Sufismus

Der Begriff Sufismus wird traditionell vom arabischen «suf» (Wolle) abgeleitet, «suf» wurde das weisse Wollkleid genannt, das die ersten Mystiker als Zeichen der Demut trugen. Eine andere Möglichkeit ist auch die Herleitung von arab. «safu» (Reinheit), da die Sufis die spirituelle Reinheit erstreben. Denkbar wäre aber auch eine Herkunft vom griechischen Wort «sophia» für Weisheit.

Schon in der frühen Zeit, als sich der Islam vor allem durch seine militärischen Erfolge rapide ausbreitete, litten einzelne Gläubige an der mit der Ausbreitung verbundenen Veräusserlichung des Glaubens. Zum Teil zweifellos auch angeregt von der Askese und Mystik christlicher Mönche und später von den Trance-Techniken der indischen Yogis, suchten sie auf mystischem Weg die Nähe Gottes und sogar – für die übrigen Moslems unvorstellbar – die Vereinigung mit ihm.

Mit der Zeit entstanden Orden, die verschiedene Meditationstechniken entwickelten.

Allen Richtungen des Sufismus ist gemeinsam, dass sie davon ausgehen, dass sich der Mensch auf einer Reise befindet, deren Ziel die Vereinigung mit dem Geliebten (Gott) ist. Diese Vereinigung wird als ein Zustand der Reinheit, der Ganzheit oder der Vollkommenheit beschrieben. Um das zu erreichen, muss das Ego, der eigenmächtige Trieb (nafs), bekämpft und überwunden werden. Das zentrale Organ hierfür ist das Herz, welches in Liebe zu Gott entbrennen soll. Das Herz erkennt, dass nur Gott existiert und alle Dinge in ihm bestehen (göttliche Einheit: tawhid). Die Vielfalt der Erscheinungen ist eine Illusion. Es gibt viele verschiedene geistige Pfade (tariqa) zu Gott, doch lassen sie sich grob in zwei Gruppen teilen:

1. Die einen gehen eher einen emotionalen Weg, um die Vereinigung mit Gott zu erlangen. Diese Orden pflegen Sama‘ (Anhören oder Singen von Sufi-Liedern und das Tanzen in rhythmischen Bewegungen) sowie Zikr (oder Dhikr geschrieben), wo Namen Gottes und heilige Formeln während längerer Zeit wiederholt werden. Jeder Orden hat eigene Techniken, die sich von Orden zu Orden mehr oder weniger stark unterscheiden. Während die einen bei ihren Zusammenkünften still im Kreis sitzen und jeder für sich die Gebete oder Formeln nur innerlich spricht, pflegen andere diese laut und oft von Körperbewegungen begleitet zu wiederholen. Manchmal kommen Atemübungen dazu, manchmal «tanzen» Sufis, wie z.B. die «Wirbelnden Derwische» von Konya.

2. Andere Orden, die eher intellektuell ausgerichtet sind, vermitteln eine Instruktion, eine Wegleitung zur Erreichung des höchsten Bewusstseins (tawhid), die stärker die Erkenntnisfähigkeit des Menschen anspricht.

Allen Richtungen gemeinsam sind manche Merkmale der Vermittlung. Der Schüler (murid=«Strebender») steht in einer engen Verbindung mit dem Meister (murschid=«Führer»), das heisst mit dem Oberhaupt des Ordens (Scheikh). Der Meister gibt portionenweise das notwendige Wissen dem Schüler weiter und begleitet ihn als «Beichtvater» auf seinem ganzen Weg. Das genaue Methoden-Wissen ist in der Regel esoterisch und wird von den Ordensmitgliedern nicht öffentlich preisgegeben. Der Schüler leistet grundsätzlich dem Scheikh, den er als Repräsentant Mohammeds verehrt, unbedingten Gehorsam. Trotzdem kann in der Praxis das Verhältnis zum Scheikh recht locker sein. Wichtig und symbolreich ist der Einweihungsritus. Die Bedeutung der Ordensmeister zeigt sich nicht zuletzt in der Sukzessionsreihe, in der sie stehen. Der gegenwärtige Scheikh bildet das letzte Glied einer spirituellen Kette (silsila), die bis zum Gründer zurückreicht. Es gibt Orden, die ihre Traditionskette bis zu Ali (Schwiegersohn des Propheten), Abu Bakr oder Mohammed selbst zurückführen, welche das Wissen um die Vereinigung mit Gott am reinsten kannten.

Der Sufismus gründet in der islamischen Offenbarung. Die Sufis halten das Gesetz, sie halten sich an die fünf Säulen des Islams (Glaubensbekenntnis, Gebet, Fasten im Fastenmonat, Almosensteuer und Wallfahrt nach Mekka) und verehren Mohammed als den letzten Propheten. Trotzdem sehen andere Muslime bei den Sufis eine, historisch kaum bestreitbare, Tendenz, ausserislamische Elemente auf- zunehmen. Deshalb werden sie oft argwöhnisch beobachtet.

Manche Sufi-Orden erreichten einen grossen Einfluss auf die Gesellschaft und die Politik. Dies war einer der Gründe, warum die Tariqat in der Türkei verboten wurden. Deshalb treten türkische Sufis kaum öffentlich in Erscheinung.

Die meisten Sufi-Gruppen wirken im Verborgenen. Sie missionieren kaum und laden höchstens Aussenstehende gelegentlich zu einem Vortrag ihres Scheikhs ein.

Vom Sufismus deutlich zu unterscheiden sind die Neo-Sufis. Vertreter von neosufischen Organisationen behaupten, es bestehe nur eine zufällige historische Verbindung von Sufismus und Islam, man könne Sufi sein ohne Muslim zu sein. Mit dieser Sicht neigen sie dazu, den Sufismus auf seine vorislamischen und ausserislamischen Wurzeln zu reduzieren. Ihrer Meinung nach ist der Sufismus eine uralte Weisheit, die den Menschen bereits vor der Zeit der heutigen Religionen bekannt war. In kritischer Sicht betreten die Neo-Sufis mit ihrer Vision des Sufismus im Zeitalter der Globalisierung spirituell vielleicht einleuchtende, aber historisch völlig spekulative Pfade.

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