Wer braucht schon einen Theologen? Besuch bei Tablighi Jamaat im Iman Verein Wädi

Ein heisser Gebetsraum unter dem Dach

Die Moschee und das Gebäude des Iman Vereins Wädi lag an einer Seitenstrasse nicht weit vom Bahnhof entfernt. Im unteren Stockwerk befand sich auch der Friedensrichter der Stadt Wädenswil und in den oberen Stockwerken befand sich die Moschee, je ein Stock für Männer und einen für Frauen. Vor dem Gebäude standen bereits einige junge Männer, plauderten miteinander und beachteten mich nicht weiter, als ich an ihnen vorbei ging. Eine sehr schmale und alte Holztreppe führte mich in den zweiten Stock, wo ich meine Schuhe in ein Regal auf dem Gang ablegte. Das Dachgeschoss war verwinkelt und neben einem Gebetsraum befand sich dort auch eine kleine Küche und ein kleiner Schulungsraum mit Whiteboard. Nur wenige Frauen waren bereits anwesend, so setzte ich mich auf den Boden und lehnte mich gegen die Wand. Nach und nach trafen immer mehr Frauen ein, und als der Vortrag begann, waren es am Ende 21 Frauen und ein Kind.

Es gibt immer einen dem es schlechter geht

Aus dem an einer Ecke angebrachten Lautsprecher erklang die Stimme eines Mannes vom unteren Stockwerk. Mit einem starken Akzent begann er ohne grosse Umschweife mit seinem Vortrag. Er sprach in einem Jugendslang gemischt mit arabischen Ausdrücken. Sehr ausschweifend sagte er uns, wir sollen dankbar sein gegenüber Gott. Wenn wir eine Person im Rollstuhl sehen, sollen wir Gott für unsere Beine danken, wenn wir einen Blinden sehen, sollen wir Gott für unsere Augen danken und so weiter. Jederzeit sollen wir dankbar sein für das was Gott uns gegeben hat, denn es gäbe immer Menschen die es viel schlechter hätten als wir.

Der Glaube wiegt alle Sünden auf

Das Wichtigste sei der Glaube an Gott und viele Gebete. Wenn ein Mann, der so viele Sünden begangen hat, dass sie auf 99 Schriftrollen niedergeschrieben wurden, diese Taten auf die Waagschale legen muss und auf der anderen Seite nur ein kleiner Zettel liegt, auf dem das Glaubensbekenntnis steht, dann wiegt dieses schwerer all alle seine Sünden. Denn Gott sei allmächtig und hätte alles erschaffen. Wir müssten Gott danken für seine Barmherzigkeit. Der Prediger redete unablässig, ohne jedoch auf bestimmte Koranverse zu verweisen oder zu zitieren. Er sprach einfach darauf los, ohne theologische Auseinandersetzungen und Vorüberlegungen, so schien es mir zumindest. Das ganze machte auf mich einen eher unprofessionellen Eindruck.

Islamische Mode

Interessant waren für mich auch die Frauen, die an die Wände gelehnt um mich herumsassen. Die allermeisten davon waren zwischen 20-30 Jahre alt und sehr konservativ gekleidet. Fast alle waren in lange Abayas und wallende Kleider gehüllt und die meisten trugen Kopftücher, die wie ein Zelt über ihre Schultern fiel und somit auch Brust und Rücken bedeckten. Ein paar sagten mir, sie seien Konvertitinnen, und auch sie waren konservativ gekleidet. Umso bizarrer war es für mich, als ich bemerkte, wie einige immer wieder auf ihrem Smartphone herumtippten, während der junge Mann in seinem Slang unablässig weiterredete. Er sprach davon, wie wichtig es sei, viele Bittgebete zu machen, am besten über den ganzen Tag hinweg. Viel Dua machen und Gott danken sei so wichtig, und Zakat zu zahlen, die Armenspende, wie er freundlicherweise für alle erläuterte.

Lernstunde für Frauen und Bittgebet

Irgendwann erstarb die Stimme des Mannes und die Frauen im Raum fingen an miteinander zu plaudern. Nach etwa fünf Minuten wurden sie von einer Durchsage unterbrochen, dass am Sonntag eine Lernstunde nur für Frauen stattfinden würde, wo sie Hadithe studieren würden. Wir sollten doch bitte alle «Schwestern» dazu einladen. Nach einer weiteren kurzen Pause begann der Mann ohne Vorwarnung Dua zu sprechen und die Frauen wurden abrupt still und hoben ihre Hände. Der Mann sprach ohne Punkt und Komma, leierte sein Bittgebet zuerst auf Arabisch, dann im schweizerdeutschen Slang herunter.

Als ich den Raum verlassen musste

Als das Bittgebet beendet war, erklang ein Gebetsruf aus dem Lautsprecher und die Frauen standen auf. Alle sammelten sich im hinteren Teil des Raumes fürs Gebet, warum war mir nicht ganz klar, denn so standen die Frauen dicht gedrängt an der Wand, obwohl sie eigentlich auch in der Mitte hätten stehen können. Eine junge Frau erklärte mir, dass die Frauen, die nicht beten, nun in einen anderen Raum gehen sollen, worauf ich ihr folgte. So setzte ich mich mit drei anderen Frauen in den kleinen Schulungsraum auf den Boden und wartete, bis die anderen fertiggebetet hatten. Das war neu für mich, denn in den anderen Moscheen, in denen ich bisher gewesen war, sammelten sich die betenden Frauen im vorderen Teil des Raumes, während diejenigen, die nicht beteten, einfach sitzenblieben, wo sie waren.    

Snacks and Drinks

Also sass ich nun da und sah mich im kleinen Schulungszimmer etwas um. Der Teppich hier war etwas weicher und auf dem Whiteboard an der Wand standen arabische Buchstaben. Hier wurde wohl auch Arabisch unterrichtet. In einem kleinen Regal standen diverse islamische Kinderbücher zu kaufen. Wenn die Betenden sich alle gleichzeitig auf die Knie fallen liessen, vibrierte jedes Mal der Boden des alten Gebäudes. Als das Gebet zu Ende war, kamen die Frauen nach und nach in den kleinen Schulungsraum und legten auf ein Plastiktuch auf dem Boden Chips und Kekse, sowie Wasser und Eistee. Die Frauen unterhielten sich munter miteinander und ich wurde immer wieder gefragt, woher ich denn komme, wie ich hierhergekommen sei und was ich so mache. So wurde ich direkt darauf angesprochen, wer mich denn mitgebracht hätte. Wahrscheinlich ist es üblich, dass die Mitglieder immer wieder andere Bekannte mitbringen.

Investigativer Journalismus

Da alle Frauen nun ungezwungen miteinander redeten, hatte ich die Gelegenheit, auch selbst einige Fragen zu stellen, um mehr über den Iman Verein Wädi zu erfahren. So fragte ich, wie sie denn zu dieser Moschee gekommen seien, worauf mir gesagt wurde, dass dies einmal eine Moschee des türkischen Kulturvereins gewesen sei und diese dann in eine neue Moschee in Au gezogen seien. Als ich nach ihrer eigenen Geschichte und Entstehung fragte, wichen mir alle Frauen immer wieder aus. Keine wollte mir irgendeine Antwort darauf geben. Auch als ich nachhakte, ob sie zu einer Bewegung gehören würden, hörte ich nur ausweichende Bemerkungen. So wurde immer wieder betont, sie seien ein unabhängiger Verein, hauptsächlich von Schweizern, und eine der einzigen Moscheen, die auf Schweizerdeutsch predigen würden. Sie sagten mir auch, das Durchschnittsalter betrage etwa 24 Jahre. Als ich fragte, ob sie einen Imam hätten, verneinten sie. Einen studierten Theologen würden sie nicht brauchen, und wenn schon, dann würden sie zum Imam Rachid nach Dübendorf gehen. Viel mehr konnte ich von den Anwesenden nicht erfahren.
Nachdem ich mehrmals gefragt wurde, ob ich denn wiederkommen wolle, verabschiedete ich mich und machte mich auf den Weg nach Hause.

Mein Fazit

Noch auf der Heimfahrt im Zug machte ich mir so meine Gedanken über das gerade Erlebte. Der ganze Vortrag machte auf mich einen eher unprofessionellen Eindruck, was sich ja auch durch die Aussage bestätigte, dass sie keine studierten Theologen im Verein hätten. Sie fanden das anscheinend unnötig und setzen lieber auf Laien-Prediger. Der ganze Vortrag erschien mir wild zusammengewürfelt und ich vermisste klare Referenzen zu Koranstellen oder Hadithen, wie auch theologische Interpretationen. Dass es in der Gemeinschaft eigentlich nur junge Leute und keine Senioren gibt, kam mir auch seltsam vor. Normalerweise sind Moscheegemeinden, wie auch Kirchgemeinden, ein Ort wo viele ältere Leute anzutreffen sind. Auch was mir über die Moschee und den türkischen Kulturverein erzählt wurde, der «weggegangen» sei, kam mir verdächtig vor. Warum hätten sie einfach so gehen sollen?                     
Meine innere Alarmglocke meldete sich auch, als ich mehrere Personen immer wieder nach ihrer Entstehungsgeschichte und ihrer Bewegung gefragt hatte. Diese ausweichenden Antworten liessen in mir den Verdacht aufkommen, dass sie Order erhalten hatten, dazu nichts preis zu geben. Wenn da nichts dahinterstecken würde, hätten sie keinen Grund, so etwas zu verschweigen.    
Die Laien-Prediger, der Fokus auf das religiöse Handeln, die Jugendsprache, das Verschweigen der Geschichte, die ausweichenden Antworten zu ihrer Bewegung, all diese Eindrücke passen hervorragend zur Tablighi Jamaat.

Jasmin Schneider, 18. August 2023

Lexikoneintrag Tablighi Jamaat