Besuch im Somaskanda Ashram auf den Fideriser Heubergen

Louisa Bernet, Juni 2020

Neben einer Wandergruppe sass ich im „Heuberge Bus“, der mich über eine holprige Strasse zum neohinduistischen Somaskanda-Tempel fuhr. Dieser liegt auf 1800 m.ü.M. in den Prättigauer Bergen in Graubünden. Die Strasse dahin ist ab Fideris für den Privatverkehr geschlossen und kann lediglich mit einer Bewilligung befahren werden. Die Alternative, für welche ich mich entschieden hatte, ist der Bus, dieser muss allerdings telefonisch bestellt werden. Der Bus hielt vor einer Abzweigung, wo eine kleine Holztafel mit der Beschriftung „Somaskanda Ashram 15 Minuten“ stand. Gemeinsam mit zwei anderen Frauen stieg ich aus und roch sofort die frische Bergluft. Der Fussweg Richtung Ashram, auf welchem mich die beiden Frauen begleiteten, führte an farbigen Blumen und schattenspendenden Bäumen vorbei und erlaubte einen wunderbaren Blick auf die schneeigen Berge. Die Frauen, beide westlicher Herkunft, befanden sich etwa im Alter von 25 beziehungsweise 50 Jahren und waren, trotz des langen Anreisewegs, regelmässige Besucherinnen des Ashrams. Die ältere Frau war seit etwa 20 Jahren Anhängerin des Somaskanda-Tempels, die Jüngere bereits seit ihrer Geburt.

Nach der letzten engen Kurve lag der Somaskanda Ashram vor uns, wobei ich einen Moment brauchte um dies zu realisieren. Der Ashram sah wie eine normale Berghütte aus. Als wir näher kamen, entdeckte ich das hellblaue Schild, das Richtung Tempel zeigte und somit einen Hinweis auf die etwas unkonventionelle Nutzung der Berghütte gab. Wir gingen aber nicht in Richtung des Tempels, sondern traten in den unteren Bereich des Hauses ein, wo bereits Finken bereitgestellt worden waren. Auch das Innere des Hauses, mit der langen Holzbank und dem grünen Kachelofen, sah auf den ersten Blick wie eine typische Berghütte aus. Allmählich fielen jedoch das Portrait von Guru Sri Subramanium, der Gründer der Gemeinschaft, sowie seine Bücher ins Blickfeld. Auf dem Holztisch lag eine typische hinduistische Gebetskette aus Nussfrüchten, die Mala, von welcher die anderen beiden Besucherinnen ebenfalls ein Exemplar aus dem Rucksack nahmen und um den Hals legten.

Noch waren wir zu dritt. Ich half die mitgebrachten Rosen für die bevorstehende Puja vorzubereiten. Zwei Frauen, ebenfalls im mittleren Alter und westlicher Herkunft, traten von der Küche herein. Sie hatten mich bereits erwartet, da sich Besuchende momentan wegen Covid-19 für einen Besuch anmelden müssen. Sie begrüssten mich sehr herzlich und boten mir Tee an. Die vier Frauen reagierten auf meine Fragen zum Somaskanda Ashram ziemlich selbstkritisch. Für sie war klar, dass sie bei einem hinduistischen Ritual in Indien weder etwas verstehen, noch wirklich nachkommen würden. Bei ihnen hätte eine Art „Verwestlichung“ des Hinduismus stattgefunden, sodass er auch für das lokale Publikum zugänglich wäre. Es würden auch Praktiken anderer religiösen Traditionen im Ashram Platz finden, wie beispielsweise der christliche Gottesdienst der sich jeweils am Sonntagabend ereignet. Diese Selbsteinschätzung bestätigte mein Bild des Somaskanda Ashrams, welcher dem Neohinduismus zugeordnet werden kann, jedoch auch einen interreligiösen Charakter hat. Gleichzeitig wurde ich auf die Puja vorbereitet, die an diesem Tag extra lang werden würde, da der Neumond, sowie der Auftakt des Shiva-Festivals auf denselben Zeitpunkt fielen. Shiva erfreut sich im Somaskda Ashram besonderer Beliebtheit, unter anderem weil er der Vater des Gottes ist, der dem Ashram seinen Namen gegeben hat: Skanda, der Gott der göttlichen Armeen.

Die erste Hälfte der Puja, wie Verehrungsrituale des Gottes im Tempel im Hinduismus genannt werden, fand draussen statt. Von den 25 Grad in meiner Heimat Zürich spürte ich hier nichts – mit Faserpelzen und Decken sassen wir zu sechst in einem Halbkreis. Da die Anzahl der Besuchenden aufgrund der speziellen Situation auf vier Personen, Tempelteam ausgenommen, beschränkt ist, war das Publikum von geringerer Grösse als üblich. In der Mitte sassen ein Mönch, ganz in weiss gekleidet, und eine Nonne, die ein braunes Gewand trug. Es erinnerte mich stark an jene Gewänder des Franziskanerordens, was wahrscheinlich Absicht war, da die Mönche und Nonnen bei der Weihe das franziskanische Gelübde ablegen. Sie waren beide aus dem Muttertempel, dem Skande Vale Tempel in Wales, angereist und sprachen daher Englisch. Der Mönch, der von der frischen Bergluft ganz rote Backen hatte, erklärte zu Beginn, dass die bevorstehende Puja nicht als Ritual zu verstehen sei, sondern als Akt der Veränderung. Somit sollte man sich nicht entspannen, man solle sich konzentrieren um die Gegenwart beeinflussen zu können.

Während der Mönch und die Nonne die letzten Vorbereitungen trafen, hatte ich Zeit, meine Umgebung zu mustern. Der Kontrast der umliegenden Schweizer Berge, die über uns ragten, zum Schrein, der vor unserem Halbkreis stand, war enorm. Die Hauptattraktion bildete eine grosse Murti aus Stein. Eine Murti ist eine geweihte Statue einer Gottheit, in diesem Fall war es der elefantenköpfige Gott Ganesha. Durch die Grösse der Murti mussten wir zu Ganesha hinaufsehen, was seine Überlegenheit zu demonstrieren schien. Er trug eine Gebetskette und vor ihm stand ein Tisch, der mit verschiedenen Opfergaben an den Gott, wie Früchte oder dekorierte Kokosnüsse, bedeckt war. Krüge mit diversen Flüssigkeiten lagen auf einem weiteren Tisch. Der Mittelpunkt des Kreises bildete eine Feuerstelle, deren Rand mit gelber und roter Asche bemalt worden war. Das Holz für das Feuer lag in Form eines Jenga-Spiels bereit.

Im ersten Teil der Puja wurden die verschiedenen Opfergaben für Ganesha vom Mönch gereinigt und geräuchert. Dabei folgte der Mönch den genauen Anweisungen der Nonne, welche von einem Blatt Papier abgelesen wurden. Der Duft der Räucherstäbchen verteilte sich langsam im Kreis und erinnerte mich an vergangene Reisen nach Asien. Das ganze Ritual hindurch legten die Teilnehmenden viel Wert auf die Einhaltung der richtigen Abfolge, obgleich die Atmosphäre durch das ständige Einreden der Nonne ein wenig verloren ging. Auch die Konzentration, für welche der Mönch im Vorhinein plädiert hatte, war stets vorhanden. Neben der richtigen Abfolge, zeigte sich das Aufsagen der Mantras auf Sanskrit zentral. Mantras sind Formeln zur Anrufung und Vergegenwärtigung göttlicher Mächte. So konnte ich, trotz fehlender Sanskrit-Kenntnisse, immer wieder den Namen eines Gottes wie Vishnu, Lakshmi oder Shiva erkennen. Auch die Silbe Om, die zu Beginn jedes Mantras aufgesagt wurde, war mir bekannt.

Neben der Durchführung der rituellen Handlungen, wurden die Mantras von der Nonne und dem Mönch aufgesagt. Währenddessen sangen die anderen drei Besucherinnen pausenlos auf Sanskrit, läuteten Glocken und bliesen in ein Muschelhorn. Obwohl alle drei das Gesangsbuch der Skande Vale vor sich hatten, brauchten sie es kaum. Sie sangen auswendig drei Stunden lang. Die Reihenfolge der Lieder war nicht abgemacht. Wenn eine Person anfing zu singen, setzten die anderen einfach ein. Ich war enorm beeindruckt vom Einsatz der Besucherinnen, zumal drei Stunden singen anstrengend ist und die Kenntnisse der Melodien und Texte fehlerfrei schienen. Die Mantras, zusammen mit dem Gesang, sollten zu einem Zustand der Konzentration führen, sodass die Visualisierung des Gottes ermöglicht werden sollten.

Die Visualisierung und Aufrufung der verschiedenen Gottheiten wurde am offensichtlichsten, als der Mönch das Feuer anzündete. Er verwendete dafür eine brennende Ghee-Lampe, welche an das ebenfalls mit Ghee beschmierte Holz gehalten wurde. Danach warf er regelmässig eine Ladung Olivenöl über das Feuer. Ob das Olivenöl, neben der Nutzung als Brennstoff, eine symbolische Bedeutung hatte, blieb offen. Um die Gottheiten aufzurufen, wurde das entsprechende Mantra aufgesagt. Mit seiner tiefen Stimme sprach der Mönch nach dem Mantra den Segensruf Om Swaahaa und warf daraufhin für jede Gottheit eine Fingerspitze Reis ins Feuer. Auch rund herum wurde der Reis verteilt. Hier folgte der Mönch wieder den Anweisungen der Nonne, den die richtige Abfolge war streng zu berücksichtigen. Während dem Ritual fiel mir immer wieder auf, wie der Mönch und die Nonne auf die Befolgung kleinster Details schauten. Die Aufgabe schien ziemlich stressig und kompliziert zu sein, den sie sagten pausenlos Mantras auf und führten die rituellen Handlungen aus. Trotzdem achteten sie beispielsweise auf ihre Handgesten, sodass sie ab und zu die bekannte Position der Chinmudra (Zeigefinger und Daumen zusammen) einnahmen, die den Energiefluss begünstigen soll.

 

Als das Feuer richtig brannte, wurden wir dazu aufgefordert unsere Sorgen zu bereinigen, indem wir getrocknete Blütenblätter in das Feuer warfen. Ich durfte als Zweites dieses Ritual vollziehen, sodass ich mich an der ersten Person orientieren konnte. So nahm ich jeweils eine Hand voll Blütenblätter, hielt diese vor meinen Kopf , ruf meinen Wunsch ins Gedächtnis und warf die Blütenblätter ins Feuer während der Mönch wieder den Segensruf Om Swaahaa sprach. Diese symbolische Reinigung des eigenen Selbst erzeugte ein Gefühl der Zugehörigkeit, da jede Person einzeln ins Ritual inkludiert wurde. Darauf folgte die rituelle Waschung von Ganesha. Da dieser der Gott ist, der Hindernisse beseitigen kann und über Glück verheissende Momente herrscht, wird er bei Pujas oftmals als erstes aufgerufen. Bei der Waschung wurde Ganesha mit Blumen geschmückt, dann mit verschiedenen Flüssigkeiten und Seife gewaschen. Daraufhin wurde ihm eine Mala um den Hals gelegt und der Mönch machte eine Blumen-, sowie Räucherspende. Auch bei der Waschung wurde viel Wert auf Details gelegt, sodass diese eine Dauer weilte. Währenddessen sangen die Besucherinnen tapfer weiter, obwohl eine davon bereits ihre Stimme verloren hatte.

Der zweite Teil der Puja fand im Tempel statt, der sich im Obergeschoss des Gebäudes befand. Ich folgte den anderen Besucherinnen und erblickte dabei die aus Holz geschnitzten Elefantenköpfe an der Hauswand. Vor dem Tempelraum stand ein langer Tisch mit zahlreichen Opfergaben an die Götter, bestehend aus Blumen und Nahrungsmitteln, wie grüne Bohnen oder Kambly-Guetzli. Eine Besucherin begann an einem Seil zu ziehen, sodass die grossen Glocken über dem Tisch anfingen zu läuten. Ziel dabei war wohl die Abwehr und Verscheuchung von negativen Energien. Das Läuten wurde wieder von Mantras und dem Muschelhorn begleitet, sodass die Warnung wohl in der gesamten Heuberge-Region zu hören war. Der Tempel war zu ehren des Gottes Shiva und dem Auftakt des ihm gewidmeten Festivals dekoriert worden. So standen mehrere Shiva-Statuen herum. Eine seiner Rollen ist die Schöpfung, der Erhalt, wie auch die Zerstörung der Welt. So gilt die Auffassung: wenn Shiva aufhört zu tanzen, geht die Welt unter. Shiva wird daher oftmals in tanzender Form dargestellt, was auch im Tempel der Fall war. Eine kleine tanzende Shiva-Statue war auf den zentralen Blickfang des Tempels gelegt worden: das Lingam.

Das Lingam ist eine anikonische Darstellungsform des Gottes Shiva. Er wird somit nicht visuell dargestellt, sondern als glatter, runder Stein, der auf einer runden Platte, genannt Yoni, steht. Das Lingam hat eine phallusähnliche Form und symbolisiert die männliche Energie, die Yoni hingegen die weibliche Energie, sodass die Verbindung die Schöpfungskraft von Shiva versinnbildlicht. Das Lingam im Somaskanda Ashram war riesig und befand sich in einem Schrein aus glitzernden Steinen. Über ihm ragte eine dreiköpfige Schlange heraus. Wieder mit der Begleitung von Gesang und Mantras, wurde das Lingam vom Mönch verehrt. Dazu gehörte erneut eine Waschung, was auch die Taucherschuhe, die der Mönch trug, erklärte. Der Schrein war aus Stein gebaut, sodass das Wasser durch einen Kanal auf dem Yoni ablaufen konnte. Nach der Waschung offerierte der Mönch Blumen und räucherte das Lingam ein. Um die Gottheit zu kleiden, schloss er die Vorhänge vor dem Schrein. Während er das Ritual beendete, sangen die anderen Besuchenden, unter Einnahme von gelegentlichen Ricola-Bonbons, weiter.

Erst hier im Tempelraum fühlte ich mich nicht mehr wie in einer typischen Schweizer Berghütte. Zahlreiche Statuen von verschiedenen Göttern und farbige Tücher dekorierten den Raum. Ein Bild vom Gründer Guru Sri Subramanium stand neben dem Schrein. Vor ihm befand sich ein Speer, der ihm gewidmet und mit dem Tripundra dekoriert worden war, wie die drei waagrechten Linien genannt werden, die Anhänger von Shiva tragen. Der Holzboden war im vorderen Bereich vom Kerzenwachs und dem Gebrauch verschiedenen Flüssigkeiten während der zahlreichen Pujas gefleckt. Über dem Schrein war eine Goldplatte mit dem Om-Zeichen angebracht.

 

Der Mönch öffnete den Vorhang des Schreins wieder und vollführte den letzten symbolischen Akt der Puja, indem er der kleinen Statue von Shiva den Trishula, den Dreizack, in die Hand setzte. Die drei Zacken symbolisieren die Schöpfung, Bewahrung und Zerstörung der Welt und sollten dem Gott die Kraft darüber wieder geben. Nun war Shiva bereit für die zwei-wöchige Feier seines Festivals. Der Mönch schloss den Vorhang wieder, sodass er seine Ruhe geniessen konnte. Um die Puja abzuschliessen, verabschiedete der Mönch jeden Gott im Tempel, indem er die jeweilige Statue einräucherte und dazu das passende Mantra aufsagte. Auch das Portrait von Guru Sri Subramanium wurde auf entsprechende Weise verabschiedet. Da alle Mantras wieder auf Sanskrit waren, verstand ich nichts, bis Maria, die Mutter von Jesus Christus, verabschiedet wurde. Für diesen Teil wechselte die Gruppe in die englische Sprache und wiederholten das Gebet, das mit „Hail Mary“ begann, einige Male.

 

Die grossen Glocken wurden zum Schluss nochmals geläutet. Die Besuchenden blieben eine Weile nach Ende der Puja sitzen und beteten. Da ich den letzten Bus des Tages um 16 Uhr erwischen musste, ging ich mit einer der Frauen nach unten, wo sie mir ein köstliches indisches Curry auftischte. Auf dem wunderschönen Fussweg zum Bus konnte ich die vergangenen Stunden nochmals durch den Kopf gehen lassen. Ich war sehr positiv überrascht von meinem Besuch im Somaskanda Ashram, da ich im Allgemeinen eher negativ eingestellt bin auf die westliche Übernahme östlicher religiöser Praktiken. Die Anhängerinnen im Somaskanda Tempel waren jedoch selbstkritisch eingestellt und sahen ein, dass sie die hinduistischen Rituale nie vollständig übernehmen könnten. Zudem beeindruckte mich die Detailtreue des Rituals, wie auch die strikte Einhaltung der Abfolge. Das Ritual erforderte einen enormen Aufwand an Zeit und Vorbereitung. Die Gastfreundschaft des Tempels war ebenfalls sehr gross, sodass ich mich stets wohl fühlte. Ich hatte nun ein gewisses Verständnis für die Anziehungskraft eines neohinduistischen Tempels in den abgelegenen Schweizer Bergen.

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