Der goldene Schrein von Bassersdorf – Besuch im Gurudwara Sahib Zurich

Eine Farbexplosion in der Fabrikhalle

Es war ein zauberhafter Sonntagmorgen, die Sonne schien und der Weg vom Bahnhof Bassersdorf bis zum Gurudwara führte uns an einem kleinen Bach entlang. Ich war schon sehr gespannt, was ich wohl an diesem Tag erleben würde, denn in einem Gurudwara, also einem Sikh Tempel, war ich noch nie zuvor gewesen. Nach einem kurzen Spaziergang standen wir vor einem Fabrikgebäude, zum Glück kamen gerade einige andere Menschen an und so fanden wir schnell den Eingang. Dort wurden wir sehr herzlich begrüsst und uns wurde erklärt, wo wir hingehen sollten. So zogen wir unsere Schuhe aus und betraten den Gurudwara. Mein Begleiter musste sich beim Eintreten ein oranges Tuch um den Kopf binden und ich bedeckte meine Haare mit einem Schal. Wir befanden uns in einer Art Aufenthaltsraum, die Wände waren auf der unteren Hälfte blau gestrichen und oben hingen um den ganzen Raum herum Bilder, welche die Geschichte der Sikhs zeigten. Viele Krieger und Kämpfe waren darauf zu sehen, aber auch der Gründer des Sikhismus Guru Nanak. An der Decke hingen bunte Tücher, der ganze Raum war eine reine Farbexplosion. Ausserdem gab es eine offene grosse Küche mit einer Theke, wo zwei Männer bereits arbeiteten.

Der goldene Schrein

Über eine Treppe neben der Küche gelangten wir in den eigentlichen Gebetsraum. Auch hier waren die Wände bis zur Hälfte in einem hellen Blauton gestrichen, auf dem Boden lag orangener Teppich und an einem Ende des Raumes stand ein riesiger goldener Schrein. Darin befand sich das Guru Granth Sahib, das heilige Buch, zugedeckt mit einer reich verzierten grossen Decke. Vor dem Schrein war ein kleiner silberner Zaun, mit blinkenden Lichtern umwickelt und mit einer eisernen Truhe davor, die einen Schlitz zum Einwerfen von Spenden hatte. Auf dieser standen einige Symbole der Sikhs, rechts und links flankiert von Vasen mit Kunstblumen.

Halwa und Gebete

Als wir uns hinsetzten kam ein älterer Mann zu uns und gab uns etwas Halwa, eine Süssspeise aus Ölsamen und Zucker. Es schmeckte sehr gut und als wir fertig waren, begannen schon bald die ersten Gebete. Ein älterer Mann begann Gebetstexte vorzutragen, die jeweils von einem Mann und einer Frau vor einem Mikrofon, sowie den anderen Anwesenden beantwortet wurden. Die Gebete klangen etwas monoton, vorgetragen in einem alten Punjabi. Inhaltlich ging es um viele verschiedene Themen, Guru Nanak solle uns beschützen, immer bei uns bleiben und uns von unseren Feinden fernhalten. Niemand könne sich uns in den Weg stellen, Gott solle die ganze Welt glücklich machen, uns von Sünden fernhalten und uns zu Gläubigen machen.

Ungewohnte Köstlichkeiten

Ein freundlicher Mann erklärte uns, dass diese Gebete von 10:30 bis um 12 Uhr gehen würden und danach erst das eigentliche Ritual stattfindet. Wir könnten jederzeit gerne nach unten gehen, um zu frühstücken. Das taten wir sehr gerne und als wir wieder in den Aufenthaltsraum kamen, bemerkte ich erst den Bildschirm an der Wand, der den Gebetsraum mit dem Schrein zeigte. Per Lautsprecher wurden die Gebete übertragen und so setzten wir uns auf den Boden mit dem Rücken zur Wand. Ein junger Mann brachte uns schon bald zwei Teller mit Frühstück und traditionellen indischen Tee. Zu essen gab es Pakora einmal mit Kartoffeln und Gewürzen, einmal mit Brot und Ei. Zusammen mit einem scharfen Kürbis Chutney schmeckte das Frühstück für Schweizer Gaumen ungewohnt aber sehr lecker.

Zauberhafte bunte Kleider

Während wir im Aufenthaltsraum sassen, kamen immer mehr Menschen in den Gurudwara. Viele der Männer trugen Turbane und fast alle Frauen traditionelle Punjabi Kleider. Diese Hemdkleider mit Schlitzen an den Seiten, kombiniert mit weiten Hosen und einem passenden Dupatta, einem grossen Schal, der über den Kopf gelegt wird, wurden in den buntesten Farben und Mustern getragen. Die Neuankömmlinge gingen nach dem Eintreten direkt nach oben, verneigten sich vor dem Schrein, legten die Stirn auf den Boden und warfen einige Münzen in die Box. Danach richteten sie sich wieder auf und verneigten sich kurz auf jeder Seite des Schreines, bevor sie nach unten kamen um zu frühstücken. Es waren viele ältere Leute da und Familien mit Kindern.

Die Probleme der Sikhgemeinde

Neben uns setzten sich immer mehr ältere Männer hin und begannen, miteinander über die Sikhgemeinde in Bassersdorf zu sprechen und über die Probleme aller Sikhs. Das Leben in der Diaspora sei nicht einfach, da die Sikhs einander nicht richtig unterstützen würden. Den Sikhs würde es an einer internationalen Gemeinschaft fehlen. Ausserdem hätten sie Probleme, ihre nun erwachsenen Kinder in der Gemeinde zu halten. Vielen jungen Leuten würde Gurudwara und Religion nicht mehr so viel bedeuten und sie würden sich nicht mehr engagieren. Die Männer meinten, sie würden langsam alt werden und bräuchten mehr junge Menschen, um ihnen alles einmal zu übergeben. Ein Problem, dass ich schon aus vielen Kirchen und Moscheen kannte.

Von Gott vorherbestimmt

Als sich der Aufenthaltsraum langsam leerte, standen wir auch auf und gingen nach oben in den Gebetsraum. Dort setzten wir uns an eine Wand und hörten den monotonen Gebeten des älteren Mannes zu, während sich der Raum immer mehr füllte. Inhaltlich ging es in den Gebeten wieder um dieselben Themen wie zuvor, alles würde Gott gehören, niemand könne uns schaden. Gott habe alles in unserem Leben vorherbestimmt und wir hätten nur ein einziges Leben, deshalb sollten wir es nutzen. Die ganze Zeit über wechselten sich eine Frau und ein Mann ab beim Winken des Chauri, eine Art Wedel aus Federn, über dem Schrein. Dabei trugen sie eine Art weisse Stola mit blauen Verzierungen auf der Borte. Während der alte Mann die Gebete vortrug, standen zwei Personen auf und legten ihm Geld auf das kleine Rednerpult.

Gesang und Trommeln

Als die Gebete verstummt waren kam eine kleine Frau auf das kleine Podest und setzte sich vor das Rednerpult. Hinter ihr sassen zwei Kinder und neben ihr ein junger Mann mit zwei Trommeln. Sie begann ein Lied auf Punjabi zu singen und der Mann begleitete sie mit Trommelschlägen. Einige Zuhörer nahmen ihre Handys hervor und filmten, andere hatten einen Video-Anruf offen. Nachdem die Frau geendet hatte, gingen alle zurück auf ihre Plätze und die Zuhörer dankten der Frau. Sie stamme aus Thailand und könne kein Punjabi, trotzdem habe sie wunderschön gesungen. Für meine Ohren klang es etwas schief, aber so unterschiedlich sind wohl Geschmäcker.

Guru Granth Sahib

Nun begann der alte Mann hinter dem Schrein, seine Gebete zu singen, und winkte selbst mit dem Chauri. Dann stand er singend vor dem Schrein und verneigte sich tief, und alle im Raum sangen mit ihm. Der alte Mann ging wieder in den Schrein und Helfer hoben vorsichtig die Decke beiseite und enthüllten das heilige Buch, den Guru Granth Sahib. Der Mann trug in einer Art Sprechgesang den Text vor und wurde von einem Handy unterbrochen, das plötzlich anfing zu klingeln. Davon liess er sich jedoch nicht beirren und fuhr einfach fort.  Nach einem letzten Gesang wurde das Buch wieder geschlossen und zugedeckt. Zwei Männer brachten dann einige nun gesegnete Lebensmittel, die neben dem Schrein gestanden hatten, nach unten in die Küche. Dort würden sie mit den anderen Zutaten vermengt werden und so alle Speisen für das spätere Langar (Gemeinschaftmahl) gesegnet. Die Menschen erhoben sich und sangen, verneigten sich mehrfach und legten ihre Stirn auf den Boden. Es folgten weitere Gebete und Verneigungen, bevor sich alle wieder setzten.

Die Whatsappgruppe der Sikh Chamber of Commerce

Ein Mann trat hinter ein Rednerpult und machte einige Ankündigungen, wer nächstes Mal fürs Langar zuständig war, dass es kommende Woche ein Mitgliedertreffen geben würde und dankte noch einmal der thailändischen Frau für ihren Gesang. Zum Schluss dankte er allen fürs Kommen und machte Platz für den nächsten Redner.
Es war einer der älteren Männer, die wir beim Frühstück miteinander reden gehört hatten. Er sprach von den Problemen der Sikhs, dass sie nicht gut vernetzt waren und davon, dass sie hier seien, um etwas daran zu ändern. Sie seien von der Sikh Chamber of Commerce und kämen direkt aus Delhi. Ziel sie es, die Sikhs auf der ganzen Welt und vor allem auch hier in Europa miteinander zu vernetzen und sich gegenseitig finanzielle, medizinische und weitere Unterstützung zu geben. Guru Nanak hätte uns gelehrt, wie wir mit Finanzen umzugehen hätten, ausserdem sei die Demokratie in Indien auf engagierte Sikh zurückzuführen. Alle Sikhs auf der Welt wären früher einmal respektiert worden und dahin müssten wir zurückfinden. Also würden sie eine Whatsappgruppe mit allen Sikhs in der Schweiz erstellen, damit gegebenenfalls einander geholfen werden kann. Die Schweiz sei eine starke Nation, denn sie habe ein gutes Bildungssystem, ein gutes Gesundheitssystem und eine kleine Arbeitslosenquote.

Orange Schals und Halwa für alle

Den Männern aus Delhi wurden orange Schals umgehängt, und sie übergaben ein Ehrengeschenk an die Gemeinde in Bassersdorf. Auch die thailändische Sängerin bekam einen Schal und es wurden einige Fotos gemacht. Als die Männer sich wieder gesetzt hatten, rannten alle Kinder nach vorne und setzten sich auf das kleine Podest neben dem Schrein, um zu singen. Es wurde an alle Halwa und Servietten verteilt, während die Kinder etwas zögerlich sangen. Danach trat ein weiterer Mann ans Rednerpult. Er sei aus Amsterdam hierhergekommen um von den Männern aus Delhi zu lernen und ihre Idee mit in die Niederlande zu nehmen. Die Männer der Sikh Chamber of Commerce würden in viele Städte überall in Europa reisen in den nächsten zwei Wochen, um die Sikhs besser zu vereinen. Als er vom Rednerpult trat, war das Ritual zu Ende und die Menschen gingen nach unten.

Das Langar

Als wir den Aufenthaltsraum betraten, waren die meisten schon beim Essen. Wir holten tablettartige Teller aus Blech und Wasserbecher und setzten uns auf den Boden. Schnell kamen Erwachsene und Kinder mit verschiedenen Speisen vorbei und gaben uns von allem. Ich begnügte mich mit gemischtem Gemüse, das sehr scharf war, Salat mit Äpfeln, Reis und Roti, einem Fladenbrot. Es gab aber auch Daal, einen Linseneintopf, Jogurt und Kheer, eine Süssspeise aus Reis und Nüssen. Das Essen war sehr scharf aber hervorragend. Die ganze Zeit liefen Kinder zwischen den Essenden hindurch und boten Nachschub an. Keiner ging hier hungrig nach Hause oder fragte nach Geld. Es gab an der Wand einen QR-Code für Spenden, aber es wurde weder darauf hingewiesen noch irgendwie verlangt. Es schien mehr um die Gemeinschaft zu gehen, ob jemand Sikh war oder nicht, spielte dabei keine Rolle.
Ich verliess das Gurduwara mit vielen neuen Eindrücken und so satt wie noch nie nach einem Gottesdienstbesuch.

Jasmin Schneider, Oktober 2023

Lexikoneintrag Gurudwara Sahib Zurich, Bassersdorf

Lexikoneintrag Traditioneller Sikhismus