Kagyüpa

Im 11. Jahrhundert, zur Zeit der zweiten Ausbreitung des Buddhismus in Tibet, fanden nicht nur von Neuem indische buddhistische Meister und Lehren ins Bergland. Gleichzeitig studierte der Tibeter Marpa in Indien beim Meister Naropa die auf dessen Meister Tilopa zurückgehende Mahamudra-Philosophie und übersetzte die entsprechenden Schriften – eine Leistung, die ihn als «Übersetzer Marpa» in die Geschichte eingehen liess.

Die Mahamudra-Lehre wurde von Marpa seinem Schüler Milarepa, dem grössten Dichter und Yogi Tibets, anvertraut. Im Anschluss an Marpa und Milarepa entwickelten sich die verschiedenen heute auch im Westen besonders aktiven Formen der Kagyüpa, (kurz: Kagyü), der «mündlichen Überlieferungslinie».

Mahamudra, das «grosse Siegel», eröffnet das Wissen um die Einzigkeit der Leere («Shunyata») und führt in die Freiheit von Samsara, dem Kreislauf der Geburten, und damit auch in die Freiheit von der Welt der Phänomene. Gleichzeitig lehrt Mahamudra auch die Einheit aller Erfahrungen.

Da die Kagyüpas Erleuchtung nicht in erster Linie durch Belehrung suchen, sondern durch Meditation, ist die praktische Anleitung des Meisters von zentraler Bedeutung. Berühmt ist die Darstellung der langwierigen und unendlich schwierigen meditativen Schulung von Milarepa durch seinen Meister Marpa – Marpa prüft den Gehorsam und die Geduld des Schülers durch die scheinbar unsinnigsten Aufträge –, nachgezeichnet durch Milarepas Schüler Rechung (vgl. W.Y. Evans-Wentz, Milarepa, Tibets grosser Yogi, Weilheim 1971). Sie lässt erahnen, wie erfahrungsnah und meistergebunden Kagyü-Buddhismus von seinen Wurzeln her Erleuchtung sucht.

Die Karmapa, zugleich die bedeutendste Schule unter den Nachfolgern Marpas und Milarepas und die älteste Tulku-Linie des tibetischen Buddhismus, blieb die einflussreichste Schule Tibets bis zu den kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Gelugpas (und deren mongolischen Freunden) im 16. und 17. Jahrhunder. Seither nehmen die Gelugpas und deren Oberhaupt, der Dalai Lama, diese Stellung ein.

Das Faktum, dass die Kagyü-Schule mit ihren zwei bekanntesten Tulku-Linien, den Karmapa und den Sharmapa, die sich jeweils gegenseitig als Inkarnation anerkennen mussten, ihren religiösen und politischen Einfluss an die Gelugpas abtreten mussten – 27 Kagyü-Klöster wurden im 17. Jhdt. zwangsweise Gelugpa-Klöster – machte die Karmapas zu engagierten, wenn auch wenig erfolgreichen Opponenten zum jeweiligen Dalai Lama. Auch heute noch. In der jüngsten Vergangenheit zeigte diese Opposition auch Folgen für die buddhistische Bewegung im Westen.

Nicht nur die Aktivität des 16. Karmapa, auch die Konzentration aufs meditative persönliche Erleben und der intuitive Umgang mit den Lehrschriften haben die Kagyü-Schulen zu den im Westen erfolgreichsten buddhistischen Gemeinschaften überhaupt gemacht. Die Schweiz bildet in Mitteleuropa, was die Präsenz der Kagyü-Gruppen betrifft, eine Ausnahme: wegen der beträchtlichen Zahl ehemaliger tibetischer Flüchtlinge und der Wirksamkeit des nicht nur Tibetern dienenden Klosters in Rikon, das dem Dala-Lama untersteht, sind die Gelugpa-Schulen und -Gruppen zu überdurchschnittlich grossem Einfluss gelangt.

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