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  Totalitäre Mystik
Sekte und Mystik
Sekte ist - wenn ich noch einen zusätzlichen Definitionsversuch vorschlagen darf - totalitäre Mystik. Mystik ist religiöse Unmittelbarkeit. Totalitär ist wahnhaft kollektiv. Wenn wir das Sektenphänomen besser verstehen, beschäftigen wir uns sinnvollerweise mit dem Phänomen Mystik. Und wenn wir die Gefahren der Mystik genauer ins Auge fassen wollen, tauchen wir mit gutem Grund ins Sektenstudium. 
Mystik
In jeder lebendigen Mystik weiss der Betroffene, wovon er spricht. Er kennt die höchste oder tief ste Wahrheit nicht nur vom Hörensagen. Er taucht ins göttliche Selbst, das er meditativ in sich und in allen Dingen entdeckt. Oder er spricht mit Gott wie mit einem Freund, der vor ihm steht. Oder er erlebt das befreiende Nichts, das aus allen leidvollen Bindungen führende Erlöschen jeder Gier. Und er erlebt all dies wie andere den Sonnenaufgang und den Gesang der Vögel im nahen Wald. Zwischen der Mystikerin oder dem Mystiker und der tiefsten oder höchsten Wahrheit sind alle Mauern eingestürzt und alle Schleier weggezogen. Da ist nur noch sie oder er und das höchste Licht, beide in der personalen Mystik in tiefster Freundschaft miteinander verbunden, beide in der apersonalen Mystik in völliger Identität.
Sich selber sein
Die höchste oder die tiefste Wahrheit ist für Nichtmystiker häufig ein fragwürdiges Etwas oder ein belächeltes Nichts. Wie kann ich einem Erleben trauen oder es auch nur verstehen, das mir fehlt? Und wie soll ein Nichterlebender von dieser höchsten oder tiefsten Wirklichkeit reden, von der er nicht einmal weiss, ob sie ist? Wie erlebnisnah oder erlebnisarm unsere eigene Religiosität auch immer ist, eines sollten wir dem Mystiker zugestehen, wenn wir ihn verstehen wollen. Was er erlebt, ist für ihn seine eigene tiefste Bestimmung. Der Mystiker ist überzeugt, dass er in seinem Erleben zum eigentlichen Sinn seines Daseins findet. Wenn er vor Gott steht, steht er genau dort, wo Gott ihn immer schon sah. Und wenn er in seinen Seelengrund taucht, findet er in sein Selbst, in das eigentliche Woher und Woraufhin seines Denkens, Fühlens, Wollens und Tuns. Ob der Mystiker Gott oder das Nirvana und das alleine und einzige Göttliche erlebt, muss für den Nicht mystiker eine offene Frage bleiben. Aber dass er zu seiner tiefsten Bestimmung findet, dass er sein wahres Selbst findet, ist mindestens als Anspruch ernst zu nehmen. Die echten Mystiker belegen diesen Anspruch mit ihrem Leben. Eine beispiellose engagierte Gelassenheit durchweht ihre Exi stenz. Auf fast unerklärliche Weise steht jeder Mystiker mitten in den Dingen und völlig über ih nen. Er ist völlig frei und völlig präsent. Er kann sich in die banalsten Pflichten binden und sich den schwierigsten Aufgaben verschreiben und ist doch immer völlig ungebunden und gelassen sich selbst. Dieses paradoxe Miteinander von Präsenz und Freiheit als Markenzeichen jeder echten Mystik spiegelt sich im Leben vieler Zenmeister, in der Vita mancher christlicher Mystikerinnen und Mystiker, in den Geschichten der Chassidim und der Sufis und den uns überlieferten Episoden aus dem Leben des Buddha und - last but not least - in den zahllosen Erinnerungen an biblische Gestal ten. Was immer die Mystikerin und der Mystiker erleben, sie stehen in ihrem Erleben und nach ih rem Erleben anders in dieser Welt, souveräner und engagierter zugleich. Und sie scheinen diese neugewonnene Souveränität auch in schwierigsten Situationen nicht mehr zu verlieren. Lob und Kritik begegnen sie wach und unbeirrt. Feindschaft ertragen sie in ungekünstelter Gelassenheit. Sie sind weitgehend furchtfrei. Sie fanden in eine Wirklichkeit, die nicht bedroht und nicht zerstört werden kann. Was immer andere von ihnen denken oder mit ihnen tun, sie bleiben sich selbst. Sie sind und bleiben sich selbst - eine Aussage, die wir als nervöse und ewig sich selber suchende Nichtmystiker von uns nicht machen könnten. Wir suchen uns. Sie haben sich gefunden.
Vom Ich zum Selbst
Wenn wir Ich die Person in uns nennen, die sich ständig mit sich auseinandersetzt, weil sie nie mit sich identisch ist, so ist das Selbst, das die Mystiker fanden, die Identität mit sich selber. Das Ich ist ewig unterwegs. Das Selbst ist angekommen. Das Ich sucht dauernd nach Licht. Das Selbst ist erleuchtet. Ob Menschen überhaupt in dieses Selbst finden können, ist für Nichtmystiker mehr als nur eine offene Frage. Das Selbst ist für Nichtmystiker im besten Fall eine faszinierende Un möglichkeit. Für Mystiker ist das Selbst strahlende Selbstverständlichkeit, kein ferner Himmel, keine vage Erlösungshoffnung, sondern eine heilige Alltäglichkeit. Aber wie findet der Mystiker zu diesem Selbst oder wie findet dieses Selbst zu ihm? Die Wege der Mystik sind so verschieden wie die Menschen, die ihn begehen. Gemeinsam ist fast allen Wegen der Mystik nur das Faktum, dass ein Meister den Wanderer begleitet. Dieser Meister ist - auch dies gehört zu fast allen mystischen Wegen - gleichzeitig Begleiter und Ziel. Er trägt das Ziel des Schülers bereits schon in sich. Er hat in sich selbst gefunden. Gerade weil er das Ziel schon in sich trägt, kann Mystik sektenhaft entarten. In der Meister-Schüler-Beziehung liegen alle Keime zur totalitären Mystik verborgen und warten nur darauf, sich unter entsprechenden Bedingungen zu entfalten. Diese Bedingungen werden sich ein stellen. Ich kenne keine mystische Bewegung, die nicht früher oder später totalitäre Entgleisungen mit sich brachte. Die totalitäre Mystik folgt der genuinen Mystik wie der Schatten dem Licht.
Im Spiel der Projektionen
Der echte Meister mystischer Erfahrung sucht sich keine Schüler. Seine Persönlichkeit zieht Schüler an. Die Schüler erahnen in ihm, was sie selber werden möchten. Oder sie projizieren in ihn ihr Ideal einer voll entfalteten, einer erleuchteten Persönlichkeit. Projektionen verfehlen aber immer in doppelter Weise die Wirklichkeit. Sie verkennen das eigene Selbst und das Selbst des Meisters. Der Meister ist nicht, was die Schüler in ihm erblicken. Und der Schüler könnte in sich ein Selbst entdecken, viel wirklichkeitsnaher und seiner Persönlichkeit viel adäquater als das Leitbild eines Erleuchteten, das der Schüler in seinen Meister wirft. Die Qualität des Meisters entscheidet sich nun mit der Frage, ob der Meister fähig oder auch nur gewillt ist, diese doppelte Wirklichkeitsferne der Schülerprojektion anzugehen.
 
Die scheinbare Auflösung der Schülerprojektion
Die erste Unschärfe wird von manchen mystischen Meistern noch angegangen. Manche - wie Osho alias Bhagwan - spielen dauernd Bildersturm. "Ich bin nicht der, den ihr in mir seht", ist in endlo ser Variation ihre Botschaft an die Jünger. Dieses Spiel verwirrt den Schüler nicht nur. Es stellt den Schüler zuletzt auch immer vors unvorstellbare und unsagbare Meistermysterium. "Kein Bild und keine Vorstellung kann mich erreichen." Die Begegnungsfähigkeit des Schülers wird mit dieser scheinbaren Auflösung der Projektionen nicht gefördert. Im Gegenteil - der Schüler wird durch immer neue Projektionen gejagt, weil ein Meister wie Osho nur Bilder zerbricht, aber nie in konkre ter, echter Begegnung bessere Bilder anbietet.
Gegenseitige Hörigkeit
Als kritische Beobachter mystischer Bewegugen und sektenhafter Entartungen mögen wir diese Spiele belächeln. Immerhin kennt der Meister, der Schülerprojektionen zerstört, mindestens noch eine Gefahr in der Meister-Schüler-Beziehung, die Möglichkeit, dass der Schüler im Meister nur seinem wahnhaft erschauten Ideal begegnet. Andere sog. Meister erkennen das Problem nicht oder sind nicht gewillt, das Problem aufzugreifen. Sie sonnen sich sichtlich in den Schülerprojektionen, übernehmen die Projektionen als ihre eigene tiefste Wirklichkeit und spielen vor Tausenden von Anhängern vollkommene Erleuchtung. Der Pseudomeister versucht zu sein, was die Schüler von ihm halten. Je feuriger die Projektionen der Schüler und je dichter die Weihrauchwolken, die den Erleuchteten umhüllen, desto fragloser beginnt auch der Erleuchtete an seine vollkommene Erleuch tung zu glauben. Dieses Sichtreibenlassen auf der Woge der Schülerprojektionen führt den Meister und in seinem Gefolge auch die Schüler direkt in den Abgrund totalitärer Mystik. Der Meister wird zum Sklaven der Schülerprojektionen und die Schüler werden ihrerseits zum Sklaven seines Vollkommenheitswahns. Der Meister ist schülerhörig und die Schüler sind meisterhörig. Sie wollen vollkommenes Menschsein. Er spielt nach ihren Wünschen.
Zu allem bereit
Die Schüler werfen in ihrer Meisterhörigkeit alles Unvollkommene vor den Vollendeten hin. Un vollkommen aber ist alles, was sie in sich und an sich haben, ausser ihrer Liebe zum Meister. Un vollkommen ist ihr Denkvermögen. Der Meister denkt vollkommen klar. Im Zweifelsfall sieht im mer der Meister klar. Unvollkommen ist ihr Urteilsvermögen. Was der Meister sagt, ist über alle Zweifel erhaben. Zur unvollkommenen Welt gehören auch ihre bisherigen Bekanntschaften und Er fahrungen, die Herkunftsfamilie, das eigene Vermögen, der erlernte Beruf. Der Schüler des Pro jektionsmeisters ist bereit, all dies dem Meister zu Füssen zu legen oder all dies für den Meister aufzugeben. Wenn es sein muss, ist der Schüler auch bereit, für den Meister zu sterben. Manche radikal projizierenden Schüler warten beinahe schon auf die dazu passende Gelegenheit. Die Meister-Schüler-Beziehung wird totalitär, alle Grenzen sprengend, gegen alle Kritik gefeit, weil Meister und Schüler durch dauernd wahnhaft bestätigte Projektionen aneinander gebunden sind, weil die Schüler im Meister ihr Ideal erschauen und der Meister in den Schülerprokjektionen seine Wirk lichkeit erblicken will. Der Meister entspricht in seinem Meisterspiel laufend den Schülerprojektio nen, und die Schülerprojektionen bestätigen ihn laufend in seinem Meisterspiel.
Nur Realität kann befreien
Aus diesem Spiel ist kein Entrinnen, es sei denn, dass einer der Mitspieler einmal durch reale Er fahrungen aus der Rolle geworfen wird und anfängt, den eigenen oder den fremden Projektionen zu misstrauen. Dann entdeckt der Schüler plötzlich, dass der Meister nicht der ist, den er zu sein vorgibt und der Meister entdeckt, dass er den Schülerprojektionen gar nicht entsprechen kann oder will. Nur Realität kann aus diesem Spiel der Projektionen befreien. Der Ashramalltag in einem grossen Meisterzentrum ist zumeist allerdings so organisiert, dass reale Begegnungen mit dem Meister nie stattfinden. Der Projektionsmeister "begegnet" immer Hunderten oder Tausenden. Fin den einmal Einzelgespräche statt, so sind sie derart ritualisiert, dass der Schüler immer nur gleich zeitig begegnet und sich unterwirft. Nie findet ein Gespräch von Du zu Du, auf gleicher Ebene statt. Diese typische Mischung von Unterwerfung und Begegnung verhindert zum vornherein das Aufkommen eigener Kritik. Der Meister spielt - wo Unterwerfung zur Regel wird - Vollkommen heit sogar noch unter vier Augen.
Allmacht spielen
Jeder Projektionsmeister lässt sich - die Deformation professionelle arbeitet unerbittlich - früher oder später in Allmachtsspiele verwickeln. Er erlebt so lange kritiklose Zuneigung und grenzenlose Opferbereitschaft von allen Seiten, dass er am Ende in guten Treuen annehmen muss, dass ihm nichts mehr unmöglich ist. Er spielt - wie Sai Baba und andere - creatio ex nihilo. Er erschafft Asche und Schmuckstücke, Uhren und Nahrungsmittel aus dem Nichts. Oder er ist grenzenlos kreativ wie Sri Chinmoy. Er wird Weltrekordler im Gewichtheben, Dichten, Musizieren. Oder er will mit seiner Meditationsmethode die Weltpolititk verändern wie Maharishi Mahesh Yogi. Der Erleuchtete, so will es die Schülerprojektion, hat direkten Zugang zum Bereich aller Möglichkeiten. Er kann, was er will. Geneigt, allen Schülerprojektionen zu entsprechen, greift der Meister tapfer in dieses geheimnisvolle Reservoir aller Möglichkeiten wie in einen Zauberhut und zieht immer neue Wunder ans Licht. Diese Wunder halten allerdings nur dem Auge der projizierenden Jünger gemeinde stand. Wo die Kraft der Projektion und Wundererwartung nachlässt, werden gerade diese Demonstrationen meisterlicher Allmacht zur Ausstiegschance. Wenn die Projektionen ver blassen, stellt sich Ernüchterung ein. Schon macher Meister hat durch seine Allmachtsspiele ent täuscht und wahnhaft gebundene Schüler ungewollt aus ihrer Hörigkeit befreit.
Allmachtsspiel und engagierte Gelassenheit
Die Allmachtsspiele sind für einen Projektionsmeister ebenso bezeichnend wie die engagierte Gelassenheit für die genuine Mystik. Genau besehen entsprechen sich die engagierte Gelassenheit und das Allmachtsspiel wie ein Kunstwerk und dessen schlechte Kopie. Auch der genuine Mystiker kann in seiner engagierten Gelassenheit Grenzen des bisher Möglichen überschreiten. Der genuine Mystiker zeigt in seiner engagierten Gelassenheit im Unscheinbarsten das Ewige und in der alltäglichsten Erfahrung das Tor in die Freiheit über allen Worten. Auch die genuine Mystik schafft Wunder. Aber ihre Wunder werden nie zur Zirkusnummer. Die Pseudomystiker werden zu Sklaven ihres eigenen Erfolgs. Die genuine Mystik zeigt die ganze Wirklichkeit als Wunder. In jedem Kiesel entdeckt sie ein Spiegelbild des Kosmos. Und wenn die genuine Mystik den Bereich des Gewohnten durchbricht, so tut sie dies in heiliger Beiläufigkeit. Genuine Mystik entartet nie zur Sensation.
Das verspielte Selbst
Gegen den Versuch des Schülers, sich mit Hilfe des Meisters selber zu finden, ist nichts einzu wenden, solange dem Meister klar ist, dass das Meisterbild des Schülers weder der eigenen Wirk lichkeit noch der tiefsten Wirklichkeit des Schülers entspricht. Die östliche Mystik geht im allge meinen von der Annahme aus, dass das in allen Wesen verborgene Selbst eine einzige, überall identische Wirklichkeit sei. Diese östliche These treibt - in der westlichen Welt kritiklos übernom men - direkt in totalitäre Mystik. Der Schüler wird so von höchster mystischer Erkenntnis in seiner Projektionsbereitschaft fraglos bestätigt. Was er im Meister entdeckt und was er in sich selber fin den könnte, muss die eine und selbe Wirklichkeit sein. Die tradierte westliche Liebe zur Individualität rechnet in ihren christlichen und griechischen Wurzeln im allgmeinen mit der Unverwechselbarkeit jedes Individuums und jeder Person. Das Selbst des Meisters kann so besehen gar nicht dasselbe sein wie das Selbst des Schülers. Und der Schüler kann gar nicht zu sich selber finden, indem er einfach den Meisterweg wiederholt. Würde der Schüler auf genau die gleiche Weise wie der Meister die Erleuchtung finden, so wäre er zwar nach dem Massstab östlicher Weisheit wahrhaft erleuchtet. Die Identität seines Erlebens mit dem Meistererleben bürgt in östlicher Sicht für echte Erleuchtung. In westlicher Sicht ist jede kopierte Erfahrung dubios. Wer genau wie der Meister Erleuchtung findet, der kann gar nicht wirklich erleuchtet sein. Er ist nur Erleuchtungskopie.Individualität ist östlich betrachtet in der Erfahrung des Selbst aufgelöst und verschwunden, westlich und christlich besehen ist sie in der Erleuchtungserfahrung bestätigt und erfüllt.

Dass östliche Meister in der westlichen Welt diese diametral entgegengesetzte Einschätzung der Individualität nicht wahrnehmen können oder wollen, kann uns nicht verwundern. Die östlichen Meister sind zwar mit fast allen Aspekten westlicher Kultur, aber nicht mit dieser nicht augenfälli gen, aber dafür umso wirksameren Einschätzung der Individualität vertraut. Die Botschaft und die Praxis östlicher Meister müssen sich deshalb in der westlichen Welt fast zwangsläufig sektenhaft auswirken. Sie führen in ein Selbst, das zutiefst nicht dem Selbst des Schülers entspricht, das nur wahnhaft erlebt werden kann. Wer aber nur in doppelten Projektionen Erleuchtung findet, ist totali tär erleuchtet. Er ist angekommen und zu jedem wahnhaften Opfer bereit.

Psychologie als säkularisierte Mystik
Dass die Psychologie allein schon in ihrer Begrifflichkeit vieles der Sprache der Mystik verdankt, ist unbestritten. Auch der Anspruch vieler psychologischer Schulen, dem Menschen zu helfen, sich selbst zu sein, ist säkularisiertes mystisches Programm. Selbstverständlich kann die moderne Psy chologie auf das ganze theologische Rahmenwerk tradierter Mystik weitgehend verzichten. Aber die Mitte der Mystik, die Begegnung mit dem eigenen Selbst, hat sich ein grosser Teil der moder nen Psychologie zum eigenen Anliegen gemacht. Wer aber die tradierte Mystik beerben will, erbt auch ihre Entartungen. Die moderene Psychologie ist für totalitäre Entgleisungen ebenso anfällig wie die tradierte Mystik. Wo der Therapeut und die Therapiewilligen sich in gegenseitigen Projek tionen verstricken, entwickeln sich genau die gleichen gegenseitigen Hörigkeiten wie in der totalitä ren Mystik. Sog. Psychosekten sind bis in einzelne Exzesse menschlicher Opferbereitschaft hinein zutiefst mit allen Spielformen totalitärer Mystik verwandt.
Oestliche Mystik in westlicher Psychologie
In den letzten Jahrzehnten und Jahren hat - wahrscheinlich aus dem Empfinden dieser tiefen Ver wandtschaft von Psychologie und Mystik heraus - westliche Mystik vermehrt weltanschauliche und meditativ-praktische Anleihen bei östlicher Mystik gesucht. Das Menschenbild des Buddha, die Erleuchtungswege des Zen, das Mandala als Bild des Selbst und der Welt, ja sogar die Reinkarna tionsvorstellung wurden für westliche Psychologen fast programmatisch bedeutsam. Gegenüber diesen Anleihen bei anderen Kulturen in der westlichen Psychologie gilt der gleiche Vorbehalt wie gegenüber der östlichen Mystik in der westlichen Welt allgemein. Wird die westliche Einschätzung des Individuums verkannt oder bewusst überspielt, so drängen alle diese Anleihen direkt in totali täre Entartung. Das Selbst des Meisters wird ungefragt identisch mit dem Selbst des Schülers, und diese Identität wird - wie könnte es anders sein - in gegenseitiger Projektion erlebt. Aus gegenseiti ger Projektion, durch höchste Weisheit noch bestätigt, ist kaum mehr ein Entrinnen. Es sei denn, dass die Realität auch hier die Projektionen bricht. Realität ernüchtert und Realität enttäuscht. Den gegenseititg projizierenden Meistern und Schülern, Therapeuten und Therapiewilligen kann nichts Besseres als heilsame Enttäuschung zustossen.
Georg Schmid, 1996
Letzte Aenderung 1996, © gs 1996, Infostelle 2000
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