Meine Zeit in der Evangelischen Bibelgemeinde EBG

Es ist eine Weile her, und dauerte von 2014 bis 2016, von 13-jährig bis 15-jährig. Es war eine verhältnismässig anstrengende Zeit, mit viel Leid und Schmerz, aber auch vielen guten Erlebnissen und neuen Menschen. Es war eine Zeit, die mich sehr geprägt hat, vermutlich am meisten geprägt von all meinen verschiedenen Phasen, die Jugendliche, so auch ich, eben durchmach(t)en.

Meine EBG-Zeit. In diesem Aussteigerbericht erzähle ich von meinen Erlebnissen, mit der Absicht, einerseits Einsicht in die Gruppe, andererseits Einsicht in eine Jugendliche, die von allein in so einer Gruppe landete, zu gewähren. Ich erzähle, was ich erlebt habe, um es zu erzählen, für mich selbst zum Schreiben und für andere zum Lesen. Es ist gut möglich, dass Gespräche nicht ganz genau so abliefen, ich habe es jeweils sinngemäss und wie ich mich daran erinnere, wiedergegeben.

Der Aussteigerbericht ist erst chronologisch, mit Erzählung über die Anwerbungsphase, meine Bekehrung, dann der nächste Meilenstein – der UK, Unterweisungskurs, quasi Konfirmationslager – und dann der Austritt. Danach kommen kürzere oder längere Erzählungen über Erfahrungen, die ich machte, von denen ich nicht mehr sagen kann, ob sie vor oder nach dem UK stattfanden, denn es ist eine Weile her. Besonders empfehlen möchte ich den Brief an meine Familie und die Schulzeit. Interessieren könnten auch die Kapitel über Frauen, über Sex, und was alles erlaubt war (und was nicht).

Besonders wichtig ist mir, dass die Lesenden (möglichst) nicht urteilen. Meinetwegen über Gruppen und Institutionen, aber nicht über Menschen. Wir haben alle, so denke ich, nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt, einander manchmal verletzt und mal unterstützt, ob absichtlich oder nicht.

Terminologie

Die EBG nutzt das Wort «Versammlung» für den sonntäglichen «Gottesdienst» (Begründung «man dient Gott täglich, nicht nur sonntags») und «gläubig» für Christinnen und Christen, die bekehrt sind und «bibeltreu» leben, wobei das sich eher auf das Neue Testament bezieht – sie befolgen also nicht die Regeln des Alten Testaments. Gläubig sind Menschen, die an Gott glauben, und eventuell regelmässig in einen Gottesdienst gehen, somit nicht zwingend. Ich verwende dieses Wort in meinem Bericht trotzdem für meine Familienmitglieder, da diese durchaus an Gott glauben und in ihrem Glauben aufrecht und ehrlich sind, auch wenn sie weder bekehrt noch bibeltreu sind oder sein wollen. Dann noch kurz das «Freikirchenglossar»:

Bekehrung: Sündenbusse und Bekennung zu Jesus

Wiedergeburt: Wenn der heilige Geist im Menschen «ankommt»

Taufe: Bekenntnis zu Jesus, häufig mehrere Jahre nach der Bekehrung

Gläubig: Personen, die mit Jesus leben, häufig Notwendigkeit von «Bibeltreue»

Ungläubig: selten verwendetes Wort für Personen, die nicht «bibeltreu» an Gott glauben; häufiger: Personen, die in der Welt leben oder Personen, die ohne Jesus leben

Zeugnis ablegen: Häufig vor versammelter Gemeinde geteilte Erfahrung oder geteiltes Erlebnis, in welchem einen Gott als besonders präsent vorkam oder besonders half

Entrückung: Ereignis, in welchem alle Christen plötzlich verschwinden. Umstritten ist, wann genau dies stattfindet in Relation zum zweiten Kommen von Jesus und ob sie ihre Kleider zurücklassen oder nicht.

2. Kommen von Jesus: Auch bekannt als «jüngstes Gericht». Mal ist dies 7 oder 3.5 Jahre nach der Entrückung, in der EBG ist es entschieden nicht gleichzeitig, wie in vielen anderen Gemeinden. Jesus komme dann als «Richter».

Endzeit: Der letzte Teil der Zeit, bevor Jesus das zweite Mal kommt. Seit den Aposteln, oder Jesu erstem «Gehen» sagt man, wir leben jetzt in der Endzeit, ob wir aber 2 Tage vor Jesu 2. Kommen sind oder ein drittes Mal 1000 Jahre vor dem jüngsten Gericht entfernt, ist unklar.

Geistesgaben: In Pfingstgemeinden / charismatischen Gruppen beliebte Gaben wie Zungenrede, Prophetie, Heilung etc. Die EBG spricht sich entschieden dagegen aus und erklärt, dass Geistesgaben heute nicht mehr vergeben werden.


Von der Bekehrung bis zum Austritt
Anwerbungsphase und Bekehrung

In Kontakt mit der EBG kam ich durch eine Freundin und ihre Familie – nennen wir sie Samira -, während ich die Sekundarschule besuchte. Wir gingen an die gleiche Schule und redeten immer wieder über den Glauben. Ich wuchs in einer Familie mit starker Bindung zur reformierten Kirche auf, und meine Kinderbibel war eines meiner meistgelesenen Bücher, was in meinem Fall viel heisst. Mit Samira habe ich über «Gott und die Welt», Astrologie und Harry Potter diskutiert, und ihre Mutter begann, ihr für mich eine Tasche mit «Schoggistängeli» und Bibelversen mitzugeben. Diese erhalte ich tatsächlich auch heute noch, was ich durchaus schätze. Sie luden mich öfters ein, an die Versammlung, die Sonntagsschule oder die Jugendgruppe zu kommen, was ich eigentlich etwa ein halbes Jahr lang ausschlug. Irgendwann kehrte es – ich weiss nicht, warum, aber es war in den Sommerferien. Wir redeten über Sünden und ich erzählte ihnen so einiges aus meinem Leben, was mich immer belastet hatte, und was ich nie jemandem erzählen konnte, oder das Gefühl hatte, ich könnte es nicht erzählen. Rückblickend glaube ich, das war wichtig. Ich hatte endlich eine Vertrauensperson. Die war zwar gleich alt wie ich, aber ich konnte endlich darüber reden, was mich so lange belastet hatte, was ich so lange nur «mit Gott» besprochen hatte. Rückblickend wäre ich vielleicht besser direkt in die Psychotherapie gegangen. Davon waren aber sowohl meine Eltern als auch die EBG (und damit Samiras Familie) nicht besonders begeistert. So begann ich also, die Versammlungen der EBG zu besuchen, in denen immer wieder darüber geredet wurde, dass man sich bekehren müsse. Das war mir neu. In der reformierten Kirche gibt es keine Bekehrung, höchstens die Konfirmation und ein persönliches Glaubensbekenntnis. Ich sprach also mit Samira über die Bekehrung. Ich fühlte mich durch die Versammlungen dazu gedrängt, diese zu machen, und hatte das Gefühl, es war noch viel zu früh – ich verstand zu wenig davon, was eine Bekehrung war, was sie bedeutete, wie sie ablief, und so weiter. Samira beruhigte mich. Ich weiss nicht mehr, was sie sagte, aber es ging in die Richtung «lieber jetzt als zu spät». Ihre Familie organisierte dann die ganze Bekehrung. Ich würde mich am (passenden) Buss- und Bettag, am 21. September 2014, an der Konferenz in Biberist bekehren. Es gab noch eine Diskussion, bei wem ich mich bekehren würde: entweder Philipp, dessen Frau aber eher zurückhaltend wirkte, oder Oskar, dessen Tochter sie sehr gut kannten. Am Schluss entschieden sie sich für Oskar. Ich kannte beide nicht, also war es mir egal. Die Anwesenheit einer Frau wurde mir als wichtig mitgeteilt: Man könnte sich schon ohne Drittperson bekehren, aber die Prediger wollten Kontroversen vermeiden und junge, weinende Mädchen nicht berühren. Man könne ihnen höchstens ein Taschentuch reichen. Mir gefiel das Engagement zur Vermeidung solcher Übergriffe (und solcher Übergriffsgerüchte), besonders weil meine Mutter die ganze Zeit Angst hatte, dass jemand in der EBG übergriffig werden könnte, und sich entsprechend laut (und fast schon aggressiv) Sorgen machte. Ob vor, während oder nach meiner Zeit jemals Übergriffe stattgefunden haben, kann ich nicht einschätzen. Es ist durchaus möglich, dass vor meiner Zeit mal etwas passierte, was dazu führte, dass sie diese Massnahmen einleiteten. Ich ging also an diesem Tag an die Konferenz, hatte schön eine Liste meiner «Sünden», die ich dann bekennen würde, vorbereitet, und war ziemlich nervös. Über die Mittagspause ging ich dann mit Oskar und Ramona, wie wir seine Tochter nun nennen, auf die Suche nach einem geeigneten Bekehrungsraum. Wir landeten in einem Vorraum der Waschküche, das heisst, in einem kleineren Raum, dessen Tür offen war, standen Waschmaschine und Tumbler. Ich war sowieso nervös und hatte keine Ahnung davon, was bei einer Bekehrung normal war, dass es mir wiederum egal war. Oskar war zu diesem Zeitpunkt bereits Grossvater von Ramonas Kindern, die in meinem Alter waren, und sein starker Berner Dialekt war für mich eine erste Herausforderung. Die Bekehrung lief in etwa wie folgt ab: Wir setzten uns, redeten, ich wurde gefragt, warum ich mich bekehren wolle, wir lasen gemeinsam die Bibel, Oskar redete über die Notwendigkeit, sich zu bekehren, sich zu Christus zu bekennen, und während ich nicht mehr alles weiss, blieb mir eines: Er fragte mich, warum ein Milchkrug so genannt wurde. Da verwendete er aber ein Berner Wort für den Milchkrug, das ich nicht kannte. Vielleicht war auch einfach «Miuch» ein zu neues Wort – ich wuchs ohne jegliches Berndeutsch auf. Glücklicherweise kommentierte Ramona, dass das Wort «Milchkrug» bedeute, was seine ganze Erklärung wiederum erklärte: Ein Milchkrug ist ein Milchkrug, weil Milch drin ist. Ein Christ ist ein Christ, weil Christus drin ist. Während ich als 13-jährige natürlich direkt die klassischen pubertierenden Gedanken hatte (à la «haha, sex mit jesus»), schob ich den Gedanken ganz weit nach hinten in meinem Kopf und nickte verständnisvoll (vor allem, weil ich endlich verstand, dass es um einen Milchkrug ging). Ich musste irgendwann meine Sünden bekennen, habe aber das Timing verwechselt – ich hatte schon viel zu früh mit einer Aufzählung begonnen, und als mir dann später mitgeteilt wurde, meine Sünden zu bekennen, war das Thema in meinem Kopf eigentlich abgeschlossen. Es war entsprechend anspruchsvoll, irgendwie doch noch genügende Sünden aufzuzählen. Wie ich später herausgefunden habe, reicht grundsätzlich eine einzige Sünde, um sich zu bekehren. Gar keine hat niemand, auch wenn anscheinend ein EBG-Kind dem einmal sehr nahe kam, und sie intensiv nach Sünden suchen mussten. Zudem hatte ich das Gefühl, dass Oskar von mir fast mehr Sünden erwartete, da ich ja nicht einmal in einem gläubigen Haushalt aufwuchs. Jedes Mal, wenn mir gerade nichts mehr einfiel, fühlte ich mich fast schon dazu gedrängt, mehr aufzuzählen. Zu all meinen Sünden führte er jeweils aus, was daran alles schlecht war, und bezog sich immer wieder auf die Bibel. Das war ein wenig anstrengend, denn wenn ich nicht sowieso schon gewusst hätte, dass es eine Sünde war (für die EBG), hätte ich sie gar nicht aufgezählt. Nach meinem fast schon unbeholfenen Aufzählen weiterer Sünden knieten wir auf den Boden, falteten die Hände auf dem Stuhl und beteten um Vergebung. Leider war in meinem Kopf Jesus schon für meine Sünden gestorben (was wohl der falsche Zeitpunkt an der Bekehrung war), und ich dankte ihm dafür. Da unterbrach mich Oskar im Gebet und sagte: «Tut es dir überhaupt leid?» Dieser Satz ist mir eingefahren. Ich habe einen grösseren Teil der Bekehrung nicht mehr wortgenau im Kopf, aber dieser Satz hängt mir auch 9 Jahre später noch in den Ohren. Ich erschrak in diesem Moment enorm und war kurz den Tränen nahe. Da merkte ich: falscher Zeitpunkt, um Gott zu danken. Der kam später, nachdem mir Oskar von der Rettung meines armen Sünderdaseins durch Jesus erzählte. Wie gesagt: Das war zwar nichts Neues für mich, aber ich tat zumindest so. Alles in allem war meine Bekehrung eher psychisch belastend als entlastend. Als ich – etwas später als Konferenzbeginn – wieder zu Samira und meinen Freundinnen ging, fühlte ich mich merkwürdig. Damals erzählte ich ihnen, ich glaube, ich spüre den heiligen Geist. Heute würde ich eher vermuten, dass ich wegen der emotionalen Belastung einfach zu dissoziieren begann. Irgendwie fühlte sich nichts mehr real an.

Ich wusste von vornherein, dass viele Personen an einer Bekehrung weinten, weil sie endlich Jesu Opfer und Gottes Gnade erfahren würden. Ich wuchs aber in einem gläubigen – auch wenn reformiert-geprägtem, und nicht freikirchlichem – Haushalt auf, und der Neuigkeitsgehalt dieser Nachricht lag eher tief. Während meiner Bekehrung fühlte ich mich aber immer gestresster und falscher und schlechter, sodass ich etwa ab der zweiten Hälfte Tränen in meinen Augen hatte. Ich glaube, Oskar wartete darauf. Sobald die Tränen aufkamen, schien er zufrieden und das Gespräch verlief weniger stressig. Vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet – es ist schwierig, in dem Alter andere Menschen so gut zu klassifizieren, und rückwirkend weiss ich nicht mehr alles. Alles in allem war meine Bekehrung gar nicht so ein «rettender Moment», das erzählte ich aber natürlich niemandem. Endlich ging es in den Versammlungen nicht mehr darum, dass wir armen Sünder uns bekehren müssen, sondern auch um andere Teile der Bibel. Da merkte ich: Sie hatten den Inhalt der Versammlung angepasst, da sie wussten, dass ich kommen würde (Samiras Familie hatte sie vermutlich informiert). Jetzt, wo ich bekehrt war, brauchten sie mich nicht mehr zu retten, also konnte ich hören, wie ich jetzt in meinem christlichen Leben sein konnte. Zur Bekehrung erhielt ich ausserdem ein Geschenk von Ramona: eine Menora (siebenteiliger Kerzenständer, der nur im Tempel angezündet werden darf) sowie die Information, dass ich erst das Johannesevangelium lesen soll, weil dies für neu Bekehrte das beste Evangelium sei. Ein wenig hatte ich in der EBG immer den Eindruck, dass sie dachten, ich hätte keine Ahnung vom christlichen Gott oder der Bibel, nur weil meine Eltern eben nicht in einer «bibeltreuen» Gruppe waren. Umso schöner war es, wenn ich in den «was passierte genau in dieser Geschichte»-Quizfragen mit gleichaltrigen EBG-Jugendlichen den Tisch komplett abräumte, weil ich meine Kinderbibel ja durchaus sehr gut kannte, und im Religionsunterricht auch ganz gut war.

Der UK und die Lungenentzündung

Der nächste Meilenstein meiner religiösen Entwicklung war der Unterweisungskurs. Hierbei handelt es sich um einen zweiwöchigen Kurs, fast schon ein «Sommerlager», in welchem ca. 16-jährige EBG-Mitglieder zwei Wochen lang mit Predigern mehr über den eigenen Glauben lernen. Ich nenne den Kurs manchmal spasseshalber «Indoktrinationskurs». Dieser Kurs ist mit einer zeitlich kürzeren Konfirmation oder Firmung zu vergleichen, bei welcher die Informationen der zweijährigen Konfirmationsunterrichts auf zwei Wochen komprimiert werden. Am Konfirmandenunterricht der reformierten Kirche nahm ich auch teil, aber zeitlich später als am UK. Samiras Familie setzte sich ein, dass ich ein wenig früher den UK absolvieren konnte, da sie merkten, dass mir Wissen fehlte, und dass ich enorm wissensdurstig war. Das lag vielleicht daran, dass ich jede Woche ein neues Buch (oder drei) aus der «Ortsgemeindebibliothek» auslehnte und alles am nächsten Sonntag gelesen zurückbrachte. Und dann war es so weit. Meine Mutter und Schwester fuhren mich an den Ort, an welchem mein UK stattfinden würde. Dabei hatte meine Schwester Hotpants (kurze, enge Hosen) an, was schon für Aufsehen und ein paar merkwürdige Blicke, wie sie mir später erzählte, sorgte. Offen beklagt hat sich niemand, man musste meiner ungläubigen Familie den wahren Glauben vorleben, damit diese sich ebenfalls bekehren würden. Zwei Wochen lang wohnte ich mit 7 anderen Mädchen im (ausreichend grossen) Haus eines Predigers. Durchaus aufregend, nur war mir am zweiten Tag schlecht. Und am fünften. Am sechsten, Tag des Fotoshootings, war ich so blass, dass wir zum (christlichen) Arzt gingen. Der merkte noch nichts und schickte mich in die Bettruhe. Am Sonntag gings mir so schlecht, dass ich nicht einmal in die Versammlung, die gemeinsam mit den Jungs besucht wurde, gehen konnte, sondern einfach schlief. Montag fanden wir raus: Lungenentzündung. So ging ich in die Geschichte ein als die, die erstens: aus einer ungläubigen Familie so jung schon die «Wahrheit» erfuhr, aber auch zweitens: am UK krank wurde, und von Gott (und den Antibiotika) geheilt wurde. Zumindest bin ich froh, dass ich bei einer Gemeinde landete, die wenigstens nicht medizinkritisch war, ansonsten hätte das unschön enden können. Wie es neulich bei Corona aussah, weiss ich nicht. Ich nahm also Antibiotika bis und mit Ende UK, vielleicht auch noch länger, ich bin nicht mehr sicher, und verpasste einen Teil des Kurses, neben einigen Halbtagen und der Sonntagsversammlung auch die Wanderung am Dienstag. Dafür las ich die Bibel fertig (mir fehlten nur noch ein paar Psalmen) und begann, «Pidgin» – Tok Pisin, die Kreolsprache in Papua Neu Guinea, kurz PNG – zu lernen. Viele EBG-Prediger und ihre Familien waren bereits in PNG, mehrere Jahre lang auf Missionierungstour. So auch Philipp, bei dem ich mich vielleicht bekehrt hätte, und Oskar, bei dem ich mich bekehrte. Die Tochter von letzterem, hier Ramona genannt, wuchs sogar in PNG auf, wie die Kinder von Philipp auch. Und wenn ich während des UKs meine Medizin nehmen sollte, rief mich die Betreuerin jeweils mit «Susa, marasin!», was übersetzt «Schwester, Medizin!» heisst. Schwester natürlich im Sinne von Glaubensschwester. Ich selbst überlegte mir zu dieser Zeit, auch mal zu missionieren, rückblickend ging es mir aber wohl eher um den Spracherwerb und das Kennenlernen neuer Kulturen, und nur sekundär um die Rettung und das Seelenheil anderer Personen. Ich betrachtete andere Götter zwar als falsch, aber eher für mich selbst als für andere Menschen. Ganz spannend bei meiner Erkrankung waren auch die verschiedenen Interpretationen, warum ich den krank geworden sei. Realistisch könnte ich mich angesteckt und der Durchzug, in dem ich das vorhergehende Wochenende war, die Erkrankung begünstigt haben. Eben irgendwas medizinisch-begründetes. Meine Mutter fand, das sei ein Zeichen, dass mein Körper sich gegen die EBG wehrte, und versuchte mich davon zu überzeugen, dass ich auf meinen Körper hören und die EBG verlassen soll. Half nicht. Die EBG fand «hm. Das könnte ein letztes Überbleibsel von Satan sein, der sich ein letztes Mal dagegen wehrt, dass sie weg von seiner Kontrolle und unter die Kontrolle von Gott kommt.» Also gab es in erster Linie ein Gespräch mit den zwei Predigern, die den UK leiteten, und der weiblichen Unterstützung und Frau einer der beiden, die mich während und nach meinem UK sehr begleitet und unterstützt hat. Sie nannte sich spasseshalber «UK-Tante», und war eine der Frauen, mit denen ich häufig intensivem Kontakt hatte, und weiterhin habe. Wir sassen zu viert da und dachten nach, was denn da sein könnte. Irgendwann entschieden die Prediger, mich mit ihr allein zu lassen, da es sich möglicherweise um ein «Frauenthema» handeln könnte, und wir sassen zu zweit da. Wie ich viel später erfahren habe, ist das Frauenthema in diesem Kontext als «Thema zu Sex und Sexualität» zu interpretieren. Ich fragte mich damals, was die Mens (in meinem Kopf das einzige «Frauenthema») mit Sünden zu tun hatte. Ich erzählte also das einzige, das mir einfiel: Mein Schwarm für einen Jungen in der EBG. Nach dem Gespräch ging es mir mental um einiges besser, da ich nicht wirklich über ihn (oder mit ihm) reden konnte. Schliesslich war ich 14 Jahre alt und weit von einer Hochzeit entfernt, und dazu noch überfordert und unerfahren mit solchen Themen. Gegen die Lungenentzündung brachte dieses Gespräch nichts, und am Sonntag, als noch nichts entdeckt war und es mir dennoch ziemlich schlecht ging – ich schlief einfach den ganzen Tag -, kamen die drei unerwartet ins Zimmer, formten einen Kreis und erklärten mir folgendes: Sie würden mich jetzt salben. In der Bibel stehe, man müsse Kranke salben. Irgendwo im Jakobus, wenn es mir richtig im Kopf ist, auch wenn es dort wohl eher um Sterbende als um 14-Jährige mit Lungenentzündung geht. Eigentlich steht, man müsse selbst die Ältesten der Gemeinde zu sich rufen, aber ich war krank und sie dachten wohl, dass ich vermutlich nie davon gehört hätte, da meine Eltern ja (im Vergleich zur EBG) nicht sehr bibelorientiert leben, lasen mir den betroffenen Vers vor und erklärten die Situation. Ich stimmte zu. Sie beteten also mit mir (ich lag einfach da und versuchte, nicht einzuschlafen), und salbten mich dann mit Salböl. Es war ein merkwürdiges Gefühl, wenn jemand einfach die Stirn einstreicht, während alle fast verzweifelt daneben sitzen und nicht mehr wissen, was man sonst noch machen könnte, damit ich wieder gesund werde. Fast so, als wäre ich wirklich am Sterben gewesen. Tatsächlich machte ich an irgendeinem Punkt während des Uks, aber etwas vor dieser Salbung, einen geschmackslosen Kommentar, in etwa: «ah, ich bin (fast) am sterben». Während es als Witz nicht besonders lustig ist, reagierte ein Prediger darauf mit der Frage: «Willst du denn sterben?» Was antwortet man darauf? Ich sagte nichts. Ich dachte nach. Wollte ich sterben? Ich wollte nicht mehr die ganze Zeit mit meiner Familie streiten. Ich wollte mich nicht mehr so schlecht fühlen. Die ganze Angelegenheit war enorm belastend für mich und ich erfuhr nur von Seite der EBG Unterstützung. Meine Familie feuerte immer nur gegen die EBG. Gleichzeitig wusste ich: Selbstmord kann ich nicht begehen, das wäre sündhaft, und ich könnte danach nicht um Vergebung bitten, weil ich weg wäre. Sterben müsste ich zufällig. Wollte ich sterben? Irgendwie schon. Es wäre schön, einfach aus dieser enormen Anstrengung raus. Wenn ich einfach sterben würde, dann wär’s fertig und ich hätte nicht einmal gesündigt. Wenn dann so ein Prediger raushaut «willst du sterben?», dann ist das irgendwie schmerzhaft. Und ob es psychologisch-therapeutisch der richtige Ansatz ist, weiss ich auch nicht. Aber Psychologen (und Psychiater) waren in der EBG sowieso verachtet, mit der Begründung: «die verwirren einen nur». Aus demselben Grund wurde mir von einem Theologie-Studium abgeraten: «das verwirrt einen nur (im Glauben)». Ich betrachte meine Therapie nicht als Verwirrung und wäre froh, wenn ich schon viel früher gehen hätte können; es hätte mir viel Leid erspart. Am UK selbst sprachen wir nicht darüber. Wir sprachen über die Rettung durch Jesus, dass alle Menschen unter satanischem Einfluss stehen, bis sie unter Gottes Einfluss sind, warum Rockmusik satanisch ist (unter anderem wegen dem Rhythmus), warum Tanzen schlecht ist («vertikales Ausdrücken einer horizontalen Tat», ja, es ging wieder um Sex), und so weiter. Wir hatten ausserdem den Auftrag, Psalm 91 (wenn ich mich recht entsinne) auswendig zu lernen. Ganz gelungen ist es uns nicht, ich glaube, nur ein bis zwei meiner Gruppe lernten ihn auch wirklich auswendig.

Wir erhielten alle einen Ordner, der im Preis des Kurses inbegriffen war, und arbeiteten diesen gemeinsam durch. Dabei hatten wir nicht alles, das im Ordner war, auch wirklich durchgearbeitet. Die Arbeitsblätter waren genau das, Arbeitsblätter. Auf einer der ersten Seiten ging es darum, wer unser Gott ist. Bei den leeren Zeilen schrieben wir (sinngemäss) auf «Gott, der Vater», «Jesus Christus, der Sohn», und «Der Heilige Geist». Bei jeder leeren Zeile oder Aussage stand eine Referenz zu einem (oder mehreren) Bibelvers(en), in welchem dies stand. Dann sprachen wir über den Sündenfall. Das Verlassen von Gottes Gegenwart. Ich weiss nicht, wie viel Alttestamentliches wir diskutiert haben, aber der Prediger (das Buch, etwa in der Mitte der Bibel) wurde mehrfach zitiert. Dabei im Kopf geblieben ist mir das «Haschen nach Wind» aus Prediger 1, 14. «Alles Tun, das unter der Sonne geschieht,» ist «eitel und Haschen nach Wind». Und so ist jedes Imperium, das man auf der Erde aufbaut, effektiv wertlos, denn wenn man stirbt, ist es weg. Ein Haschen nach Wind, der sowieso wegbläst. Und weil es weg sein wird, brauchen wir auch nicht danach zu streben. Der Wind kommt, wie er geht. Mit diesem Verständnis kann man sehr schnell darauf kommen, was auch unsere Schlussfolgerung war, nämlich dass das, was nach dem Tod kommt, wichtiger ist als das, was sowieso vorbeigeht. Und was nach dem Tod kommt: Wir haben die Wahl, zwischen Himmel und Hölle zu wählen. Himmel heisst, ewige Gemeinschaft mit Gott, ihn tagein, tagaus loben und preisen und ehren, Hölle heisst, ewig verbrannt werden. (In einer Versammlung hiess es einmal, vielleicht auch «ewig fallen», «ewig nicht in Gottes Gegenwart sein»). Dafür erklärte Philipp illustrativ, wie heftig das Leiden sein könne. Er zeigte auf die kürzeste Strecke im Raum, von einer Tür zur gegenüberliegenden, und fragte, ob wir es aushalten könnten, diese fünf-Sekunden-Strecke zu laufen, wenn es hier drin brennen würde. Wie stark wir leiden würden, wenn alles Feuer wäre. Die Antworten lauteten natürlich «nein, könnten wir nicht», und «sehr fest». So stark über die Hölle zu sprechen, das war mir neu. Ich hatte nur im Religionsunterricht beim ersten und zweiten Anschauen desselben Martin Luther Films (irgendwie schien den jeweiligen Lehrpersonen nicht klar zu sein, dass wir den schonmal gesehen hatten?) einen Eindruck erhalten. Und dort war die Botschaft, die ich erhielt, eher «katholische Kirche = böse, und darum ging Luther weg von dieser angstmachenden, Höllenfeuer-lehrenden Kirche». Dass die katholische Kirche nicht böse ist, weiss ich unterdessen. Und dass Luther auch nicht wegwollte, weiss ich unterdessen auch. Naja. Philipp erklärte mit seinem Beispiel eindrücklich, dass wir es keine Sekunde in dem Feuer aushalten würden. Es war fast schon Angstmacherei, und ich bin enorm froh, dass die Angst vor der Hölle für mich damals so neu war. Wenn meine Eltern auch daran geglaubt hätten, dann wäre das Trauma sicher grösser. In dem Sinne tut es mir enorm leid für meine EBG-Mitmenschen, die mit dieser Angst aufwuchsen. Ich hatte schon Angst davor, nach dem Tod zu leiden, und wollte in diesem Kontext Sicherheit, aber diese erneute Angstmacherei gegenüber etwa 16-jährigen Jugendlichen empfand ich als unpassend. Vielleicht war auch das ein Punkt, von dem ich nicht so begeistert war.

Ausserdem lernten wir, wer Satan war. Kurz: Gefallener Engel, verführte Eva, und testet uns heute. Ist bei allem möglichen (wie eben Rockmusik) drin und kann sich sehr gut verstecken, und einen einlullen. Die EBG hinterliess bei mir über die zwei Jahre einen sehr abschottenden Eindruck. Einer der Gründe war auch, um sich vor Irrlehren zu schützen. Geistesgaben, wie sie in pfingstlich-charismatischen Kirchen gelehrt werden, wurde explizit abgelehnt. Wenn Gott keine mehr sendet, wer kann ihn ausreichend imitieren, und so die Christen täuschen, um sie von Gott abzuwenden? Genau, Satan, der täuschende Teufel.

Der Tagesablauf verlief in etwa wie folgt: Wir standen auf, versammelten uns am Tisch und hielten gemeinsam eine Andacht. Heisst: Wir lasen die Bibel und beteten zu Gott. Dann assen wir Frühstück und gingen in den «Unterrichtsraum». Dort sprachen wir über das jeweilige Thema, das wir eben gerade anschauen würden, ganz im Schulunterricht-Stil. Besonders gut im Kopf geblieben sind mir all die Fliegen, die dort herumflogen, und die detaillierte Beschreibung der Hölle als ein feuriger Ort, das Haschen nach Wind und die Herrschaft des Teufels über alle, bei denen nicht Jesus herrscht. In der Mitte des Morgens gab es eine kleine Pause, dann ging es weiter, dann Mittagessen. Nachmittags machten wir erneut Unterricht. Einige Male kamen weitere Personen zu Besuch, zum Beispiel eine Frau, bei der ich überhaupt nicht mehr weiss, worüber sie sprach. Wahrscheinlich ging es um Sex, denn die Prediger waren nicht mehr im Zimmer. Ich hustete viel, wegen der Lungenentzündung, und sie schaute mich jedes Mal ein wenig genervt an. Irgendwann schickte mich meine «UK-Tante» ins Bett und erklärte der Vortragenden, dass ich krank war. Sobald die Frau herausgefunden hatte, dass ich wirklich krank war, und nicht einfach hustete, um sie zu unterbrechen (oder sonst etwas), wirkte sie um einiges verständnisvoller. Das war zumindest ein spannender Wechsel. Irgendwann war der Unterricht fertig, und wir spielten mal gemeinsam ein Spiel, dann Klavier – die Hälfte der Absolventinnen spielten damals Klavier -, dann Ping-Pong, und so weiter. Nach dem Abendessen gab es erneut eine Andacht. Wir beteten ausserdem jedes Mal vor dem Essen, vor dem Abfahren im Auto, und ganz grundsätzlich jedes Mal, wenn es irgendeinen Grund zu beten gab. Am Abschluss selbst waren zwei meiner Verwandten anwesend – die sich wohl «aufgeopfert» hatten, damit zumindest jemand ging, ich glaube, meine Mutter hätte es nicht ausgehalten – und einer der Prediger sprach darüber, wie eben auch jemand krank wurde, sie beteten und «ds Gspänli» (wenn ich mich richtig entsinne) jetzt wieder besser drauf war. Ich durfte ausserdem meinen Aufsatz vorlesen. Wir hatten alle einen Aufsatz geschrieben, und durften wählen zwischen «Wunder der Schöpfung», «Das 5. Gebot», und «Wie ich die Wiedergeburt erlebt habe». Ich wollte erst das erste nehmen, und dann kamen die UK-Leitenden und fanden, es wäre spannender, letzteres zu hören. Schliesslich war ich nicht aus einem gläubigen Elternhaus. Nachdem ich Jahre nach Austritt einmal wieder den UK-Abschluss besuchte, verstand ich auch warum: Der Aufsatz von Kindern aus gläubigen Elternhäusern ist enorm langweilig. Sprachlich ist es noch in Ordnung, es sind immer noch 16-jährige, aber inhaltlich: Sie bekehren sich erst als Kind, dann, nachdem sie den Eltern wieder nicht gehorcht haben, erneut als Jugendliche, dann «erfahren» sie Gottes Vergebung, aber diesmal vermutlich richtig und bleiben (bis auf Weiteres, bis zur nächsten Sünde, bis sie wieder Busse tun müssen). Die inhaltlichen Unterschiede zwischen den Aufsätzen sind minim. Ich schrieb also meinen Aufsatz, mit Unterstützung der UK-Tante, und las ihn also dort vor etwa 500 Leuten, inklusive meiner Grossmutter und meiner Tante, vor. Die meisten fanden es spannend und hörten gerne zu (sicherlich auch wegen der Abwechslung). Meine Verwandten waren nicht sehr begeistert davon, dass ich sie als ungläubig darstellte (auch wenn mein Satz nicht sehr gemein formuliert war, ich schrieb einfach, dass ich «Jesus» kennenlernte dank einer Freundin, und erwähnte kein «gläubiges Elternhaus» wie die anderen). Der Text endete und ich durfte wieder hinsitzen. Im Verlauf mussten wir noch Psalm 91, den wir auswendig lernen hätten müssen, aufsagen. Ich glaube, sie stellten die, welche es weniger wussten, in die hintere Reihe, damit wir ablesen konnten, und die vorne sagten es oder taten einfach so. Ausserdem konnten wir Lippenlesen, der Prediger sprach es uns vor. Einige Absolvierenden spielten ein Stück auf ihrem jeweiligen Instrument, so auch eine Freundin von mir, die unterdessen Musik studiert. Sie hatte auch ihren Text zum Thema «Gottes Schöpfung», den ich damals super fand, vorgelesen. Ein anderes Textthema, das mir blieb, war das 6. Gebot – du sollst niemanden töten. Vorgelesen hatte es der jüngste Sohn einer Predigerfamilie (und der häufigste Schwarm unter Gleichaltrigen, wirklich jede mochte ihn. Ich hatte meinen eigenen Schwarm, aber trotzdem. Unterdessen ist er verheiratet). Er sprach darüber, wie er manchmal auch Wut gegenüber seiner Familie verspürte, so intensiv, dass er sie am liebsten umbringen würde. Gewaltfantasien sind keine Seltenheit (wirklich nicht! Solange sie nur Fantasien bleiben, sind sie auch aus psychologischer Sicht total in Ordnung), aber religiöse Gemeinschaften, die mehr Regeln aufstellen als die Bibel selbst beinhaltet (also, wie die EBG), kombinieren auch das 6. Gebot und Matthäus 5, 28: «Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat mit ihr schon die Ehe gebrochen in seinem Herzen.» zu einem: «Wer jemanden ansieht, ihn zu töten, der hat ihn schon getötet in seinem Herzen.» Und so handelte der 1-2-seitige Aufsatz davon, wie er sich manchmal so über seine Familie aufregte, dass er sie am liebsten getötet hätte. Joa. Meine Verwandten waren in der Mittagspause nirgends zu sehen – sie waren in ein Restaurant geflohen – und teilten mir später mit, dass sie die Augen von allen, aber besonders uns auf der Bühne, als sehr glasig empfunden hätten. Das erstaunte mich, hatte meine UK-Tante einmal erzählt, dass sie den Kommentar erhalten habe, dass man den Heiligen Geist in den Augen sähe (oder «Gottes Wirken», ich kann mich nicht an den genauen Wortlaut erinnern). War Gott…glasig?

Der UK endete ohne weitere Geschehnisse, eben, abgesehen von meinem Krankwerden. Unsere Handys wurden am Anfang entzogen, nachdem sie merkten, dass wir zu viel am Handy waren. Nur eine halbe Stunde Handy pro Tag, um unsere Verwandten zu informieren, dass es uns gut ging, etc. Ich erhielt das Handy früher zurück, damit ich mehr mit meinen Eltern telefonieren durfte, die sich sicherlich Sorgen machten. Auch einen Post-UK-Treff («UK-Weekend») schafften wir nur einmal, als es von unserer UK-Tante (mit)organisiert wurde. Meine UK-Gspänli sind unterdessen in aller Welt mit verschiedenster Kontakthäufigkeit. Ich bin ausgetreten und habe ein nicht-freikirchen-kompatibles Weltbild, Samira ist weiterhin bei der EBG dabei, eine ging zu einer «Finanzsekte» (nicht Wohlstandsevangelium, soweit ich weiss), eine hat unterdessen geheiratet, eine studiert Musik, mit einer anderen habe ich versucht, den Kontakt aufrecht zu halten und es ging einfach nicht. Eine andere ist weiterhin bei der EBG, und die letzte, die ist schon lange geflohen. Aber als ich ihr damals schrieb, dass ich austräte, antwortete sie mir, dass ich Glück hätte und dass sie froh sei, aber auch ein wenig neidisch, dass ich austreten konnte. Sie war noch eine Weile «gefangen» in der EBG, aufgrund einer komplizierten Familiensituation. Aber ich bin froh, dass sie jetzt auch rausgekommen ist.

Austrittsphase

Eine Weile vor meinem Austritt, vielleicht ein halbes Jahr, vielleicht nur ein Viertel, begann ich, nicht mehr in die Gottesdienste gehen zu wollen. An einem Punkt wünschte ich mir, meine Eltern würden es mir wieder verbieten – was ironisch war, denn anfangs ging ich sowieso, egal, ob sie es mir verbaten oder nicht. Jetzt würde ich sie sicher nicht fragen, es mir doch bitte zu verbieten. Das würde meine Glaubwürdigkeit komplett zerstören. Ich zwang mich also, weiterhin zu gehen, und fühlte mich immer eingeschränkter in der Gruppe. Es gab so viele Dinge, die so und so zu machen waren, nicht zu machen war, oder doch zu machen waren, und ich war an irgendeinem Punkt einfach zu überfordert mit allem. Es war eng, und ich fühlte mich unfrei. Ich hatte neben der EBG dank ein paar Mitschülerinnen und Mitschülern ein neues Supportsystem aufgebaut, auf welches ich mich verlassen konnte. Eines, das nicht nur über Jesus sprach und mich akzeptierte, als ich nicht wusste, über was sprechen, wenn nicht über Jesus. Ein wichtiger Auslöser hier war auch ein Gespräch mit einer Schulpsychologin, die mir vom Klassenlehrer wegen meiner emotionalen Auslastung empfohlen wurde. Da ich vorher zum Klassenlehrer ging, um mentale Unterstützung zu erhalten, konnte ich schlecht nein sagen, und ging also zu ihr. Sie brachte mir das Konzept von «Babysteps» bei (welches auch heute noch bei allem enorm wichtig ist), und traf eine Aussage, die wiederum mich traf: «Ich finde es schade, wenn jemand, der so jung wie Sie ist, sich bereits so stark einschränkt in seiner Weltanschauung.» Dies hätte nicht so eingeschnitten, wenn ich das Problem nicht auch gehabt hätte. Vor meiner EBG-Zeit dachte ich immer über Gott und die Welt, verschiedenste Interpretationen, Paralleluniversen und so weiter nach. Dass Schöpfung und Evolution kompatibel waren, gehörte zu Meinungen, die ich anfangs Primarschule äusserte (natürlich auch, weil meine Familie durchaus an Gott glaubt). In der EBG gab es nicht mehr so viel Spielraum. Plötzlich war alles definiert und ausformuliert, was zwar anfangs viel Sicherheit gab, mich aber gegen Ende zu stark einengte. Ich konnte nicht mehr über Gott und die Welt nachdenken, sondern nur noch über den EBG-Gott und die EBG-Welt. Ich spürte in meinem Kopf eine metaphorische Box: Die Box war durch die EBG definiert, und alles ausserhalb der Box war automatisch falsch. Warum über etwas nachdenken, das gemäss Bibel oder EBG sowieso falsch war? Das belastete mich. Nicht, dass ich es je jemandem gesagt hätte. Und dann sitzt die Schulpsychologin da und trifft einen wunden Punkt, vermutlich sogar unbewusst. Ich war im ersten Moment erschrocken, und dachte «ja, aber es ist die RICHTIGE Weltanschauung! Ist doch gut, dass ich sie schon so früh habe!». Ich merkte in diesem Moment, dass ich auf etwas, das mich selbst belastete, eine Antwort hatte. Ich war aber trotzdem betroffen, da es mich, trotz «richtiger Weltanschauung», störte, nicht mehr über alles nachdenken zu können. Die Antwort reichte also nicht aus, um das Problem zu lösen. Rückblickend denke ich, dies war der erste Moment, in dem ich merkte, dass etwas nicht stimmte. Irgendwann später würde ich mich aktiv dagegen entscheiden, kritische Punkte bei EBG-Mitgliedern anzusprechen, weil ich meine Zweifel behalten wollte. Ich wusste: Wenn ich etwas thematisiere, lerne ich solche «Antworten» auf Aussagen, wie wir lernten, die Antwort auf «warum lässt Gott dies zu?» ist (ganz kurz zusammengefasst) «er gab den Menschen den freien Willen». Die Antworten halfen aber nur oberflächlich, fast schon als Reflex-Antworten zur Besänftigung, aber sie lösten das Problem nicht. Es brauchte noch mehr, bis ich zum Austrittsentschluss kommen würde: Kein weiterer Druck zum Austritt. Einige Personen in meinem Leben versuchten, mich aus der EBG rauszuziehen, mit aller Macht und Gewalt. Meine Mutter, mein Vater, meine Schwester, meine Grosseltern, Tanten, sie alle hatten Mühe damit. Meine restliche Familie sicher auch, nur sagten diese nichts. Zum Glück. Als dann auch die letzten aufhörten, mich irgendwie vom Gegenteil der EBG-Predigten zu überzeugen, und niemand mehr mir verbat, irgendwo hin zu gehen (wobei ich die Verbote sowieso nicht berücksichtigte, sicher nicht ganz im Sinn des fünften Gebots und Epheser 6, was die EBG-Prediger aber auch nicht störte), dann war ich bereit. Das Bedürfnis auszutreten kam nie, während alle mich versuchten rauszuholen, während alle Witze machten, während alle gegen die EBG feuerten. Dies versteigerte nur meinen EBG-Eifer und motivierte mich, noch gläubiger, noch «standhafter im Glauben», noch «religiöser» zu werden. Als dies abliess, fehlte mir eine der Motivationen. Plus, ich erhielt das Gefühl, meine Familie würde jetzt keine dummen Witze schiessen und mich nicht herablassend betrachten, wenn ich austreten würde, sondern sie würden mich akzeptieren, wie sie mich in der EBG akzeptierten (oder tolerierten). Das war ein wichtiger Punkt beim Supportsystem. In meinem damaligen Supportsystem gab es weitere Mängel, einige Freunde, die sich als nicht-Freunde herausgestellt hatten, aber alles in allem war es ein funktionierendes System, und viele gehören auch heute weiterhin dazu. Ich hatte mich über die Sommerferien mal wieder über alles «entleert» – ich erzählte einem neuen Teil des neuen Supportsystems das, was mich immer noch belastete, aus meinem Leben vor der EBG. Rückblickend war dies wohl meine Strategie, Vertrauen aufzubauen: einfach mal alles loswerden und schauen, was passiert. Ich begann, nicht mehr an die Versammlungen zu gehen. Nach nicht allzu langer Zeit hörte ich von Samira: «Warum warst du nicht an den letzten Versammlungen?» Ich weiss, sie meinte es nicht böse. Ich war in diesem Augenblick etwas (negativ) überrascht. Ich hatte ein bis zweimal gefehlt, und während sie mich natürlich durchaus fragen konnte, fühlte ich mich bedrängt. Ich fühlte mich, als würde sie mich dafür verurteilen, und als wäre es zwingend notwendig, immer zu gehen. Fakt ist, ich hatte keine Lust, an die Versammlungen zu gehen, und ging also nicht. Die Frage aber führte zu einer eher negativen Anschauung der EBG, weil es sich nicht mehr freiwillig, sondern gezwungen anfühlte. Ich war und bin kein Fan vom Zwingen, für mich gibt es nur freiwillig oder gar nicht. Ich entschloss, nicht mehr an den Versammlungen teilzunehmen, da ich ansonsten mit einer Fragelawine überflutet werden würde, und kam zeitgleich zum Schluss, die EBG zu verlassen. Da die EBG sowieso keine vertragliche Mitgliedschaft hatte, sondern einfach «Mitglied ist, wer sich als Mitglied sieht», war das Austreten auf der rechtlichen Basis in dem Sinne nicht möglich. Ich wollte aber auch nicht allen Kontakt abbrechen, wie es ein halbes Jahr vor mir die Familie einer anderen Freundin gemacht hatte. Das war erst gerade kürzlich passiert, und ich hatte gemerkt, wie verzweifelt alle versuchten, die Familie zurückzuholen, wie sie beteten. Eine Freundin, nennen wir sie Nina, hatte sogar Zitteranfälle. Ihr ging es damals überhaupt nicht gut, und die Unsicherheit half nicht. Therapie war sowieso nicht erlaubt, oder: «nicht empfohlen». Ich entschied, allen klar mitzuteilen: Ab sofort komme ich nicht mehr. Ich gehöre nicht mehr zu euch. Als ich dies meiner Mutter mitteilte, weinte sie vor lauter Freude. Sie weinte heftig und lange. Kurz nach meinem Entschluss fingen meine psychosomatischen Symptome an: Ich hatte zehn Wochen lang richtige Bauchschmerzattacken. Nach etwa vier Wochen Bauchschmerzen meldete ich mich für einen Tag krank und verschickte mein sorgfältig vorbereitetes SMS an eine sorgfältig durchdachte Selektion von Menschen. Samira, Nina, Prediger Philipp, aber auch Ramona, die an der Bekehrung dabei war, waren hierbei die aufzählendwertesten. Ich kommunizierte, dass es mir zu «dogmatisch» sei, und dass ich weiterhin an Gott glauben würde – was ich auch wollte. Nina reagierte nicht gut darauf: Einen Monat lang schickte sie mir nichts anderes als Bibelverse. Ich wusste, ihr ging es gar nicht gut – wie vor einem halben Jahr schon – aber mein Entscheid war gefällt, und kein Bibelvers würde dies ändern. Prediger Philipp schrieb mir eine Mail, die ich noch habe. Darin war ein Satz, der mich tief verletzte, und der dazu führte, dass ich jetzt gar keinen Kontakt mehr mit ihm habe oder möchte: «Wir haben dich sehr geliebt, wie unsere eigene Tochter.» Dazu kam noch: «dass dir die EBG zu dogmatisch ist, überrascht uns, hast du doch nie etwas davon erwähnt» (bewusst nicht, da ich meine Zweifel eben nicht loswerden wollte, und es auch lange kein Problem war), und «hast du dies denn auch mit Gott besprochen?». Ramona antwortete nicht. Sie sprach vermutlich mit Samiras Mutter darüber. Als ich sie ein paar Jahre später wieder sah, teilte ich ihr eher offen – und auf Nachfrage – mit, dass ich ganz aus dem Glauben gegangen war. Da weinte sie. Es ist schmerzhaft, Personen zum Weinen zu bringen, vor allem die, welche einen eigentlich immer unterstützt haben, und die eben einfach zufällig sehr «gläubig» sind. Vor Samiras Reaktion hatte ich am meisten Angst. Sie war trotz allem eine gute Freundin, ich wollte mit ihr Kontakt behalten. Ich wollte weiterhin befreundet sein, aber ich hatte Angst, dass sie wie Nina entscheiden würde, nichts mehr mit mir zu tun zu haben. Ich hatte enorme Angst davor, verletzt zu werden. Also sprach ich sie darauf an, und ihre sehr direkte Antwort war: «Ich war vor der EBG mit dir befreundet, ich war während der EBG mit dir befreundet, nur weil du jetzt ausgetreten bist, bleibe ich trotzdem mit dir befreundet.» Da fiel mir ein riesiger Stein vom Herzen. Meine Freundschaft mit Samira bleibt bis heute, und bei Themen, die wir unterschiedlich sehen (beispielsweise, ob Homosexualität jetzt sündhaft, gut oder schlecht ist, auch wenn ich dort eine sehr öffentliche Meinung habe), reden wir einfach nicht drüber. Es gibt genügende spannendere Themen, die man besprechen kann. Mit Nina habe ich keinen Kontakt mehr. Wir hatten noch ein paar Mal Kontakt nach dem Bibelversdilemma, bis wir uns irgendwann treffen wollten, sie einen Tag vor dem Treffen dann doch absagte, und ich fand, das war mir zu spontan. Ihre Begründung interpretierte ich als «tut mir leid, ich will gar nichts mit dir zu tun haben». Später fand ich heraus, dass sie einfach nicht mit mir über LGBTQI+-Themen sprechen wollte. Das wäre das geringste Problem gewesen, schliesslich schaffte ich es mit Samira auch, nicht darüber zu sprechen. Ich habe diese Erfahrung einer Freundin mitgeteilt, deren Bekannte begann, mit ihr den Kontakt abzubrechen, weil sie mit Frauen zusammen war, und möchte dies jetzt an die Öffentlichkeit tragen: Es gibt religiöse Personen, die homosexuelle Beziehungen akzeptieren oder zumindest tolerieren, auch wenn sie Homosexualität als Sünde betrachten, und es gibt solche, die es gar nicht akzeptieren. Ob man weiter befreundet sein kann, hängt von der Person und nicht der Religion ab.

Heute mag ich auch dank meiner politischen Aktivität eher laut über LGBTQI+-Themen sprechen und Geschlecht und Sexualität nicht mehr so eng sehen wie früher, aber es war ein riesiger Prozess. Als ich aus der EBG austrat, wusste ich, dass ich ein Problem mit (ausgelebter) Homosexualität hatte. Ich lernte neue Freunde kennen, und einzelne begannen, sich zu outen. Ich wollte sie akzeptieren, aber ich schaffte es nicht. Wenigstens beschwerte ich mich nicht offen darüber – ich bin nicht sicher, ob sie damals wussten, wie homophob ich war. Vielleicht schon, und ich merkte es einfach nicht. Ich hatte zur EBG-Zeit mal mit meiner Klasse über Homosexualität diskutiert, und es waren ich und der andere EBG-ler gegen den Rest der Klasse, wobei 4 Personen (ein Viertel, wenn ich’s richtig im Kopf habe) sagten «sie dürfen zusammen sein, aber keine Kinder adoptieren». Von dem her: gut möglich, dass ein paar Kommentare kamen. Insgesamt arbeitete ich aber an meiner Homophobie, und sagte mir selbst immer wieder «nein, es ist okay, wenn er schwul ist. Er darf das. Er darf mit Männern schlafen.» Ich konfrontierte mich mit Bildern von homosexuellen Paaren und sagte mir selbst «ja, das ist gut. Es ist richtig. Sie dürfen sich gegenseitig lieben.» Ich holte mein Neues Testament mit interlinear-Übersetzung Griechisch-Deutsch und jagte nach den Versen, in denen stand, Homosexualität sei falsch. Fünf fand ich. Zwei im 3. Moses, die ich dem Grund «Hygiene» zuordnete. Zwei in den Briefen, die ich der Pädophilie zuordnete (auch wenn das heute wohl noch umstritten ist). Und der einzige Vers, den ich heute noch ernst nehme bei dieser Diskussion: Römer 1, 26-27. Auch der einzige, in dem (lesbische) Frauen erwähnt werden. Das Problem aber war Römer 2, 1: «Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der du richtest. Denn worin du den andern richtest, verdammst du dich selbst, weil du ebendasselbe tust, was du richtest.» Kurz: Richten ist falsch. Ich fand einen Artikel von homosexuellen Christen, die darüber sprachen, dass Kapitel 1 dazu da war, den Leser zum Gedanken «Ja, diese Menschen sündigen wirklich!» zu bewegen, und Kapitel 2 dann dieses Urteilen verurteilte, und das bis zum erlösenden «darum ist Jesus für uns gestorben» in Kapitel 3, 25. Ja, dass theologisch oder religionswissenschaftlich Gebildete jetzt stunden-, wenn nicht wochenlang über den Römerbrief diskutieren könnten, ist mir bewusst. Mir reichte das, um weitermachen zu können. Es kann einen Gott geben, der Homosexuelle akzeptiert, also kann ich das auch. Ich wollte das Konzept oder die Person «Gott» nicht aus meinem Leben streichen, und wenn es keinen Gott geben könnte, der Homosexuelle akzeptiert, hätte ich mich entscheiden müssen. Das wäre härter gewesen. Viele Personen in einer solchen Situation wechseln die Freikirche – ich wurde auch von einer Freundin, die meinen Text erhielt, gefragt, wo ich jetzt hinginge – oder glauben gar nicht mehr an Gott. Ich sah vor allem letzteres, im Internet. Menschen, die ihre Sekte verliessen, und dann gar nicht mehr an einen Gott glauben konnten. Was ich auch verstand, aber es fiel mir schwer. Andere Freikirchen mochte ich nicht – die EBG hat sich immer sehr bewusst distanziert, und diese Distanz blieb, bis ich mich aktiv dafür entschied, andere Freikirchen etwas lockerer zu sehen. Das dauerte aber um einiges länger als der Entscheid, Homosexuelle zu akzeptieren. Und so landete ich in einer Situation, in der ich unabhängig vom Glauben aktiv all meine Werte, nach einer späteren rechten Phase auch meine xenophobischen, islamophobischen und ganz allgemein ausländerfeindlichen Ansichten, ablegte und alles neu überdachte. Was wollte ich glauben, was wollte ich akzeptieren, was nicht? Ich entschied, grundsätzlich keine Meinung zu vertreten, bis ich Grund für eine Meinung hatte. Das ging natürlich nicht, denn ich habe weiterhin viele antrainierte Vorurteile, denen ich mir immer wieder bewusstwerde. Erst jetzt, einige Jahre später, fällt mir auf, was für Werte ich alle aus der Zeit früher weiterhin vertrete und nie überdachte, auch wenn ich meinungslos sein wollte. Aber unabhängig davon: Die Entscheidung, jetzt aktiv mein eigenes Weltbild und meine eigene Wertvorstellung zu erschaffen, war wichtig. Ich wollte mich nicht von Gruppe zu Gruppe, Kirche zu Kirche schmeissen lassen, wie es auch heute bei so vielen Austritten geschieht, sondern erst ein Weltbild und dann eine passende Gruppe finden. Das ist ein Prozess, der anhielt und weiterhin anhält, und vermutlich auch noch lange anhalten wird. Das erste halbe Jahr war brutal, von Selbstzweifeln, Selbsthass und viel Belastung geprägt, und ich dachte, ich müsste eine Klasse wiederholen, weil ich das ganze Schuljahr emotional weg war und nicht einmal wusste, was meine Notenlage war. Musste ich zum Glück nicht, sicher auch, weil meine Lehrpersonen verständnisvoll waren und ich nicht viel lernen musste, um genügende Noten zu schreiben (dafür aber keine besonders guten). Aber mein Weltanschauungsprozess geht weiter, und das ist in Ordnung so. Ich will keine absolute Wahrheit mehr. Ich hatte eine, und musste sie verwerfen. Diese Erfahrung reicht einmal, ich will mich in keine neue absolute Wahrheit verheddern, und die dann erneut und die nächste danach erneut verwerfen, bis mein ganzes Leben vorbei ist. Für mich will ich nur noch relative Wahrheiten, die nicht verworfen, sondern angepasst werden können.

Erzählungen aus der Zeit

Das Hauptthema bei den jungen Leuten: Sex

Wie auch bei allen anderen Pubertierenden war auch in der EBG Sex und Liebe ein Thema. Eben einfach auf eine andere Art. Kurz nach meinem Beitritt in die EBG begann ich, einen «faire Liebe»-Kurs zu machen. Ich erhielt per Post jeweils ein Heftchen, in welchem geschrieben wurde, was Liebe ausmacht, und was Gott will (oder «wolle»). Die Aufgaben im Heftchen beantwortete ich jeweils – natürlich immer gut, weil ich gut in schulischen Sachen bin, und am Ende eines Heftchens Fragen zum Text im Heftchen beantworten war nicht das Anspruchsvollste meiner schulischen Karriere – und freute mich darüber. Ich hatte auch eine Unmenge an Büchern, in denen es um Liebe ging. Es ging darum, sich rein zu halten, damit man bei Gottes gewähltem Ehepartner dann ohne schlechtes Gewissen ein weisses Kleid – ein Reinheit, also Jungfräulichkeit symbolisierendes Kleid – zur Hochzeit tragen konnte. Während auch andere, modernere Gemeinden diesen Ansatz vertreten, und der «faire Liebe»-Kurs wohl auch für verschiedene Gemeinden nutzbar ist, fällt bei der EBG der klare Abstand zwischen Mädchen und Jungen, Männern und Frauen auf. Bei anderen Freikirchen umarmen sich die Jugendlichen untereinander, sitzen zusammen auf einem Sofa, treffen sich vielleicht sogar zu zweit, lange bevor sie zusammen sind oder überhaupt zusammenkommen. Nicht in der EBG. Kontakt mit einem Jungen war nur dann «erlaubt», wenn es in einer Gruppe war. Es wurde empfohlen, Jungs über die Gruppendynamik kennenzulernen: Wie verhält er sich in der Gruppe, was macht er genau? Wie ehrt er im Gemeindeleben Gott? So klang die Empfehlung. Ob Jugendliche dies auch so machten, ist eine andere Frage. Als ich bei meiner UK-Tante zu Besuch war, erzählte ihr Sohn von seiner Freundin (die er, meines Wissens, unterdessen geheiratet hat – man darf sich aber in dieser Phase noch trennen, wenn es wirklich nicht passt. Vielleicht hat er sich auch getrennt, aber verheiratet ist er jetzt sicher). Er hatte irgendwie ihre Nummer erhalten, und «plötzlich» tauchte ihr Profilbild bei ihm auf. Vielleicht hatte sie ja die Einstellungen geändert. Er fragte also einen Freund, ob er bei dieser Nummer das Profilbild sähe. Dieser sah es nicht, also wusste er: Sie hat irgendwie seine Nummer erhalten und ihn eingespeichert. Als er das erzählte, merkte meine UK-Tante an, dass dies überhaupt kein Vorbild für die jungen Leute am Tisch (ich glaube, Samira oder Nina waren auch dabei) sei. Dabei lachte sie, so schlimm kann es also nicht gewesen sein. Es war noch früh, in den Zeiten, als WhatsApp in der EBG noch sehr umstritten war, und wenn man überlegt, wie jung doch alle noch waren, erstaunt das Gespräch weniger. Etwas unterhaltsam ist es dennoch: Klingt mehr nach einem Gespräch zwischen zwei Teenies, das man zufällig im Zug überhört, statt nach einer konservativ-christlichen Gruppierung und mehreren Erwachsenen. Gefehlt hätten nur noch Jugendwörter und Anglizismen.

Die EBG predigt, wie viele andere, «keinen Sex vor der Ehe», und lehnt jegliche Form der Sexualität vor der Eheschliessung zwischen Mann und Frau ab. Dazu gehört auch das Masturbieren, der Konsum von Pornographie (ob via Film oder Text, auch wenn ersteres eher erwähnt wurde), alles Homosexuelle, alles, was mehr als die beiden miteinander verheirateten Ehepartner beinhaltet – nur weiss ich nicht, wie «wild» ein verheiratetes Ehepaar sein darf. Ich erhielt einmal ein (älteres) Buch, in dem drinstand, dass ein Ehepaar vor dem Sex beten soll und Gott um seinen Segen sowie, wenn ein Kind entstehen sollte, um dessen Gesundheit beten soll. Die Vorstellung, in Gottes Anwesenheit Sex zu haben, mag die wenigsten begeistern, und ich weiss nicht, ob es in der EBG wirklich so gehandhabt wurde. Den anderen Tipp, so viele Kinder zuzulassen, wie ihnen per Gottes Gnade zustand (nämlich ohne Verhütung einfach raushauen, bis der Körper nicht mehr kann), befolgten zumindest einige Familien. Bei jüngeren Ehepaaren bleiben aber die Kinder teils für einige Jahre aus, und da ist es gut möglich, dass dieser Tipp nicht befolgt wird.

Die Regelung, erst verheiratet Sex zu haben, führt natürlich dazu, dass junge Erwachsene sehr schnell heiraten. Grundsätzlich ist es so, dass man sich erst kennenlernt (nicht auf Dates! Nicht allein in dieser Phase). Man erkundigt sich bei der Person, den eigenen Eltern und den Eltern dieser Person, ob diese einverstanden sind, ich weiss aber nicht, in welcher exakten Reihenfolge das Erkundigen geht. Auf jeden Fall: Sobald zwei Personen offiziell zusammen sind, betrachtet man sie grundsätzlich als zukünftiges Ehepaar. Es gibt keine kurzfristigen Beziehungen – auch wenn ich ehrlich gesagt nicht verstehe, warum man das Label «Mein Freund» braucht für etwas, das nicht langfristig beabsichtigt wird. Wenn man einfach etwas mit jemandem anfangen will, aber nur kurz- oder mittelfristig, muss man ja nicht gleich zusammenkommen? Es gibt viele Labels, gibt es kein passenderes? Vielleicht ist diese Überlegung auch eines meiner EBG-Überbleibsel. Wer weiss. Auf jeden Fall: In der EBG gibt es langfristige Beziehungen, die immer auf Ehe auslaufen. Man darf aber, ehe man sich verlobt, auch noch sich trennen – wenn man merkt, nein, es passt doch nicht. Natürlich «probiert» man keinen Sex, sondern es geht um das alltägliche Zusammenleben. Man geht vielleicht zu zweit wandern, aber schläft sicher nicht im selben Bett (oder Zimmer). Sobald man seine Tests durchgeführt hat und das notwendige Geld (und natürlich die Libido) beisammen hat, geht es an die Verlobung, in welcher das gemeinsame Leben als Ehepaar vorbereitet wird, die Hochzeit geplant, und so weiter. Was genau in welche Phase kommt, ob beispielsweise «wie wollen wir unsere Kinder erziehen» in die Zusammen oder die Verlobungsphase kommt, hängt wohl vom Paar ab. Ab der Hochzeit geht die Post ab: Man darf alles, auch den Ehering schön vorzeigen, und mit den Kindern, die mal sehr schnell, mal erst nach einiger Zeit aufkommen, den christlichen Alltag bestreiten.

Dass christliche Paare so schnell heiraten, um ins Bett zu kommen, ist natürlich nicht etwas, das überrascht. Und darum wurde auch immer aktiv geraten, sich solche Dinge sehr gut zu überlegen, bei anderen die Meinungen zu dieser Person einholen (um sich nicht verblenden zu lassen) und sich ausserdem nicht auf irgendwelche Männer einzulassen. Zum Beispiel Männer, die einfach nur vor der Hochzeit Sex wollten und einen dann fallen liessen wie eine heisse Kartoffel. Oder die heirateten, einfach nur, damit sie mit der schönen Frau Sex haben konnten. Beides passiert sicherlich genügend häufig, und das aktive Anlügen der ernstmeinenden, aufrichtigen Frauen ist auch ein Grund, warum ich diesen Männern einfach am liebsten eine zusammengerollte Zeitung mit viel Schwung über den Kopf gehen lassen möchte.

Ausserdem gibt es, neben einigen Geschichten, wie schlimm die Beziehung werde, wenn man die andere Person «zu früh dran lässt», und dem älteren Buch, das ich las, auch einige weitere spannende Tipps, von denen wir jeweils hörten.

Einer dieser Tipps beinhaltete das genaue Planen, wie weit was ging, wo die Grenze war, und so weiter. Die Planung würde sich auf den Hochzeitstag beziehen, heisst: Er fängt vielleicht ein Jahr vor geplanter Hochzeit an. Das erste, das man darf, wäre dann vielleicht Händchenhalten. Ein Vierteljahr später die erste Umarmung – bei der EBG umarmen sich Jugendliche unterschiedlichen Geschlechts nicht, im Gegensatz zu vielen anderen Freikirchen -, und ein halbes Jahr vor der Hochzeit vielleicht sogar ein Kuss. Vielleicht sollte der aber auch der Hochzeit vorenthalten bleiben, also erst mal ein Kuss auf die Wange. Wer etwas lockerer drauf ist, lässt vielleicht sogar ein gewisses Befummeln vor der Hochzeit zu, welches graduell vor der Hochzeit steigen darf und mit dem Höhepunkt des «richtigen Sex» in der Hochzeitsnacht endet. Das ist dann aber schon sehr liberal.

Abgesehen davon, dass meine Familie gar nicht begeistert war von der Vorstellung, dass ihre jugendliche Tochter erst in der Hochzeitsnacht Sex haben wollte – meine Eltern sind da nicht sehr konservativ und der reformatorischen Auffassung, es ist wichtig, erst zu wissen, ob es physisch passt -, gab es noch eine andere Hürde. Wen würde ich denn heiraten? Anfangs war es klar. Natürlich meinen Schwarm. Er würde seine Bildung, ich meine absolvieren, dann würden wir heiraten, 8 Kinder kriegen und ein friedlicher, christlicher Haushalt sein. Er würde arbeiten, ich würde christliche Bücher schreiben, Kinder und Haushalt übernehmen (obwohl ich bei letzterem wirklich nicht verstehe, wie ich mich damit abfinden konnte). Eben das, was ich mir bei meinen EBG-Freunden vorstellte und selbst nicht hatte. Auch wenn es natürlich unrealistisch war, aber das war mir dort nicht klar. Dummerweise trat der Schwarm aus (zwar in eine andere Freikirche, aber das war uns damals unklar). Ich hatte also niemanden mehr, über den ich «happy married life»-Fantasien haben konnten. Wen würde ich jetzt heiraten? Ich kannte all die Jungs nicht. Die, welche ich besser kannte, waren so bekannt, dass auch schon viele andere für sie schwärmten. Natürlich könnte ich mir auch später einen Ehemann holen, es war sowieso zu früh, aber ich hatte in meinem Kopf immer ein «Zielobjekt», ein Junge, über den ich tagträumen würde (ging bei Mädchen aus ersichtlichen Gründen, Homophobie, nicht, auch wenn wir oft scherzten «ach, wenn du nur ein Mann wärst!»). Abgesehen davon gab es ein anderes Problem: Meine Familie. Sie waren nicht bekehrt, ungläubig. Und wenn ich es bis 18 nicht geschafft hätte, sie zu bekehren? Würden Männer dann nicht mit mir zusammen sein wollen, weil es eben kein christliches Happy Married Life geben würde, da ja schliesslich die weltlichen Grosseltern unserer Kinder einen schlechten Einfluss auf sie sein könnten? Wie viele Männer wären wohl davon abgeschreckt worden, wenn klar gewesen wäre, dass mich zu heiraten bedeutete, die ungläubigen Eltern um meine Hand anzuhalten, und wenn sie zustimmten, was ich bei meinen Eltern irgendwie bezweifle – naja, ich hätte es sowieso gemacht, wenn es dazu gekommen wäre – dann auch die Kinder in gläubigem Haushalt mit ungläubigen Grosseltern grosszuziehen? Das war ein Problem. Ich wusste auch nicht, mit welchem Typen im Kopf ich die missionarischen Fantasien ausleben soll. Es ging dennoch eine Weile, bis ich mich von der EBG verabschiedete, aber wenn mein Schwarm geblieben wäre, dann wäre ich vermutlich auch etwas länger dortgeblieben. Wie viel länger, weiss ich nicht, vielleicht ein halbes Jahr oder 3 Jahre (bis ich 18 war) länger. Ich bin auf jeden Fall froh, dass ich nie dort heiratete – oder mich verlobte. Die Leute sind sympathisch und aufrichtig in ihrem Glauben, aber die Möglichkeit zum Weggehen ist eben signifikant eingeschränkt, wenn man hineingeheiratet hat.

Ein Brief an meine Familie

Während meiner EBG-Zeit litten meine Familie und ich stark, beide auf unsere Art, und wir sagten wohl beide einiges, das andere verletzte. Die Zeit war belastend und ich erfuhr bei weitem mehr (emotionale) Unterstützung vonseiten der EBG als vonseiten meiner Familie. Wenn ich könnte, würde ich den folgenden Brief in die Vergangenheit senden:

Liebe Eltern, liebe Geschwister, liebe Verwandte

Ihr macht euch alle sehr viele Sorgen um mich, und ich schätze es, wie wichtig ich euch bin, und wie wichtig es euch ist, dass es mir gut geht. Die EBG hat mich fasziniert, und ich beschäftige mich zurzeit mit ihren Lehren. Mit den Leuten fühle ich mich wohl. Das heisst aber nicht, dass ich «für immer an die Sekte verloren» bin. Ich werde mich jetzt ein wenig damit auseinandersetzen, sicherlich einen Teil meiner Jugend damit verbringen, und wenn es mir irgendwann nicht mehr passen sollte, werde ich einfach austreten. Zurzeit seid ihr alle krampfhaft daran, mich herauszuziehen. Mein zukünftiges Ich schätzt zwar eure Liebe, aber weiss: Das bringt nichts. Jedes Ziehen, jedes Kämpfen, jedes Diskutieren motiviert mich dazu, mich noch mehr mit der Lehre in der EBG zu beschäftigen. Das heisst aber nicht, dass ihr mich komplett aufgeben müsst. Ich brauche einfach meine Zeit, zu meiner eigenen Schlussfolgerung zu kommen. Euer Ansatz ist kontraproduktiv; vielleicht hätte ich die ca. 100 Bücher nicht gelesen, wenn ich nicht genügend lernen wollte, um euch zu zeigen, dass der EBG-Weg der richtige Weg ist, und wenn ihr nicht die ganze Zeit Kritik gefeuert hättet, gegen die ich mich verteidigen musste. Vielleicht wäre ich früher auf die Idee gekommen, dass ich von der EBG oberflächliche Antworten lerne, aber diese meine Probleme nicht wirklich lösen. Vielleicht wäre ich früher ausgestiegen. Vielleicht aber auch nicht. Für euch der beste Weg wäre es, mich weiterhin als Tochter, Schwester, Enkelin und Nichte zu behandeln, und einfach nicht über religiöse Themen zu sprechen. Ihr könntet mir über allerlei anderes erzählen, oder mich zu anderem ausquetschen, keine Gelegenheit geben, über die EBG zu sprechen, und wenn ich dann doch dazu komme, einfach nicken und das Thema wechseln. Besonders wichtig ist, dass ihr nicht mit mir diskutiert. Ich freue mich über die Diskussion, aber mein Ziel ist, euch zu bekehren. Euer Ziel ist es, mich dort rauszuholen. Beides wird am Ende der Diskussion nicht eintreten, und uns nur weiter auseinanderreissen. Wenn ihr wollt, dass ich austrete, lasst mich meinen eigenen Weg finden und zeigt mir, dass ihr mich mit oder ohne EBG als Person seht. Ich weiss nicht, wie häufig wir über Nicht-Religiöses gesprochen haben, als ich dort war. Ich glaube, nicht sehr oft. Ich hatte selten das Gefühl, dass ihr mich unterstützt, auch wenn ihr es auf eure Art versucht hat. Die emotionale Unterstützung, die ich brauchte, erfuhr ich nur vonseiten der EBG. Ich weiss, es schmerzt euch, dies zu hören, darum betone ich: Seid für mich da, ohne über die EBG oder Gott oder Jesus zu sprechen. Fragt mich aus über Französischgrammatik oder den Turnunterricht. Zeigt mir, dass ihr mich unterstützt, auch wenn wir aktuell religiöse Differenzen haben. Wenn ihr wollt, dass ich austrete, muss das Nachhaken loslassen, muss das Diskutieren aufhören, muss der Schmerz, den ihr verspürt, mir gegenüber verstummen, damit ich ihn nicht mehr als Aggression werten kann, und mich dagegen verteidigen will. Nur wenn ich keinen Druck von aussen spüre, werde ich den von innen wahrnehmen. Nur wenn ich draussen ein Supportnetzwerk habe, kann ich mich vom Druck hinausschieben lassen. Ich weiss, es kostet euch Überwindung, einfach nichts zu sagen – aber es ist leider jetzt gerade eure einzige Option, wenn ihr wollt, dass ich langfristig austrete.

Irgendwann habt ihr es gemerkt. Euer Druck hat nachgelassen, und es gab nur noch selten einen dummen Witz, über «kein Sex vor der Ehe», oder wie häufig Personen «Jesus» sagen. Das half. Und dann habe ich gemerkt, die EBG passt mir gar nicht. Es ist zu viel, was man soll oder nicht soll. Und dann ging es eine Weile, und ich trat aus. Ihr habt mir nichts vorgeworfen, ihr habt keine Kommentare gemacht à la «eben, ich hab’s dir ja gesagt». Ihr wart einfach froh, dass es jetzt vorbei ist. Das war schön.

Liebe Eltern, Geschwister, Partner, Angehörige, Verwandte und Bekannte anderer Familien, bitte lernt von den Fehlern meiner Familie. Auch eure Kinder, Geschwister, Enkel, Nichten und Neffen, Cousins und Cousinen, Tanten und Onkel, Partner und Angehörige brauchen euch in ihrem Supportnetzwerk. Auch sie brauchen keinen Druck von aussen, um den von innen wahrzunehmen. Auch sie brauchen ein Netz, das sie auffängt, wenn sie von ihrer Gruppe austreten. Auch sie brauchen soziale Kontakte, mit denen sie nicht über die Religion, sondern den restlichen Teil ihres Lebens sprechen, egal wie wichtig Religion in ihrem aktuellen Weltbild ist. Und wenn ihr am Schluss nur über das Wetter sprecht. Zeigt euren Familienmitgliedern und euren Bekannten, dass sie in Zeiten der Not auf euch zählen können, auch wenn ihr nicht an ihrer Religion interessiert seid. Zeigt ihnen, dass ihr sie wieder zurück ausserhalb der Religion aufnehmen könnt, ohne ihnen Vorwände und Beschwerden an den Kopf zu schiessen. In der EBG hiess es immer, wir «harrrrren des Herrn», warten, bis der Herr kommt, egal, wie hart es ist. In diesem Fall wartet ihr nicht auf den Herrn, sondern auf eure Familienmitglieder, auf eure Bekannten. Das «Ausharrrrrren» liegt nun bei euch. Alles andere ist kontraproduktiv. Ich glaube an eure Liebe gegenüber eurer Familie, und vertraue darauf, dass ihr ein Supportnetzwerk bilden könnt, wie sie es brauchen.

Die Schulzeit

Eine wichtige Rolle in dieser Zeit spielte auch meine Schule, sowohl die Klasse als auch das Verhalten der Lehrpersonen, und der Schule als Institut. In der Sekundarstufe gab es genügende Mitschüler:innen, die dumme Witze schossen («bist du in der Sek…..te?», damit man schön auf die Pause reinfällt), dumme Kommentare machten, aber einige hatten Verwandte in der EBG. Diese blieben nett und machten keine dummen Witze, und verteidigten mich gegenüber anderen. Ich schätzte das sehr, und bei ihnen ging es auch, nicht nur über Jesus zu sprechen (schliesslich kannten sie das Evangelium schon und es lag nicht in meiner Verantwortung). Im Gymnasium war es schwieriger. Nicht nur kannte ich niemanden, ich war auch nicht besonders talentiert darin, Freundschaften aufzubauen. In dem Sinne war das noch Neuland für mich. Trotzdem blieben einige Personen mir gegenüber nett, auch wenn ich ganz klar «die Komische» war, und waren so ein wichtiger Bestandteil meines entstehenden Supportnetzwerkes. Ungünstigerweise nahmen wir im Religions-/Ethikunterricht (für alle obligatorisch) – neben Buddhismus und Hinduismus – Sekten durch. Für mich nicht optimal, da ich mir schon in der Sek viele dummen Witze anhören musste, und ich war bestrebt, die EBG als nicht-Sekte darzustellen. Gelang mir vermutlich weniger. Der damalige Lehrer hat wohl sein Bestes gegeben, irgendwie mit mir im Unterricht zu sprechen. Manchmal frage ich mich, ob es sinnvoll gewesen wäre, wenn er mal in meiner Abwesenheit über meine Gruppe gesprochen hätte. Es ist aber gut möglich, dass ich konsequent nie gefehlt habe, damit er eben nicht mit der Klasse über mich sprechen konnte. Auch etwas, das mir blieb, war das Sprechen über den Buddhismus. Jemand in meiner Klasse stammte ursprünglich aus dem Tibet und war buddhistisch. Der Lehrer fragte, wie sie den Glauben sähe, und sie erklärte, ihre Eltern sagten, Buddhismus sei wie ein Fluss. «Du kannst dich dagegen wehren oder mitgehen, aber du bleibst immer auf dem Fluss», hiess es (in etwa). Das kam bei mir nicht sehr gut an. Schliesslich waren alle Religionen ausserhalb von meinem Gott falsch. Dass jemand einfach dahinsass und sagte, ihre Religion sei die richtige, obwohl es gar nicht meine war – die wirklich richtige -, das war schwierig. Erst verspürte ich das Bedürfnis, mit ihr zu diskutieren, tat es aber nicht. Ich weiss nicht mehr, was ich alles überlegte. Aber dass jemand einer falschen Religion so selbstsicher behauptete, dass ihre richtig war? Ah, wobei, meine war richtig, weil ich und viele andere bereits Gottes Wunder und Gegenwart erlebt hatten. Ja, das musste es sein. Sehr gut, mein Gott existiert also doch. Und ihrer nicht, weil sie ja nicht von persönlichen Erlebnissen erzählte. Andere persönliche Erlebnisse mit anderen Göttern oder Göttinnen waren ja vom Teufel und nicht vom wahren Gott.

Wichtiger als einzelne Anekdoten war das generelle Verhalten anderer Lehrpersonen. Eine Lehrperson, C., wollte mich unbedingt aus der EBG hinausziehen. Wie auch meiner Familie gelang es ihr überhaupt nicht und ich wechselte am Schluss das betroffene Fach, um ihre Kommentare nicht mehr zu hören. Die Lehrpersonen, zu denen ich wechselte, ignorierten meine Weltanschauung komplett und machten einfach gar keine Kommentare dazu. Das war super. Besonders war es bei meinem Biolehrer: Wir nahmen die Evolution durch, und auch wenn ich aus heutiger Sicht rückblickend merke, dass er durchaus ein paar Kommentare «schoss», fühlte ich mich nie besonders bedrängt. Ich mochte ihn am Anfang einfach gar nicht, weil er die ganze Zeit über die – bekanntlich falsche – Evolution sprach. Einmal nach dem Unterricht drückte ich im Flyer in die Hand – Flyer, die gegen die Evolution argumentierten. Natürlich christlich geprägt. Er nahm diese entgegen und kam nie wieder darauf zurück. Damals hatte ich die Hoffnung, er würde mir seine Antworten mitteilen, damit ich die Gegenargumente kannte und neue Argumente bei den Predigern herausfinden konnte. Jetzt bin ich froh, dass er die Flyer einfach entgegengenommen hat. Vermutlich hat er sie direkt weggeschmissen. Eine Klassenkameradin, die bei den Siebenten-Tags-Adventisten war, vielleicht noch ist, nutzte mein Flyer-Überreichen und fragte den Biolehrer: «Warum macht sich der Mensch selbst zum Affen?», ich glaube, mein Biolehrer beliess es dabei, einfach kurz darüber zu sprechen, dass der Mensch nicht vom Affen abstammt, sondern einen gemeinsamen Vorfahren hat, und redete dann über Fachkollegen, die ebenfalls an Gott glaubten. Er verstand es überhaupt nicht, aber fand es spannend, dass diese gleichzeitig forschen und doch an die Schöpfung glauben konnten. In diesem Gespräch kam er mir sehr nett vor und ich hörte auf, ihn als «bösen Evolutionstheoretiker», der unbedingt Rettung durch Jesus braucht, zu betrachten. Ab dann war es nur noch mein Biolehrer. Ich hatte ihm die Flyer gegeben, meine Arbeit war getan. Jetzt war Gottes Zeit zu wirken. Eine weitere wichtige Lehrperson war mein damaliger Klassenlehrer, der eine Weile für mich da war – ich war effektiv ein Chaos, nur schon wegen meiner ganzen Familien-EBG-Situation – und der irgendwann entschied, dass meine Situation seinen Kompetenzbereich überschritt, und mich zur Schulpsychologin sendete. Die half mir weiter, indem sie einerseits meinen Glauben einfach mal akzeptierte und mit meiner Situation an sich arbeitete, und andererseits, mit ihrem bereits erwähnten Kommentar: «Ich finde es schade, wenn jemand, der so jung wie Sie ist, sich bereits so stark einschränkt in seiner Weltanschauung.» Noch wichtiger als die einzelnen Lehrpersonen war aber die Schule selbst. Nachdem ich aus der EBG austrat, ging es mir anfangs noch schlechter als während den EBG-Zeiten. Nicht nur wegen dem Bauchweh, sondern auch, weil ich effektiv meine ganze eigene Welt auf den Kopf gestellt hatte, ein riesiges soziales Netzwerk, das mich immer unterstützt hatte – natürlich unter bedingter Liebe – verloren hatte, und mich irgendwie erneut im Leben finden musste. Es gab einige sichtbare Entscheidungen, die ich traf: Ich schnitt meine Haare auf etwa die Hälfte der Länge, die sie waren, es war also direkt sichtbar, ich wechselte vom Tragen der Röcke auf Hosen, die zu Reaktionen im Sinne von «oooh, sie hat Beine» und, im Falle meines Bruders, zu einem etwas ungefilterten «Du bist ja gar nicht fett!» führten, und ich wechselte mein Fach erneut, zurück zu C., da sie ja jetzt nicht mehr Druck ausüben würde. Gleichzeitig überlegte ich mir, doch statt der Matura eine Lehre zu machen. Es hatte sich so viel in meinem Leben geändert, dass eine weitere Änderung fast mehr passen würde. Prorektorat und Kollegium waren informiert und warteten auf meinen Entscheid. Ich entschied mich dann aber, doch nicht zu wechseln. Während des Unterrichts war ich selten ganz dabei. Mal dachte ich über meine Freundinnen nach, die ich so verloren hatte. Mal dachte ich über Gott nach, oder über die Welt. Dann mal über die Bibel, über meine internalisierte Homophobie, die EBG selbst. Meine Schule wusste aber, was los war, und ich glaube, die Lehrpersonen nahmen auch im Unterricht grossteilig Rücksicht darauf. Heisst auch: Wenn ich mal eine ganze Lektion gar nicht am Unterricht teilnahm und einfach in die «Leere» starrte, akzeptierten sie es und versuchten mich nicht zur Beteiligung zu motivieren (oder zu zwingen). Ein wenig sind meine Noten damals vermutlich schon gesunken, ich hatte am Ende des Schuljahres keine Ahnung mehr, was für einen Notenschnitt ich hatte. Einige Lehrpersonen kommentierten den Austritt sogar, die meisten positiv, oder sie fragten nach, was ich jetzt glaubte. Beispielsweise meine Ethiklehrerin, die im Grunde genommen meine Entscheidung, sowohl auszutreten als auch die Haare zu schneiden als mutig wahrnahm, aber auch der Deutschlehrer, der es beeindruckend fand, dass ich nicht direkt atheistisch wurde. Zudem der Klassenlehrer, der mir geholfen hatte, der sagte, ich müsse jetzt einfach aufpassen, nicht in die andere Richtung zu rutschen. Was er damit meinte, weiss ich nicht, ich nahm es aber als Hinweis, mich nicht weiter mit Satanismus zu beschäftigen (der ehrlich gesagt sowieso ein wenig beängstigend war, besonders wenn man gerade aus der EBG rauskam). Ich weiss nicht, ob mein Austritt möglich gewesen wäre, wenn die Schule die etwas spezielle Situation nicht berücksichtigt hätte. Vielleicht wäre ich bei einer anderen Schule geflogen und hätte so viel Verzweiflung erlebt, dass ich wieder bei der EBG gelandet wäre. Ich bin meiner Schulleitung für ihr beeindruckendes Verständnis auf jeden Fall enorm dankbar und hoffe, dass auch andere Schulen davon lernen können.

Musikalische Bildung(svarianz)

Ich wuchs in einer eher musikalischen Familie auf. Nach dem üblichen Blockflötenunterricht ging es zur Altflöte, in der Freizeit manchmal ein Geklimper auf dem Klavier, das die halbe Familie spielt(e). Dann, als ich mit der Altflöte aufhörte, hiess es: «Und, welches Instrument willst du jetzt spielen?» Ich entschied mich für das Schlagzeug, etwa vier Jahre lang. Dann kam ich in die EBG. Eines Tages teilte man mir mit: Schlagzeug solle man gar nicht spielen. Es werde für Rockmusik gebraucht, und die ist satanisch. Sehr problematisch, da das Musikjahr erst gerade begonnen hatte und man nicht mitten im Jahr abbrechen konnte. Ich versuchte also einfach, möglichst wenig zu spielen, und nutzte die Zeit, um bei meinem Schlagzeuglehrer einfach über mein Leben zu sprechen, so eine «spontane Therapiesitzung». Hauptsache, nicht die teuflische Musik selbst betreiben. Mein Schlagzeuglehrer akzeptierte das einfach, ohne gross nachzufragen, was denn los war. Auch mein plötzliches Auftreten im Rock ignorierte er geflissentlich, und machte höchstens Witze darüber, weil es beim Schlagzeug ein wenig unhandlich ist, mit Rock aufzutreten. Stattdessen redete er mit mir. Ich wechselte dann auf Geige. Sie sagte auch nichts zu meiner Kleidung oder meinem Wecker, der Ende Lektion losratterte («Jisas, yu holim hain blong mi» – Jesus, du hältst meine Hand), und akzeptierte es einfach. Geigen spielen durfte ich in dem Sinne ja – es war ja kein «Rockmusikinstrument», also musste ich auch nicht versuchen, das Spielen selbst zu vermeiden. Für konsequentes Üben kann ich aber keinen Ratschlag geben, da fehlt mir die Disziplin. An den Versammlungen gab es zwar keine Orgeln, aber dafür anderweitige musikalische Untermalung. Wer konnte, brachte sein Instrument und spielte während den Liedern mit statt zu singen. Einige wählten bewusst das Klavier, da es am Versammlungsort keines hatte und sie somit nicht vorspielen mussten. Auch am UK spielten UK-Absolventinnen und UK-Absolventen auf ihren jeweiligen Instrumenten etwas vor. Dort gab es dann ein Klavier, oder man brachte das eigene Instrument mit.

In meiner Familie hörten wir viel Musik: Rock ‘n’ Roll, Blues, Volksmusik, klassische Musik, und so weiter. Wir sangen auch viel. Ich selbst hörte allerlei, bis auf Techno und Goa, sehr gern auch Metal. Dann kam ich in die EBG. Die Hälfte dieser Musik durfte ich plötzlich nicht mehr hören. Volksmusik konnte ich noch teils hören, das machte ich aber sowieso seltener, Rock und Metal gar nicht mehr. Der Lieblingskomponist meiner Grossmutter, der freimaurerische Mozart, fiel weg, sowie der antisemitische Wagner (der mir persönlich aber nie sehr am Herzen lag). Wenigstens Beethoven, mein Lieblingskomponist, ging noch. Ich gab mein Bestes, keine solche Musik zu hören, und suchte christliche Lieder. Die Hälfte davon hatte Schlagzeug, also: satanisch. Bei einigen fiel es mir gar nicht auf, sondern Samira machte mich darauf aufmerksam. Wie viele christliche Lieder Schlagzeug haben! Glücklicherweise gab es aufgezeichnete Versammlungen, ein Paar zeichnete ihre Ortsversammlungen jeweils auf. Die CDs verschenkten sie dann. Meine Überlegung war, einfach die Lieder in einer separaten Playlist auf dem PC zu speichern. Die könnte ich dann hören. Musik zu hören, das war essenziell. Wenn alles, das ich kannte, satanisch war, musste ich eben das Unsatanische, das Göttliche finden. Da hatte ich allerdings mein nächstes Problem: Die Lieder auf den CDs waren zwar göttlich, nur leider die Stimmen nicht. Es gab immer wieder Töne, die komplett verpasst wurden, besonders die hohen. Ich bin zwar nicht selbst hochgebildet in der Musik, mein Gehör reichte auch beim Geigenspielen nicht, um die Geige selbst zu stimmen (das machte meine Geigenlehrerin), aber mit meinem gewissen Grundverständnis vom Treffen der Töne war das Zuhören schmerzhaft. Ich versuchte, mich selbst davon abzubringen, so stark über andere Personen zu urteilen, und dachte «Komm, sie singen aus ihrer Liebe zu Gott so laut. Schätz es, statt sie für ihre Stimmen zu verurteilen.» Die Lieder wirklich so häufig zu hören, wie ich wollte, um mein Bedürfnis nach Musik zu stillen, konnte ich trotzdem nicht. Und so schaffte ich es nicht, gar keine satanische Musik zu hören. Mal ein wenig Metal, ganz allein zuhause mit Kopfhörern, damit es meine Familie ja nicht merkte und mir Doppelmoral vorwarf. Mal bei meinen Grosseltern, die sowieso nur klassische Musik und den einen Popsong vor dem Morgenquiz im Radio hörten, einfach der Musik vom Radio zuhören und nicht darüber nachdenken, ob es jetzt Wagner, Mozart oder sonst jemand war. Da fühlte ich mich jedes Mal schlecht und bat Gott um Vergebung. Aufhören konnte ich trotzdem nicht. Auch Gott nahm dieses Bedürfnis nicht weg. Etwas enttäuschend, kann er doch eigentlich alles.

«Die Zeit könnte man auch besser nutzen»

Auf einer der CDs, die ich in Biberist auf einer Konferenz kostenlos empfangen habe, predigte Philipp über das sinnvolle Nutzen der Zeit. Unsere Zeit hier auf Erden ist limitiert. Die nach dem Tod nicht mehr. Was sind schon 70 Jahre Leben geniessen, wenn die Ewigkeit so viel länger ist? Nutzen wir diese Zeit sinnvoll. Es gibt nicht für alles Regeln, aber es gibt Graubereiche, und in diesen Graubereichen sollen wir uns die Frage stellen: Bringt dies das Reich Gottes weiter? Ja, mein Musikhören und Sims (Computerspiel) spielen brachten das Reich Gottes nicht weiter, nur schon, weil Sims nicht mal eine Religion hatten. Ansonsten hätte ich die Verbreitung des Christentums wenigstens auf Sims nachspielen können. Also setzte ich ein System auf: Für jedes Mal, dass ich Sims spielte (was ja nicht verboten war, aber eben eine Zeitverschwendung), würde ich 5 Kapitel aus der Bibel lesen. Dann fühlte ich mich weniger schlecht. Je nach «Missetat» würde ich eine andere Zahl von Kapiteln lesen, ich habe irgendwo eine Liste erstellt. Die Bibel las ich sowieso fast schon zu häufig: Morgens vor der Schule las ich ein Kapitel aus dem Neuen Testament, abends drei aus dem Alten. Das zog ich ein Jahr lang durch, dann konnte ich nicht mehr. Ich redete mit meiner Bekannten Ramona, die bei meiner Bekehrung anwesend war, darüber. Die EBG-Frauen telefonierten häufig mit mir, sicherlich auch, um mir mehr Sicherheit und Unterstützung im Glauben zu geben, da ich die vonseiten meiner «ungläubigen» Familie ja nicht hatte, und sie beteten immer mit mir am Telefon. Ich erzählte ihr, wie müde ich war, wenn ich lesen wollte, und dass ich es nicht mehr schaffte, so viel zu lesen. Sie war nicht überrascht. «Ich war beeindruckt, dass du so viel liest. Aber mehr als ein Jahr hält man das nicht durch.» Es war wohl doch nicht schlimm, wenn ich nicht jeden Tag 4 Kapitel lesen konnte. Vor allem, da einige ja wirklich lange waren, und andere langweilig. Das Lesen der Bibel hielt an – ich brachte sie sogar zur Schule, und las in den Pausen darin. Schliesslich soll man die Zeit sinnvoll nutzen, und ich wusste sowieso nicht, wie man am besten mit anderen spricht, vor allem, wenn ich nicht die ganze Zeit über Jesus sprechen konnte. Eigentlich erstaunlich, dass einige meiner Klasse sich dann doch mir gegenüber aufgewärmt hatten. Das sinnvolle Nutzen der Zeit hielt an, Sonntag war Gott gewidmet, den Rest der Woche lernte ich für die Schule, und jedes Mal, wenn ich irgendwas hatte, betete ich. Ich empfahl sogar meiner Grossmutter, zu Gott zu beten, damit er ihr beim Reissverschluss annähen hilft. Sie fand, er könne das doch nicht, hätte keine Ahnung von Reissverschlüssen, ich fand, nein, Gott kann und weiss alles. Dann weiss er auch, wie man einen Reissverschluss annäht. Ob die EBG diesen Schluss unterstützt, ist eine andere Frage. Dass ich meine Zeit immer besser nutzen hätte können, war mir von Anfang an klar, aber ich hatte die Energie nicht, und ich machte mir Vorwürfe, dass ich die Energie für Gott nicht hatte. Das teilte ich aber niemandem mit, da ich mich sowieso schon schlecht fühlte. Ja, was ich alles machen hätte sollen: Die älteren Menschen der Gemeinde besuchen, Bibelverse auswendig lernen, bei mir zuhause «evangelisieren». Lieber lernte ich eine neue Sprache. Die hätte ich vielleicht bei der Auslandsmission brauchen können, aber wen könnte ich dort missionieren, wenn ich es bei meiner eigenen Familie schon nicht schaffte?

Der feste Baum

In einem dieser Telefonate verglich meine UK-Tante mich mit einem Baum. Einer, der ganz allein auf der Wiese steht. Die anderen Bäume, beispielsweise EBG-Kinder, waren Bäume im Wald. Sie wuchsen auf, umgeben von anderen Bäumen, geschützt vor dem Wind der Welt. Ich war ganz allein auf der Wiese, und ganz allein dem Wind ausgestellt. Sie erklärte mir, das mache mich stark: mich im Glauben verwurzeln, während der Wind versuchte, mich umzukippen, mich zu entwurzeln. Vielleicht kann ich diese Analogie umwandeln, um Angehörigen und Bekannten weiterzuhelfen: Das Verwurzeln im Glauben ist nur notwendig, wenn der Wind weht, und der Boden das einzige ist, das den Baum hält. Wenn der Baum um sich einen anderen Schutz hat, Schutz vor anderen bösen Winden, oder etwas, das ihn aufrecht hält, wie es manche jungen Bäume haben, dann braucht er keinen Glauben. Dann kann er im schlimmsten Fall ausgegraben werden. Bei einer riesigen Eiche ist das schwieriger als einem kleinen, jungen Baum, und in meinem Fall wäre ich noch am ehesten ein junger Baum gewesen, der sich entwurzeln liess, sobald er den begrenzt hilfreichen Nährboden gesehen hatte. Der Vergleich hinkt natürlich enorm, und meine Forstwirtschaftskenntnisse beschränken sich auf ein «nicht zu viele Bäume auf zu engem Raum, weil sie sich sonst gegenseitig Nahrung wegnehmen». Aber es ist ja schliesslich nur ein Vergleich.

Die Beerdigungsrede und der maximale missionarische Fokus

Eines Tages starb jemand der örtlichen EBG-Gemeinde. Sie war eine nette alte Frau, und ihre Urenkel waren in meinem Alter. Anscheinend hatte sie meine Urgrossmutter, die lange vor meiner Geburt verstarb, gekannt. Das machte sie mir gegenüber gleich sympathischer, und ich vertraute ihr, auch wenn mein Vater sachlich festhielt, dass seine Grossmutter «nie gross rausging». Die EBG mietete also die reformierte Kirche meines Heimatsorts, und ich kam an die Beerdigung. Klassenkameraden dort zu sehen war durchaus merkwürdig, vor allem, weil ich im Gegensatz zu ihnen nicht mit ihr verwandt war, aber ich kannte sie ja dennoch. Sie wurde also beerdigt – nicht kremiert, das ist in der EBG wichtig – und wir verschoben uns in die Kirche. Ich würde früher gehen müssen, also sass ich zuhinterst. Prediger Philipp begann. Die Beerdigung war gar nicht wie alle anderen Beerdigungen, bei denen ich jemals war. Bei den anderen ging es um die verstorbene Person, ihr Leben, was sie alles erreicht hatte, ihre Liebsten. Bei dieser Beerdigung ging es um die Bekehrung der Angehörigen der verstorbenen Person. Ein wenig nervte es mich, dass die Beerdigung so sein würde. Ich empfand es den Trauernden gegenüber als respektlos. Ich konnte mir vorstellen, dass die Verstorbene damit zufrieden war, dass sie auch wollte, dass ihre Angehörigen zum Glauben finden würden, vielleicht sogar Philipp danach gefragt hatte. Aber so ganz geheuer war es mir nicht. Rückblickend fällt mir auf, wie häufig ich zwei gegensätzliche Emotionen gleichzeitig hatte. Ich wollte schon, dass die Anwesenden bekehrt würden, aber es war aus meiner Sicht nicht die passende Gelegenheit. Das gesagt habend, eine passendere Gelegenheit mit grösserem Publikum und anfälligeren mentalen Zuständen gab es vermutlich nicht. Prediger Philipp wirkte nie so, als würde er bewusst anfällige Personen ansprechen. Niemand in der EBG wirkte so. Alle waren aufrichtig lebende Christinnen und Christen, die eben leider einfach nicht so weit dachten, dass sie merkten, hey, unser Verhalten ist etwas manipulativ. Auch ihr übertriebenes Geschenkegeben kann ohne Weiteres als Love Bombing interpretiert werden. Niemand machte es bewusst, alle machten es aus aufrichtiger Liebe gegenüber Jesus, aber es dachte auch niemand, dass es etwas Schlechtes wäre, wenn Leute so zu Jesus finden würden. Im Sinne von: Leuten ein schlechtes Gewissen machen, indem wir sie überhäufen, ganz nach dem Römerbrief («feurige Kohlen auf dem Haupt des Feindes sammeln») ist in Ordnung, solange sie zu Jesus finden. Ich war froh, dass ich früher gehen musste. Ich war mit der Beerdigung überhaupt nicht zufrieden, obwohl ich mir selbst sagte, dass es «schon okay und in Gottes Sinne» war. Als meine Mutter mir erzählte, dass sich einige darüber beschwert hatten, und dass auch sie die Augen der EBG-Vorsingenden als glasig empfand, sagte ich nichts. Ich war auch enttäuscht, und ich hatte es nicht in mir, meiner Mutter das zu sagen, was ich mir selbst einzureden versuchte. Vielleicht war auch das eine Enttäuschung, die es brauchte, um am Ende auszutreten.

Die Flüchtlingswelle im Jahr 2015, und der Islam

In dieser Zeit merkte man an den Predigten und Versammlungen schnell, welche Prediger und Männer welche politischen Überzeugungen in Bezug auf Migration hatten. Einige sprachen über die Flüchtlinge als drohende islamische Invasion, die unser christliches Land auf den Kopf stellen würden (durchaus mit angstmacherischer Argumentation), andere sprachen über die Flüchtlingslager als zu missionierende Orte. «Schaut euch die Zeugen Jehovas an! Sie gehen schon jetzt dorthin und sprechen mit den Flüchtlingen, um sie zu sich zu holen. Als Christen sollten wir dasselbe machen.» So klang es etwa aus dem linkeren Lager, wobei es nennenswert ist, dass die Zeugen Jehovas nicht ganz als «christlich» gesehen wurden. Der erste Ansatz, die Angstmacherei, war definitiv verbreiteter, oder vielleicht kam es mir auch nur so vor, weil auch Samiras Familie einen ähnlichen Ansatz vertrat. Ich weiss noch, wie ich im zarten Alter von 14 panische Angst vor einer islamischen Invasion hatte, und der felsenfesten Auffassung war, dass diese in den nächsten zwei bis drei Monaten (!) stattfinden würde. Die EBG bot aber einen Ansatz an, damit besser umzugehen. Wir lernten also mehr über den Islam, damit wir eine bessere Argumentationsbasis hatten, um Muslime zum Christentum zu bewegen. Tatsächlich erhielt ich ein paar Blätter, auf welchem sie versuchten, den Islam zusammenzufassen: die fünf Säulen, die relevant waren, Jesus als Prophet statt als Gotteskind, und nicht sehr viel Freude über die christliche Trinität oder den heiligen Geist. Einmal während unserer allmonatlichen Jugendgruppe las uns ein Prediger ein Teil des Qur’ans vor, in welchem es um die Befruchtung Marias (durch einen Mann, der mit ihr Sex hatte, nicht ganz wie in der Bibel), und die Geburt Jesu (oder Isas) ging. Etwas ironisch, in einer so konservativ-christlichen Gemeinde mehr über den Islam zu lernen, aber das Ganze war ja gekoppelt mit Informationen, wie wir denn Muslime am besten zum christlichen Glauben führten. Eines der Blätter verfügte über eine ganze Übersicht von Argumenten, die Muslime gegenüber Christen verwendeten (das lasse ich jetzt mal bewusst nicht gegendert), und die passende, christliche Antwort darauf. Ich organisierte mir auch ein Buch eines Christen, der sich intensiv mit dem Islam beschäftigt hatte, welches kostenlos verschenkt wurde. Ich weiss nicht mehr ganz, wie es heisst, aber eine seiner Hauptaussagen war: «Circa 60-70% des Qur’ans ist einfach die Geschichte der Bibel, aber verzerrt wiedergegeben.» Ich war erstaunt, dass Muslime bei solchen Aussagen kein Drama um ihr heiliges Buch machten, aber ich fand (um einiges) später heraus, dass Muslime eben dasselbe über die Bibel sagen. Dann ist es ja auch egal. Irgendwann beruhigte sich diese Angst vor der islamischen Invasion in den Versammlungen auch, nur hatte ich diese bereits internalisiert. Auch nach EBG-Austritt hatte ich eine «rechte Phase», in der ich sehr viel entsprechenden Inhalt konsumierte. Es war nicht die einzige Mentalität, die ich entweder während der EBG erworben oder durch die EBG verstärkt hatte. Dazu kam noch die internalisierte Homophobie, die durch die EBG verstärkt wurde, die internalisierte Transphobie, die Erwartung an christliches Handeln – schliesslich musste ich möglichst sündenfrei handeln, da ich ja bekehrt war, und meiner Familie ein gutes Leben vorleben musste, und dies blieb auch später als Erwartung an vorbildliches Handeln –, dann noch die Überlegung, dass Frauen «selbst schuld» waren, wenn sie einen Übergriff erfuhren… kurz, es waren viele Überlegungen, die Menschen immer noch haben, und die ich auch ohne EBG aufgrund meiner Kindheit hatte, die aber durch die EBG stark verstärkt wurden und vielleicht nicht so extrem geworden wären, wenn ich nie dort gewesen wäre. Wer weiss. Solche Überzeugungen loszuwerden ist anstrengend und ich werde vermutlich auch bis Ende meines Lebens daran arbeiten müssen. Geht aber in Ordnung, dann habe ich auch im schlimmsten Fall was zu tun.

Dazu darf erwähnt werden, dass politisches Engagement in der EBG grundsätzlich abgelehnt wird. Bei den allermeisten Abstimmungen, bei denen man sich als gewähltes Gremiumsmitglied beteiligen kann, sind biblische Werte eben nicht vertretbar, weil die Bibel sich nicht zu diesen Fällen äussert. Beispielsweise bei einer Abstimmung über ein Parkhaus: Wo will man hier «biblische Werte» einbinden? Die Bibel äussert sich nirgends dazu. Als Christ bezweckt man mehr, indem man einfach mehr Personen missioniert, ein Zeugnis ist, und ganz viel betet.

Hexerei!, Geister und Satanisches, oder: Harry Potter

Die EBG vertrat durchaus die Auffassung, dass es viel Satanisches gab. Neben einem sehr ausführlichen Buch über Hexen, die für ihre Rituale Leichen ausgruben, gab es auch eine Geschichte eines Mannes, der mit anderen einen Suizidpakt geschlossen habe. Pokémon sowie Harry Potter waren ebenfalls satanisch. Das alles musste entfernt werden. So kam es dazu, dass ich alle meine Harry Potter Bücher – was, ungefähr, alle damals veröffentlichten Bücher beinhaltete – wegwarf. Aus heutiger Sicht bin ich von der Autorin und der Buchserie auch nicht mehr so begeistert, aber damals war es etwas heftiger, und aus komplett anderen Gründen. Ursprünglich wollten wir die Bücher verbrennen, ein Gemeindemitglied, R., teilte mir aber mit, dass Bücher einen merkwürdigen Rauch auslösten, wenn sie verbrannt wurden, sodass wir sie einfach wegwarfen. Anscheinend hatten sie auch mal einen (muslimischen) Gebetsteppich weggeworfen. Meine homöopathischen Medikamente gegen Heuschnupfen etc., die ehrlich gesagt sowieso nicht viel gebracht hatten, musste ich auch wegwerfen, weil ja bei der homöopathischen Verarbeitung dieser Medikamente satanische «Gebete» gesungen wurden. Homöopathie enthielt also, gemäss EBG, sehr viele satanische Elemente. Sonst noch wegzuwerfen gab es nicht mehr viel, mein Schlagzeug hätte ich nicht aus dem Haus gebracht und meine Mutter hätte es auch nie weggegeben. Wenn ich schon erwachsen gewesen wäre und beispielsweise enorm viele Mozart-CDs hatte, wäre es etwas anderes gewesen; dann hätte ich die irgendwann auch alle weggeschmissen, oder mich dazu gedrungen gefühlt. Herauszufinden, welche Elemente alles satanisch sind, das war einer der grössten Herausforderungen in der EBG. Auch die «Satanic Panic», die einige Zeit vor meiner Geburt, wohl in den 90ern, geschah, war in der EBG noch spürbar. Mit der erneut aufkommenden satanischen Panik dürfte auch in der EBG das Thema wieder relevanter sein. Da WhatsApp und Instagram lange «nicht empfohlen» waren, und auch der PC nur ein Arbeitsgerät und nichts anderes sein soll, fehlte zu meiner Zeit auch das notwendige Verständnis, wie vertrauenswürdig welche Medien seien. Das wurde dann aber präsentiert als: «40-60% dessen, was die Medien berichten, stimmt nicht. Nur die Bibel stimmt zu 100%». Dann gab es aber Personen, die Medienberichte des Postillon (einer Satiriker-Zeitschrift) glaubten. Und so kann ich mir gut vorstellen, dass bibeltreue Christinnen und Christen auch heute noch eher schnell anfangen, Sachen zu glauben, die eben ihrem grundsätzlichen Verständnis und Weltbild entsprechen, wie eben beispielsweise die neu erwachende «Satanic Panic». Schliesslich muss man auf dem Laufenden bleiben, was man alles konsumieren darf, oder sich dann eben grossteilig zurückziehen und gar nichts mehr konsumieren, was einem nicht von anderen Christen empfohlen wird. Ich habe noch einige Jahre nach meiner EBG-Zeit gemerkt, wie leichtgläubig ich war. Sicher eine kindliche Charaktereigenschaft, die aber durch die EBG verstärkt wurde, und auch bei den Erwachsenen dort noch immer sehr präsent ist, solange die Information ins Weltbild passt. Eine gewisse Anfälligkeit für Verschwörungstheorien beobachtete ich auch nach meiner EBG-Zeit noch. Kritisches Auseinandersetzen ist etwas, in dem ich im Studium am meisten Energie investieren muss, damit nicht mein Default-Mode von «alles, was steht, stimmt» übernimmt. Wenigstens ist es bereits viel besser als damals.

Jugendgruppen und Rederecht der Frauen

Einmal im Monat, am dritten Samstag des Monats, fanden Jugendgruppen statt. Dorthin fuhr ich jeweils mit Samira und den restlichen Bündner Jugendlichen. Häufig gingen wir nach Birrwil, aber seit meinem Austritt finden dort wohl keine Jugendgruppen mehr statt – der Raum wurde zu eng. Diese Gruppen waren angenehm und ich wurde immer als «’s Angi», das übrigens aus einem ungläubigen Elternhaus dennoch zu Gott gefunden hatte, vorgestellt. Die Jugendgruppen wurden bereits im Voraus mit dem dazugehörigen Thema via E-Mail angekündigt, und erfreuten sich immer vieler Jugendlicher und junger Erwachsener. Für die jungen Erwachsenen war dies auch ein beliebter Ort, um potenzielle Heiratspartner zu beobachten und kennenzulernen, ohne allein sein zu müssen. Wir standen in den Pausen häufig draussen und redeten, spielten Ping-Pong oder Fangis, wie das Jugendliche eben machen. Ja, wenn nicht immer das beobachtende Auge der anderen, dass man auch ja den Rock nicht versehentlich zu stark lüpfte und einen Einblick darunter gewährte, und das Aufpassen, dass man sich dann nicht doch zu unvorbildlich verhielt, dann wäre das auch eine meiner schönsten EBG-Erfahrungen. In der Jugendgruppe zählten wir häufig auch Gebetsanliegen auf, wenn beispielsweise jemand krank war, oder auch für meine Familie wurde gebetet. Gebet läuft so ab: Wir sammelten erst Anliegen, und als es keine mehr gab, bogen sich alle auf dem Stuhl (in einer «ehrenden», untergebenden Haltung), falteten die Hände und jemand begann – zufällig – zu sprechen, und zu beten. Das Gebet war nicht auf die Männer beschränkt, und viele Frauen beteten. Nach Ende des Gebets sagten wir Amen, teils auch, wenn alle Gebete gesprochen waren. Wir lernten, nur «Amen» zu sagen, wenn wir es auch wirklich so sahen. Wir beteten damals auch besonders häufig für T., die damals vor kurzer Zeit aus der EBG ausgetreten war und die jetzt «in der Welt» lebte. Aus diesem Grund vermute ich, dass für mich ebenfalls oft gebetet wurde. Was sich die Neuen wohl dachten, als sie hörten, «beten wir fürs Angi, dass sie wieder zu Gott findet»? Vielleicht «wer ist das?», wie ich, oder «oh nein, wie kann man sich vom Evangelium abwenden? Hoffentlich findet sie wieder zu Gott». Vielleicht hatte man sie auch informiert, wer das war.

Die Jugendgruppen, kurz JG, gern aber «IG» genannt, waren auch einer der wenigen Situationen, in welchen Frauen sich äussern durften. Einmal gab es sogar eine Diskussion darüber, ob Frauen auch dort etwas sagen dürften. Damit meine ich nicht, dass sie predigen würden, sondern ob sie nur schon Fragen stellen dürfen, ob sie Zeugnis ablegen dürfen, nur während der JG. Dabei traute ich mich natürlich nicht, etwas zu sagen – was auch? Ich war ja aus einer ungläubigen Familie. Und eine Freundin bat mich explizit, nicht zur Diskussion beizutragen. Ich hätte durchaus eine für mich damals typische Aussage gemacht, eine Frage gestellt, und mir wäre offiziell vermutlich noch schnell vergeben worden. Aber «böse Zungen», wie man so schön sagt, gibt es eben nicht nur in der Welt, sondern auch in der EBG. Und es wäre sicher schön gelästert worden. Wir hatten eine einzige Frau, die wirklich darum kämpfte, das Rederecht zu behalten. Sie tat mir enorm leid. An der Diskussion beteiligten sich sonst nur Männer, die stark dagegen waren. Alle anderen Frauen waren still. Ich fühlte mich enorm unwohl. Ich konnte nichts sagen, schliesslich war ich nicht wie die anderen in einem «gläubigen Haushalt» aufgewachsen. Aber alle anderen, jede einzelne von ihnen, die doch etwas sagen hätte können, die doch ihre Schwester im Glauben unterstützen hätte können, blieb still und sah zu. Es brach mir regelrecht das Herz. Rückblickend finde ich es immer noch enorm mutig von dieser einen Frau, ihre Meinung so klar, ohne Unterstützung und trotz solcher Opposition vertreten zu haben. Die Position der EBG-Frau liegt nicht im Meinungsäussern, und im Vergleich zu den Männern hatte sie automatisch weniger Erfahrung. Und doch machte sie es super. Ich glaube, ich habe sie als Vorbild abgespeichert, auch wenn ich mich überhaupt nicht mehr an ihren Namen erinnern kann.

«Intelligenz»: Kein Argument gegen religiöse oder fundamentalistische Gruppierungen

Meine Verwandten sagten häufig, dass ich zu intelligent wäre für die EBG. Als Erwachsene wären mir vielleicht Sachen aufgefallen, die mich vom Beitritt abgehalten hätten – vielleicht, vielleicht auch nicht – aber nach meinem Verständnis trat ich der EBG bei, eben genau weil ich (angeblich) so intelligent war – angeblich, weil ich mich ungern selbst als intelligent bezeichne(te). Tatsächlich wollte ich meine Intelligenz voll ausnutzen. Ich wollte alles über die Bibel lernen, um die Wissenschaftsmenschen von ihr überzeugen zu können. Ich wollte alles über Gott lernen. Ich sog auf, was die EBG vor mich legte, als wäre ich ein Schwamm. Die christlichen Bücher reichten eine gute Zeit als Ersatz zu meinem «über Gott und die Welt philosophieren», und als intellektuelle Stimulierung. Ausserdem ging ich noch zur Schule – auch intellektuelle Stimulierung – und lernte meine Sprachen, las die Bibel auf andere Sprachen (wenn auch sehr langsam), betete in seltenen Fällen auch auf andere Sprachen. Ich liebe Sprachen, und das Lernen neuer Sprachen, das Kennenlernen anderer Kulturen. Wenn ich in der EBG geblieben wäre, dann würde ich wohl heute irgendwo im Ausland auf Mission sein. Punkt ist: Ein intellektuelles Bedürfnis kann man zumindest zeitweise mit der Literatur der Gruppe sättigen. Wenn man Literatur konsumieren darf.

Dank meinem übertriebenen Lesedurst erhielt ich tatsächlich noch viel mehr Bücher von Bekannten, sodass ich zuhause zum Zeitpunkt meines Ausstiegs etwa 36 Bücher der EBG-Zeit hatte, die aufeinander aufgestellt ungefähr einen Meter Höhe hatten. Meine Mutter schmiss diese leider alle weg, weil ich sie im Gang liess (mein Zimmer war ein Chaos). Einige der Bücher handelten von „Woher wissen wir, dass wir in der Endzeit leben“, zu „Warum ist XY satanisch“, natürlich noch die missionarischen „Wilhelm Busch“-Bücher, die ich früh erhielt, die autobiografischen von Fritz Berger (Begründer der ganzen EBV-Geschichte, aus dem Jahr 1906 mit dem Freien Blauen Kreuz), ein Buch über eine Missionarin in China – Oma Han, wenn ich mich richtig erinnere -, ein Buch über verschiedenste christliche Personen, und so weiter. Die hatte ich alle gelesen. Man stelle sich vor, einen Meter Bücher in zwei Jahren, plus die Bibel, plus die Bücher der Ortsgemeindebibliothek, die ich wieder zurückgab, plus andere Bücher, die ich zurückgab. Mein intellektuelles Bedürfnis wurde einige Zeit – etwa 1.5 Jahre, bis ich alle gelesen hatte – so gestillt.

Eine ewige Diskussion: Welche Apps, Spiele, Bücher sind okay, welche nicht?

Als ich der EBG beitrat, hatte ich noch WhatsApp. Wie eben alle anderen in meinem Alter. Auch Instagram, Snapchat, das Übliche. (TikTok kam erst später, als ich bereits mehrere Jahre ausgetreten war.) Das deinstallierte ich im Verlauf der EBG-Zeit alles. Während der EBG-Zeit auf meinem Handy war: Die Bibel (auf Deutsch), die Bibel auf Tok Pisin (Pidgin von Papua Neu Guinea), die Bibel auf andere Sprachen. Bibellesen auf dem Handy wurde zwar abgelehnt, aber ich machte das auch nicht für meine tägliche Andacht, sondern um kurz Dinge nachzuschauen und um Sprachen zu lernen, auch wenn der Wortschatz dort noch zu hoch für mich war. Ausserdem weitere Apps zum Sprachen lernen. Apps wie Clash of Clans (das ich aber erst nach der Zeit entdeckte, gab es das überhaupt im Jahr 2015 schon?) oder Subway Surfer konnte man vergessen. Die waren unnütz, schlimmstenfalls schädlich. Anders-religiöse Apps gingen natürlich auch nicht, und okkult geprägte Apps (wie Hogwarts Mystery, das es dort mit Sicherheit noch nicht gab), auch gar nicht. Ja, es war ein Kampf, die richtigen Apps im Playstore zu finden. Irgendeinen satanischen Haken hatten die meisten. Eine Zeit lang hatte ich auch noch ein «Gebetsapp», bei welchem jeweils Verse gepostet wurden, man die Bibel lesen konnte, und vorgebetet wurde. Heisst: Statt selbst zu beten, hörte ich einem Betenden zu. Meine Kopfhörer gingen einmal, während ich ein solches Gebet hörte, kaputt. Das nervte mich erst. Ich erzählte Ramona – nicht wegen den Kopfhörern, sondern einfach so – von der App und sie fand diese gar nicht gut. Dieser Christen-vereinheitlichende Ansatz sei Teil, eine neue Weltordnung zu schaffen, und stamme vom Teufel. Ausserdem: Wenn wir beten, sprechen wir mit Gott. Das ist eine eigene Beziehung, die wir selbst pflegen müssen. Ansonsten höre ich nur anderen Personen bei ihrer Beziehung zu. Diese Ansicht leuchtete mir ein und ich deinstallierte die App zackig. Dass die Kopfhörer kaputt gingen, war also ein Zeichen Gottes. Spiele, die erlaubt waren, gehörten zum selben Grundkonzept: Hat es einen satanischen Haken, und gibt es nichts Besseres, das man tun könnte? Klar satanische Dinge, die andere Götter behandelten, oder gewalttätig waren (also, beispielsweise Egoshooters), die waren logisch nicht erlaubt. Alles, was irgendwie Mythologie beinhaltete, auch nicht. Sims, ein Spiel, das ich seit lange vor der EBG konstant immer wieder spiele, das war erlaubt, aber nicht besonders sinnvoll. War mir egal, ich brauchte die Flucht in eine alternative Umgebung. Dort war nur mühsam, dass ich lange Kleider suchen musste, die den Frauen passten, weil sie ja den Regeln entsprechen mussten. Bei anderen Spielen gilt wohl dasselbe. Sobald es ein Suchtpotenzial gibt, einen satanischen Haken hat (Beispiel: die Firma gibt andere, klar satanische Spiele heraus, oder der CEO ist als satanisch klassifizierbar, beispielsweise, weil er bei Scientology ist), wird strikt und mit Nachdruck davon abgeraten. Wenn es einfach nicht nützlich ist, also kein Spiel, um Französischvokabular (oder so) zu lernen, dann stellt sich einfach die Frage, ob man mit der Zeit wirklich nichts Besseres tun könnte. Die Grundregel ist unterdessen klar und gilt auch für Bücher. Es gab viele christliche Bücher und ich las sie alle durch. Zumindest die, welche es in meine Hände schafften. Alle anderen Bücher, nein. Eben. Harry Potter wurde weggeworfen, alles Mystische und Unrealistische hätte ich wohl auch wegwerfen sollen, wenn es nicht meiner Schwester (deren gesamtes Büchergestell ich wohl schon durchgelesen hatte) gehört hätte. Sachbücher sind Sachbücher und können natürlich gelesen werden – bei Büchern über die Evolution wird es eventuell heikel -, aber wenn man schon liest, warum nicht gleich die Bibel oder Bücher, die über die Bibel reden?

Ja, ich las so gerne, ich versuchte mich selbst immer wieder am Schreiben. Vor der EBG ging es in Richtung «Kinderbücher über spannende Kindererlebnisse» – wie die Fünf Freunde -, beim Lesen von Hanni und Nanni Internatsgeschichten, und irgendwann begannen Fantasy-Elemente. Ich liebte die Bücher, welche die reale und die «fantastische» Welt vermischten. Sie gaben eine Ausflucht in eine alternative Umgebung. Mein grösstes Problem beim Schreiben war immer, dass es mir bei meinen Charakteren zu fest weh tat, wenn es ihnen weh tat. Ich wollte kein Leiden erschaffen, ich wollte eine ideale Welt (oder heile Welt) erschaffen, in die ich fliehen konnte. Nein, vor der EBG gings mir auch nicht gut, auch wenn ich äusserlich einiges hatte. Ausserdem spielte ich in «RPGs» mit. Damit meine ich die eher seltene Verwendung von Role Play Games («Rollenspiele»), im Sinne von: textbasiert. Wir hatten ein Forum, in welchem wir unseren Charakter selbst erschufen, und in welchem wir dann als unser Charakter «spielten». Wir schrieben im Grunde genommen miteinander eine Geschichte, bei welcher jeder Schreibende seine eigenen Charaktere bespielte. Aus dem Harry-Potter-inspirierten Forum klinkte ich mich aus – ohne meinen Account zu löschen, ich glaube, ich vergass oder ignorierte einfach die Existenz der ganzen Webseite – als ich in die EBG kam.

Während der EBG war das Schreiben erneut schwierig. Ich wollte schreiben, aber Realität mit Fantasy-Elementen fiel weg. Da war noch Realität mit Gotteselementen, aber wie sollte ich über erfundene Geschehnisse Gott loben können? Das wäre ja heuchlerisch, schliesslich ist es nicht passiert. Und Bibelanalyse ging nicht, ich war erstens weiblich und zweitens nicht ausreichend gebildet (wie auch, mit 14). Es blieb wenig übrig. Ich müsste über reale Erlebnisse schreiben. Nur welche? Sehr viele gab es nicht, die ich kannte, und von denen ich nicht bereits in einem Buch gelesen hatte. Meine UK-Tante schlug vor, eine Biografie zu schreiben. Ich begann also, über mein Leben zu schreiben. Das hielt nicht lange an, denn die Erinnerung an die Zeit vor der EBG, in der ich litt und die bis dort nie therapeutisch diskutiert wurde, war eben zu schmerzhaft, als dass ich darüber etwas schreiben hätte können. Es blieb mir nichts anderes übrig: Es gab nichts zu schreiben. Höchstens meinen Alltag. Ich würde warten müssen, bis sich mehrere Dinge ergaben, ich aus dem Elternhaus raus war, sowas. Beim Austritt konnte ich schreiben. Und wie ich schrieb! Eine Freundin kommentierte, wie schnell ich am PC tippte. Ich war einfach froh, endlich wieder schreiben und denken zu können, ohne mich von der EBG und der Bibel eingeengt zu fühlen. Eine Geschichte habe ich bisher nicht geschafft. Aber vielleicht wird eine Biografie doch das erste, das ich publiziere. «Christlich» wird es ganz sicher nicht, das weiss ich schon jetzt.

Feurige Kohlen auf dem Haupt des Feindes!

Im Freifach Französisch (Bündnerland! Wir haben keinen obligatorischen Französisch-, dafür obligatorischen Italienischunterricht) gingen wir jeweils für eine Woche im Frühjahr in die Romandie. Das erste Mal dabei waren unter anderem eine Freundin, die später auch mit mir den UK machen sollte, als auch zwei Begleitpersonen, die zufällig Zeugen Jehovas waren. Das zweite Mal war ich bereits in der EBG, und dazu noch die einzige, irgendwie gläubige. Ich nahm natürlich meine Bibel mit und las jeweils darin. Es war noch zu Zeiten des vier-Kapitel-pro-Tag-Regimes (selbst auferlegt, um sie zeiteffizient zu lesen), und wir teilten unser Zimmer in der Jugendherberge zu viert. Es war nicht sehr optimal, denn wir hatten verschiedene Differenzen in der Gruppe. Und so telefonierte ich mit Ramona, erzählte ihr, dass es gar nicht gut lief, und sie überlegte und meinte, ich solle mich nicht für das Verhalten rächen, sondern umgekehrt: Heisse Kohlen auf ihren Köpfen sammeln. Ganz nach Römer 12, 19 – 21, Lutherbibel 2017 (was sie mir auch vorlas): « Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: ‘Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.’ Vielmehr, ‘wenn deinen Feind hungert, so gib ihm zu essen; dürstet ihn, so gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln’ Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem». Und so empfahl sie mir, «Schöggeli» zu kaufen und ihnen auf das Kissen zu legen. Ich traute mich nicht, das zu machen, aber ich gab mir Mühe, nett zu bleiben. Das mit den Schokoladen machte ich tatsächlich einmal, ich legte Schokoladentafeln in die Briefkästen einzelner, denen ich lange verschiedenes vorgeworfen hatte (wie gesagt, meine Primarschulzeit war nicht ganz optimal). Ob die wohl je herausgefunden haben, warum sie plötzlich Schokolade im Milchkasten hatten?

Der Versammlungsverlauf

Die Versammlung lief immer etwa ähnlich ab, nämlich so: Wir kamen hinein, begrüssten alle anderen Anwesenden mit Händeschütteln und Namen und einigen kurzen Gesprächen, dann gingen wir im kleinen Versammlungslokal (das so klein war, dass wir bereits beim Begrüssen in Gang und dem existierenden nicht-Versammlungs-Zimmer kaum aneinander vorbeikamen) in den Raum, in welchem wir jeweils unsere Predigten hörten. Der Raum war dicht gestuhlt und die Uhr, die irgendwann mal hing, nur nicht in meinem Sichtfeld (vielleicht besser, wenn es eine Uhr hat, möchte ich immer wieder drauf sehen, wäre nicht gut angekommen). Der Prediger stellte sich jeweils hinter dem Pültchen auf und wir setzten uns auf die hölzernen Stühle. In einer anderen Raumecke war ein hölzernes Kreuz – natürlich ohne Jesus, schliesslich ist er auferstanden, wie wir über die katholische Kirche witzelten – und an der Tür hing ein Kästchen für die Kollekte. Ebenfalls hölzern, aber vom Stil her vergleichbar mit dem Kästchen, das ich aus der reformierten Kirche kannte. Rechteckig, mit schmalem Schlitz oben fürs Geld. Einwerfen würde man so, dass andere es möglichst nicht sahen, beispielsweise während alle die anderen begrüssten, gingen ältere Frauen, die teils auch aus gesundheitlichen Gründen so bald wie möglich wieder sitzen wollten, direkt ins Versammlungszimmerchen, warfen ihren Zehnten (nicht erzwungen oder gemessen oder gezeigt, aber meistens so gehandhabt) ein und setzten sich. Wir begrüssten sie dann, während sie sassen, und setzten uns selbst. Bei uns hatten wir eine Familie von Querflötern – heisst, 3 von 6 Personen spielten die Querflöte – und sie begleiteten unseren Gesang jeweils. Es ging ziemlich schnell ans Singen, wir setzten uns und wünschten Lieder, eins nach dem anderen, und die Querflöten begleiteten uns. Ein Klavier hatten wir keines, dafür war es auch viel zu eng im Raum. Ich glaube, einige meiner Bekannten werteten dies als Vorteil, als sie entschieden, das Klavier – statt ein anderes Instrument – zu lernen. Wir sangen also aus unserem Liederbüchlein „Singet fröhlich Gott“, das ehemalige EBV-Liederbüchlein mit Refrains à la „Vorwärts im Krieg, vorwärts zum Siege oder Tod, steht treu zur Blut- und Kreuzesfahn“ (ich habe die Melodie immer noch im Kopf). Nach einigen Liedern gab es eine Begrüssung, dann das Gebet. Beim Gebet nannte die begrüssende Person jeweils Anliegen, wie beispielsweise eine gute und lehrreiche Predigt, viel Konzentration, und natürlich Lob und Dank. Wir beugten uns also alle, in einer demütig-ehrenden Position, auf dem Stuhl, falteten die Hände und schlossen, sicherlich grösstenteils, die Augen. Dann begannen einfach zufällig Personen aus der Gemeinde zu beten, wie es in der EBG üblich war (und weiterhin ist). Bei Gebeten, denen wir voll und ganz zustimmten, sagten wir „Amen“, bei den anderen entsprechend nicht. Einmal hatten wir einen Prediger, der darüber sprach, wie wichtig es ist, nur „Amen“ zu sagen, wenn wir es auch wirklich meinen, und seitdem ziehe ich das durch. „Amen“ heisst schliesslich „so sei es“, und warum sollte ich das sagen, wenn ich denke, „so ist es sicher nicht“? Nachdem etwa drei Personen beteten – Frauen, Männer, wer will, knapp mehr als die Hälfte männlich – sangen wir erneut und dann begann die Predigt. Er nannte erst das Kapitel oder den Auszug aus der Bibel (nicht zwingend ein ganzes Kapitel), über was wir diskutieren würden, wir schlugen alle in unserer Bibel nach, und lasen es gemeinsam. Bei den Bibelversionen gibt es bei der EBG, im Gegensatz zu den meisten Freikirchen, Restriktionen: Nur die Schlachter 2000, oder Lutherbibeln. Alle anderen waren zu modern, zu zeitgenössisch, und somit zu weit weg vom wahren Wort Gottes. So richtig fiel mir der Unterschied erst nach Austritt auf, als wir im Ethikunterricht das Hohelied der Liebe (aus dem Alten Testament, etwa in der Mitte der Bibel) in einer moderneren Übersetzung lasen.  Plötzlich bedeuteten die Wörter gar nicht mehr das, was ich ursprünglich dachte. Wenn ich mal wieder die Bibel voll durchlesen sollte, dann sicherlich mit einer neuen Übersetzung und, im Idealfall, mit ernsthafter historisch-kontextualisierter Recherche. Die Bibel nicht für das bare Wort Gottes, von ihm über die Jahre geschützt, zu halten, die Bibel im Kontext von historischen, kulturellen, linguistischen Ereignissen und Aspekten zu lesen, das gehört(e) nicht zur EBG, wie es auch nicht zu vielen anderen Freikirchen gehört. Auch wenn einige da extremer sind als andere. Wir lasen also gemeinsam den Auszug, und dann ging der Prediger diesen chronologisch durch. Das war angenehm, denn da mein Sichtfeld auf die Uhr verborgen war, ich nicht am Handy sein wollte (Bibellesen auf dem Handy wird abgelehnt, auch wenn ich zeitweise mehrere Bibel-Apps hatte), und auch nicht konstant Samira nach der Uhrzeit fragen wollte, konnte ich einfach die verbleibende Zeit anhand der Stelle im Text messen. Der Prediger stellte oftmals interaktiv Fragen, beispielsweise nach Verlauf einer biblischen Geschichte, manchmal auch einen Bibelvers teilweise vorlas und wir aus Reflex den Bibelvers beendeten (illustrativ, Prediger „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen,“ und die Gemeinde: „der Name des Herrn sei gelobt“, aus Hiob 1, 21). Dann erläuterte er gern den Kontext des Bibelverses, manchmal den historischen, manchmal den Kontext zu anderen Büchern und Kapiteln in der Bibel. Manchmal sprach er auch über ein bestimmtes Wort, teilte mit, wie das Wort ursprünglich auch übersetzt werden könnte, oder wofür es gebraucht wurde. Und dann gab es häufig auch anekdotische Ergänzungen, wie er Gott erlebte, oder wie er eine Geschichte hörte. Meine Grossmutter beklagte sich einst, dass die Predigt in der EBG (die sie ja für meinen UK einmal hörte) einfach keine Predigt war, sondern nur jemand, der dahinsteht und redet, was ihm so einfällt. Damals verteidigte ich mich stark dagegen, schliesslich gab es den roten Faden im Rahmen des Bibelauszugs, auch bekannt als „Predigttext“. Aber heute verstehe ich sie. Die Art, wie EBG-Prediger predigen, steht nicht nur in einem Kontrast zur reformierten Kirche, sondern auch zu anderen Freikirchen. Auch andere Freikirchen bauen ihre Predigt auf wie die reformierte, mit einem Thema statt einem Predigttext, und sie unterstützen das Thema dann mit Bibelversen, statt einfach einen Text zu nehmen und darüber zu referieren. Ob viel Bibelwissen in der EBG eher vorausgesetzt wird als in der reformierten Kirche? Ich denke schon. Dafür sind die Predigten der reformierten aber logischer für Personen, die es nicht sehr gut kennen. In der EBG würde die Predigt von Sündenfall und Notwendigkeit zur Bekehrung handeln, wenn man unbekehrt geht, und der Prediger dies weiss. Sobald der Predigttext vorbei ist – was meistens gegen Ende knapp wurde, weil die ersten paar Verse enorm viel Aufmerksamkeit erhielten – würden wir beispielsweise singen, dann Zeugnisse ablegen können (wenn die Zeit reichte), wobei natürlich eher Männer Zeugnisse ablegten, und zum Schluss erneut beten, gleich wie am Anfang, und erneut singen. Dann wäre die Versammlung in dem Sinne vorbei und alle würden entweder noch einen Moment bleiben und sprechen oder direkt nach Hause fahren. Nur an einem Tag war es anders, am 4. Sonntag in der Woche. Dort gab es nämlich Zvieri (die Versammlungen begannen um 14 Uhr und dauerten bis 15 Uhr, damit die Prediger genügend Zeit hätten, ins Bündnerland und natürlich zurück zu fahren). Wir sassen gemeinsam im anderen Raum an den grossen Tisch und assen die Backwaren, während wir uns austauschten. Im selben Raum, in dem wir jeweils assen, fand – wenn notwendig – eine Sonntagsschule statt, und es gab ein Bücherregal mit Büchern, die ich meines Wissens eher früh durchgelesen hatte. Ich nenne sie „Ortsgemeindebibliothek“, auch wenn es nicht ausreichend Bücher für eine Bibliothek gab. Nachdem Zvieri oder Versammlung vorbei waren, verabschiedeten wir uns – mit Handschütteln und Namen – und gingen nach Hause. Manchmal ging ich zu Samira nach Hause, um den friedlichen Sonntag noch etwas länger zu geniessen, und natürlich, um mit meinen Freundinnen Zeit zu verbringen. Wenn ich nach Hause ging, brauchte ich meistens Ruhe – ich hatte eine schnell leere Sozialbatterie, die zwar heute besser, aber immer noch nicht unendlich ist – und erhielt diese nicht, denn meine Eltern waren erst mal nicht sehr glücklich, dass ihre Tochter wieder „bei der Sekte“ gewesen war. Und so kam es, dass ich nicht lange nach der Versammlung, in der ich mit anderen über das christliche Leben sprach, nach Hause kam und eher schnell mit meinen Eltern zu streiten begann. Ich weiss nicht, wie gut es für wen nachvollziehbar ist, die Belastung, die meine Familie und ich teilten, und die uns gleichzeitig trennte. Wenn ich erwachsen gewesen wäre, dann wäre ich eiskalt ausgezogen und hätte bei den Predigern oder einer anderen Familie oder eben alleine gewohnt. Ich war aber zu jung dafür, und so musste ich irgendwie durchhalten. In einem jugendlich-hormonell und emotional-belasteten Kontext ging das aber nicht sehr gut, und etwa jedes Gespräch, das irgendwie in Richtung EBG begann, eskalierte, egal, wer den Auslöser fallen liess. Bis es keine Eskalationen mehr gab. Aber dann dauerte es auch nicht mehr lange, bis ich die EBG wieder verliess.

Ein unerlaubtes Zeugnis in der Versammlung

Bernard, jüngerer Familienvater und Prediger, kam zu uns und predigte. Vor allem darüber, wie grossartig Gott ist, und dass er unsere Gebete erhört. Ich weiss nicht mehr, über welche Verse er genau sprach, aber ich entschied mich dazu, eine Geschichte aus meinem Leben zu erzählen, auch bekannt als «Zeugnis ablegen», wie Gott meine Gebete erhörte. Es war eine belanglose Geschichte, eine Kleinigkeit – ich erzählte in unserer gemütlich-familiären Versammlung, wie ich einmal ein Marmeladenglas nicht aufbekam, Gott bat, mir Kraft zu schenken, und es dann sofort klappte. Vielleicht fast zu belanglos, als dass ich Gott um Kraft bitten hätte sollen, aber ich lernte, Gott immer zu kontaktieren, wenn ich ihn brauchte (und auch sonst! Eine gesunde Beziehung braucht mehr Kommunikation als nur «hilf mir, bitte»), und ich brauchte eben Hilfe beim Öffnen des Glases. Und so erzählte ich die Geschichte, meine Bekannten, also praktisch die ganze Gemeinde, grinsten mich an, denn so eine Geschichte ist – oder war – eben typisch für mich, «typisch Angi». Nach der Versammlung nahm mich eine Freundin beiseite und meinte, das sei unpassend gewesen, ich hätte es ihnen besser nach der Versammlung erzählt. Frauen sollen in der Versammlung ja nicht sprechen. Mein Zeugnis hätte ich nicht ablegen dürfen, auch wenn es in dieser Versammlung ging, weil ja alle mich kannten und es mir niemand böse nehmen würde. Aber in einer anderen Versammlung wäre ein solches Zeugnis wohl gar nicht gut angekommen.

Die anderen Frauen

Wir waren so einige junge Frauen, die grösstenteils in «gläubigem» Elternhaus aufwuchsen, und was die meisten von uns erlebt hatten (oder: ich weiss spontan von keiner Frau, die nicht auch darunter litt), war Mobbing. Einerseits sehe ich es ein, die Mädchen trugen Röcke, zusammengebundene Haare, und natürlich auch ein übertrieben anständiges Oberteil. Da hatten die Jungs mehr Glück, auch wenn es einzelne (bereits bekehrte) Männer störte, dass sie nicht so offensichtlich christlich sein konnten wie die Frauen. Andererseits: Es machte die Sache schlimmer. Wir lernten, dass Christen verfolgt werden, und auch wenn unsere Glaubensgeschwister in anderen Ländern an Leib und Leben bedroht sind – was wir nicht sind, zumindest nicht jetzt – so mussten wir doch den Spott der anderen hören. Ja, Spott ist ein Wort, das (Ex-)EBG-Mitglieder gut kennen. Was man als Mädchen lernt, ist, das Leiden auszuhalten – oder auszuharren – und irgendwie damit umzugehen, dass die Ungläubigen eben solche Spötter sind. Man lernt, mit den dummen Blicken im Zug umzugehen, die dummen Kommentare zu ignorieren, und man lernt, dass man fürs Folgen von Gott eben leiden muss. Ich sprach viel mit den anderen, und es war einfach klar, dass wir alle in der Primarschule gelitten hatten. Ich frage mich, wie stark uns dieses Leiden – im Gegensatz zu den Männern, die sicher auch ihre eigenen Probleme hatten – prägte. Ich frage mich, ob wir unseren Glaubenstest früher als die Jungs begannen, weil wir dem Spott früher ausgesetzt waren. Und ob das ein Grund ist, warum mehr Frauen, die ich kenne, aus solchen Gemeinden austreten. Ich meine, man überlege sich: Wir wussten, unsere Rolle war in allererster Linie, Gott zu dienen. Dann hatten wir die beiden Optionen, zu heiraten und (so einige) Kinder zu produzieren, oder eben allein zu bleiben. Eine Karriere in der Gemeinde war unvorstellbar, eine Frau darf weder leiten noch lehren. Höchstens noch die Mission, also allein oder mit einem (Ehe-)Mann in ein fremdes Land um in einer fremden Kultur und einer fremden Sprache fremde Leute zum eigenen Gott zu bringen, das wäre möglich. Aber schon ein wenig beängstigend. Man konnte sich also entscheiden, Mutter zu werden, ohne Kinder den Rest des Lebens zu arbeiten und so gut wie möglich zu versuchen, Gott zu verherrlichen, das Risiko der Mission auf sich nehmen, oder – austreten. Ich habe sicherlich mit mehr Frauen als Männern zu tun gehabt, und ich erhielt den Eindruck, dass Frauen viel eher austreten. Warum auch nicht? Ich würde sagen, Mädchen leiden grundsätzlich mehr als Jungs. Ja, Männer müssen ins Militär, und ich weiss nicht, wie es ist, wenn man als Christ irgendwo hingeht, wo Menschen so durchmischt sind wie im Militär, und wo man vielleicht so einige unchristliche Witze macht und hört. Aber trotz Dienstpflicht müssen sie nicht unbedingt ins Militär, es gibt genügende Männer, die bewusst etwas anderes machen, ob Zivildienst oder Zivilschutz oder den Betrag zahlen. Viele Alternativen sind es nicht, aber es gibt Alternativen. Aber dieses halbe oder ganze Jahr ist etwas, das die Kindheit der Mädchen, die auf den ersten Blick als Verspottungsobjekt erwählt wurden, eben nicht ausgleichen kann. Und wenn die Mädchen dann erwachsen und Frauen sind, haben sie in der Gemeinde, unter der sie mehr litten, einfach nichts zu sagen. Klar, die Männer nehmen sie – ab einem gewissen Alter – eher ernst, besonders, wenn sie verheiratet, Prediger und Älteste sind. Natürlich sind es aber dennoch immer noch Personen, die weniger gebildet sind. Ehrlich gesagt erhielt ich immer den Eindruck, dass Männer eher auf Frauen herabschauten, zumindest im Thema der Bibelauslegung. Weniger bei den Predigern, viel eher bei den nicht-predigenden. Vielleicht verspürten sie auch Druck, dass sie viel lernen mussten, um ihre Frauen zu lehren. Besonders viel Respekt gegenüber Frauen verspürte ich vonseiten der gesamten Gemeinde, auch den Frauen selbst, aber nicht.

Ein kleines Schlusswort

Es gab neben all dem Leid natürlich auch schöne Erlebnisse, gute Erfahrungen, an die ich mich gern erinnere. Ich habe enorm viel gelernt, auch über mich selbst (auch wenn die grösste Lernkurve eher mit dem Austritt begann). Aber die Freiheit, die ich jetzt habe, mich von keinem Buch und keiner Lehre einschränken zu lassen und zu glauben, was ich glauben möchte, ohne jeglichen Zwang, das ist dann doch etwas, das ich nie wieder aufgeben möchte. Ich hoffe, dass ich für den Rest meines Lebens so frei bleiben kann, und achte sorgfältig darauf, mich nicht mehr von irgendwelchen Absolutismen einfangen zu lassen.

Angela Heldstab, 11.08.2023

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