lern, wenige. An diesem Tag nahm ich ein klares Fazit mit nach Hause: Ich bin unendlich froh, dass ich nicht mehr dazugehöre.

Angela Heldstab, 03.08.2023

Lexikoneintrag EBG