Kadampa und Gelugpa

Atisha, der indische Meister, auf den sich besonders Kadampa und Gelugpa berufen, lebte in dem für den tibetischen Buddhismus so entscheidenden 11. Jhdt. Ursprünglich ein indischer Gelehrter aus königlichem Geschlecht, verbrachte er die letzten 12 Jahre seines Lebens (gest. 1055) in Tibet, führte das Zölibat der Mönche ein, drängte auf überzeugende Mönchs-Moral und lehrte und praktizierte vor allem die verschiedenen Methoden des Bodhicitta, der Erzeugung des Erleuchtungsgeistes. Stufenweise entfaltet der Schüler in sich das grenzenlose Erbarmen für alle leidenden Wesen, die meditativen Kräfte und Mittel, die ihm helfen, der Erlösung aller Wesen zu dienen und den endgültigen Erleuchtungsgeist in der Einsicht in das wahre Wesen (d.h. in die «Shunyata», «Leere») aller Phänomene. Atisha begründete die Schule der Kadampas, der «mündlichen Unterweisung». Durch seinen Einfluss auf Tsongkhapa, den Begründer der Gelugpas, der «Gelbmützen», wurde Atisha zu einer massgeblichen Autorität für die Mehrzahl der tibetischen Buddhisten.

Wenn die Schulen, die sich auf Marpa und Milarepa berufen, als «halbreformiert», angesprochen werden können, darf Tsongkhapa (1357–1419) als eigentlicher Reformator des tibetischen Buddhismus und die von ihm begründete Gelugpa, «Schule der Tugendhaften», als reformiert angesprochen werden. Tsonghkapa, in der Tradition der Kadampa stehend, legte Wert auf Einhaltung der Mönchsregeln und gründliches Studium der autoritativen Texte, inkl. der wichtigsten Grundrichtungen buddhistischer Philosophie. Zwei der für die sog. Gelbmützenschule massgeblichen Texte hat Tsonghkapa selber verfasst, Lamrim Chenmo, «Stufenweg zur Erleuchtung» und Nagagrim Chenmo, «Grosse Darlegung des geheimen Mantras». Tsongkhapa gründete auch die grössten Klöster Tibets: Drepung, Sera und Ganden. Durch die Institution des Dalai Lama, «Lehrer der Weisheit so gross wie der Ozean», die zurückgeht auf einen 1578 vom Mongolenfürsten Altan Khan dem dritten Oberhaupt der Gelugpas und gleichzeitig der dritten Inkarnation dieser bekanntesten Tulku-Reihe Tibets verliehenen Titel, wurden die Gelugpas seit dem 17. Jhdt. zur politisch und geistig bedeutendsten Schule Tibets.

Der jetzige 14. Dalai Lama, Tenzin Gyatso mit Mönchsnamen, wurde am 6. Juli 1935 in einer Bauernfamilie in der tibetischen Provinz Ambo geboren. Als Zweijähriger wurde er von einer Suchexpedition als Inkarnation des 13. Dalai Lama erkannt. Mit 5 Jahren wurde er offiziell zum Dalai Lama ausgerufen. Die volle Staatsgewalt – der Dalai Lama war seit Jahrhunderten im Gelupga-«Kirchenstaat» Tibet weltliches und politisches Oberhaupt – übernahm er am 1. Nov. 1950. Am 17. März 1959, eine Woche nach dem Ausbruch des Aufstandes gegen die chinesische Besatzung, floh er nach Indien, wo er seither in Dharamsala mit seiner tibetischen Exilregierung residiert. Er gilt als Verkörperung des Avalokiteshvara, des Bodhisattvas der Barmherzigkeit.

In den Jahrzehnten seit der Flucht wurde die schon seinerzeit in Tibet gegebene hervorragende Stellung der Gelugpas und ihres Oberhauptes innerhalb der Schulen des tibetischen Buddhismus noch verstärkt. Dies liegt nicht allein an der inspirierenden und als spirituelle Autorität unzählige vor allem auch westliche Zeitgenossen überzeugenden Gestalt des Dalai Lama. Die spirituelle Führung innerhalb aller buddhistischen Schulen Tibets wurde vom Dalai Lama und seiner Umgebung auch systematisch angestrebt und zum Teil auch eingefordert, so z.B. dort, wo der Dalai Lama 1996 die unter Gelugpas populäre, traditionsreiche Verehrung des «Geistwesens» oder der Schutzgottheit Dorje Shugden verbot und dieses Verbot auch mit Hausdurchsuchungen und Entlassungen durchsetzte.

Der Dalai Lama wollte mit diesem Verbot, wie er selber erklärte, zum einen Buddhisten daran erinnern, dass sich Buddhismus nicht in Geisterverehrung erschöpft, zum andern wollte er den Dorje Shugden, der – einst eine historische Gestalt – zu seinen Lebzeiten ein vehementer Verfechter des Machtanspruchs der Gelugpas war, demonstrativ aus dem Verehrungskreis der Gelugpas entfernen, um damit die Einheit unter allen tibetisch-buddhistischen Schulen zu stärken. Es gelte, alle Traditionen des tibetischen Buddhismus gleichermassen zu pflegen, zu lehren und zu praktizieren, im Gegensatz zur Shugden-Verehrung, die Belehrung durch andere Schulen ausschliesse.

Shugden, so der Glaube seiner Verehrer, strafe jeden, der auch Belehrungen aus anderen Schultraditionen akzeptiere. Das sei sektiererisch und schade der Einheit der Tibeter, befand der Dalai Lama. Die inzwischen zur Verteidigung der Religionsfreiheit unter Tibetern und zur Erhaltung der Shugden-Verehrung in Indien gegründete Shugden-Gesellschaft erklärt sich die Vehemenz des Dalai Lama in dieser Sache allerdings mit einem zunehmenden Einfluss der ihn umgebenden und für ihn bedeutsamen verschiedenen Orakel, die in Dorje Shugden und dessen Orakel zunehmend eine Konkurrenz erkannten. Nach einer Konsultation des Shugden Orakels nämlich soll der Dalai Lama 1959 aus Tibet geflohen sein. Wie dem auch sei, der Streit um die Dorje-Shugden-Tradition führte unter Gelugpas zu leidvollen, zum Teil sogar blutigen Auseinandersetzungen.

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