Die Liebe der Gurumayi

Besuche in den Siddha Yoga-Zentren in Oakland und Ganeshpuri

Georg Schmid, 1999

Ich begegnete Siddha-Yoga zum ersten Mal vor zwanzig Jahren, als mir ein ETH-Assistent und engagierter Siddha Yoga-Anhänger – inzwischen ist er ETH-Professor – von seinem allmorgendlichen Guru-Gita-Gesang erzählt. Einerseits staunte ich über sein tägliches Engagement. Er sang und singt jeden Morgen während beinah einer Stunde die alten 182 Sanskritverse, die wie kein anderer indischer Text die Göttlichkeit, die Allgegenwart, die Allwissenheit, die Allmacht und die grenzenlose Liebe des Gurus preisen. „Der Guru ist Vater, der Guru ist Mutter, der Guru ist Gott.“ Andrerseits fragte ich mich schon damals: Was kann einen europäischen Wissenschaftler dazu bewegen, einen indischen Guru in alle Himmel hinauf zu loben und ihm in seinem Gesang bedingungslosen Gehorsam und grenzenlose Hingabe zu versprechen? Wie verbindet sich der kritische Geist des Wissenschaftlers in einem einzigen Menschen mit grenzenloser „Guruhörigkeit“?

Die gleiche Frage beschäftigt mich ein weiteres Mal, wie ich im Siddha Yoga-Ashram in Oakland, Kalifornien Betty gegenübersitze. Betty ist eine alte Dame, wie viele Amerikanerinnen aufgestellt, optimistisch und sehr kommunikativ. Sie hat mich, den Neuling, während des morgendlichen Guru Gita-Gesangs in der Meditationshalle des Zentrums entdeckt und sofort zum Morgenessen ins Ashramrestaurant eingeladen. Es ist ein gewöhnlicher Wochentag, kurz nach sieben Uhr morgens. Die Siddha Yoga-Gemeinde füllt das ganze grosse Restaurant. Die meisten kennen sich. Ueberall begrüsst man und frau sich herzlich und unkompliziert. Siddha Yoga ist in den Vorstädten von San Francisco offensichtlich eine jeder vielen spirituellen Grossfamilien, die den anonymen Alltag in der Grosstadtagglomeration erträglich machen. Betty ruft noch Freundinnen an unseren Tisch und so – von dankbaren Zuhörern umrahmt – plaudert sie munter drauf los. Sie erzählt von ihrem Leben, von ihrer Arbeit, von Siddha Yoga, von ihrer Gurvi, ihrer Meisterin Swami Chidvilasananda, alias Gurumayi, und von ihrer Reise nach Indien. Betty ist Psychologin und Hypnotherapeutin. Sie heilt ihre Patienten durch Hypnose. Diese Methode hat sie nicht in Siddha Yoga gelernt. In Siddha Yoga findet sie – wie sie offen sagt – vor allem eines: Liebe. Und Liebe ist die stärkste Kraft der Welt. „Liebe“, meint Betty , „heilt alle Leiden.“ Was dann das Besondere jener Liebe sei, die sie bei Siddha-Yoga entdeckte? „Du solltest Gurumayi kennen lernen,“ lächelt Betty und strahlt. „Diese Ausstrahlung, dieser Charme, diese Herzlichkeit.“ Ich habe Gurumayi nie persönlich erlebt. Ich kenne nur ihr Bild. Gerade vorhin, während des Morgengesangs, bin ich mit den hundert anderen Meditierenden eine Stunde lang vor ihrem Bild gesessen. Wir sassen alle in Dunkel gehüllt, nur das Bild der Gurumayi, einer fast klassischen indischen Schönheit, leuchtete uns hell bestrahlt entgegen. Die Sprache dieser Szene war unüberhörbar: Wir sitzen im Dunkeln. Aber der Guru ist unser Licht. Betty meint, ich könnte in ein paar Monaten Gurumayi in Kalifornien erleben. Momentan sei sie in Ganeshpuri, in Indien. Sie besuche aber regelmässig ihre amerikanischen Devotees. Ich winke bedauernd ab. In ein paar Monaten möchte ich Indien besuchen. Und ich würde, sage ich Betty, auch gerne nach Ganeshpuri gehen, ins Weltzentrum der Bewegung nördlich von Bombay. Betty hält nicht viel von einem Besuch in Ganeshpuri. „Ich war einmal dort, aber ich wurde schrecklich krank. Du weisst, die indische Nahrung, vor allem das Wasser..“ Ich nicke verständnisvoll und dann geniessen wir alle zusammen unser garantiert sauberes Morgenessen aus der blitzblanken kalifornischen Ashramküche.

Als ich Wochen später vor dem grossen palastähnlichen Ashramgebäude in Ganeshpuri stehe, sagt mir der erste Devotee, den ich anspreche: „Gurumayi ist nicht mehr hier, sie ist zur Zeit in Kalifornien.“ „Das habe ich vermutet,“ antworte ich etwas enttäuscht. Aber dann denke ich an Betty und freue mich für sie. Möge Betty nun die Liebe erleben, die sie für sich und ihre Patienten sucht!

Aber wenn ich schon die vier Stunden Fahrt von Bombay nach Ganeshpuri auf mich genommen habe, so möchte ich nun doch auch ohne Gurumayi soviel Siddha Yoga wie möglich in diesem märchenhaften Palast erleben. Ich frage nach der für Neueintretende zuständigen Person und werde an Jane verwiesen, eine junge Australierin in indischem Sari, die mir mit jener seltsamen Mischung von Unerbittlichkeit und Herzlichkeit begegnet, die ich schon bei manchen Managern und Organisatoren in religiösen Zentren antraf. Auf der einen Seite strahlen sie als reine Spiegelbilder ihres göttlichen Meisters mit soviel Liebe auf den Neuling ein, dass es jedem und jeder so richtig warm ums Herz werden könnte. Auf der anderen Seite hüten sie wie bissige Wachhunde unerbittlich das Ashramgesetz. Wachhund und Spiegelbild göttlicher Liebe – auch Jane hat in jahrelanger Uebung Licht und Schatten in sich vereint. „Nein, im Ashram kannst du nicht wohnen. Wir haben unsere strengen Vorschriften. Du musst dich bei der Siddha Yoga-Vertretung in deinem Land anmelden und ihr Empfehlungsschreiben mitbringen. Dann kannst du hier einziehen. Aber einen Teil des Ashrams kann ich dir zeigen, wenn du willst. Und über Siddha Yoga können wir auch miteinander reden. Wenn du Fragen hast, du kannst mich jederzeit rufen lassen.“ Ich kann mich in soviel unerbittliche Freundlichkeit nur gehorsam einfügen und trete eine kleine Besichtigungstour durch die öffentlich zugänglichen Teile des Ashrams an.

Wir besuchen den Tempel für Nityananda, den spirituellen Grossvater der Gurumayi. Nityananda – das zeigt auch seine Statue im Tempelsaal – muss ein eine eindrückliche Gestalt gewesen sein, originell und spirituell in gleichem Mass, eine Art mystisches Unikum. Ohne ihn würde heute nicht nur kein Siddha Yoga-Ashram in Ganeshpuri stehen. Auch Ganeshpuri selbst, das Dorf mit seinem Dorftempel, müssten wir uns wegdenken. Nityananda hat, ohne über Indien hinauszuwirken, in der Gegend um Bombay seinerzeit viele Anhäger gefunden. Im Dorftempel wird noch heute sein Samadhi, seine Grabstätte, gezeigt, und jeden Tag pilgern noch heute Hunderte an seinem Grab vorbei. Im Ashram selber ist er nur mit seiner Statue vertreten, die uns gleichzeitig erleuchtet und verschmitzt entgegenlächelt.

Nur ein paar Schritte aber trennen den spirituellen Grossvater vom Vater der Bewegung, von Muktananda, dessen Samadhi heute das spirituelle Zentrum des ganzen Ashrams ist. Dutzende von Menschen sitzen stundenlang schweigend in dem hellen Raum, in dessen Mitte ein steinerner schlichter Katafalk die Stelle bezeichnet, unter der Muktanda 1989 beerdigt wurde. Man hatte den toten Meister, wenn ich mich an die Berichte von seiner Beisetzung richtig erinnere, damals in Salz und anderen Konservierungsstoffen im Lotussitz in jene Grube gesetzt, die heute die steinernen Grabplatten vor unseren Augen verschliessen. Vor dem Grab berührt Jane ehrfurchtsvoll die dort aufgestellten Sandalen des Meisters. Dann umrunden wir beide schweigend ein paar Mal das Grabmal. Leider, sagt mir Jane, könne ich die wunderbaren Gärten, die Muktananda hinter dem Ashramgebäude anlegen liess, nicht besuchen. Ich hätte sie zu gerne gesehen. Sie wurden als Spiegelbilder des himmlischen Friedens konzipiert. Und da ich fürs nächsten Semester an der Universität Zürich ein Seminar zum Thema „Himmel und Hölle“ ausgeschrieben habe, hätte ich zu gerne den Studierenden ein Miniaturparadies im Bild vorgeführt. Jane vesteht mich. Aber sie lächelt, wie immer, unerbittlich nett.

Am Abend besuche ich im Nityanandatempel die Feier für den Meister des Meisters der Meisterin. Etwa hundert Menschen singen innige Strophen auf die göttliche Liebe im verehrten Guru. Ein Japaner begleitet unseren innigen Gesang mit dynamischem Trommelschlag. Während unserer Lieder opfern zwei Priester dem in diesem Saal einzigen anwesenden Gottessymbol, der Statue des Meisters Nityanada alles, was einer indischen Gottheit in liebender Zuwendung geopfert werden kann: Wohlgerüche, Speisen, Blumen, Milch und Honig und vor allem auch Licht. Arati nennt sich die abendliche Lichtzeremonie. Die Priester schwenken Messingständer mit zahlreichen kleinen Oellämpchen vor dem Symbol des Göttlichen, vor dem leicht schrulligen Buddha. Nach Abschluss der Feier pilgern wir alle in langen Kolonnen nach vorn zu den Priestern und zur Meisterstatue, um das heilige Wasser von den Füssen des Guru zu empfangen, dieses Wasser, das wie kaum ein anderes Zeichen die Liebe des Meisters für seine Schüler anzeigt. Die Priester giessen das Wasser in die wie zum Gefäss geöffneten Hände der Devotees – dann trinken die Gläubigen das Wasser aus ihren Händen und streichen sich die letzten Tropfen über das Haar. Wie ich das Wasser in meinen Händen spüre, muss ich plötzlich an Betty in Oakland denken. Natürlich, das ist die Erklärung. Kein Wunder, dass Betty bei diesen Ritualen krank wurde. Ich jedenfalls trinke keinen Tropfen. Aber ich kann das Wasser auch nicht mehr zurück in die kleine Priesterkanne giessen. Das wäre ein Affront. So leere ich mir alles Wassser kurzentschlossen über meine Haare und meine Stirn. Der Priester ist etwas überrascht und wiegt lächelnd sein Haupt. Was für ein seltsamer Westler, der mit dem Wasser des Meisters seine Haare wäscht!

Am nächsten Morgen, im ersten Schimmer des neuen Tages, sitze ich mit etwa 300 Devotees in der grossen Halle des Ashrams zum Morgengesang. Wir singen wie vor Wochen in Oakland die Gurugita, das Lob auf den göttlichen Guru, vor uns das hell bestrahlte Bild der Gurumayi, hinter uns die Bilder von Muktananda und Nityananda. Wir singen von Gott, der uns nirgends so unverhüllt begegnet wie in unserem Guru. Und wir beschwören singend unsere Liebe zum Guru, die keine Grenzen kennt. Während wir singen befällt mich wieder die alte und noch immer nicht beantwortete Frage, warum sich denn gebildete, kritisch denkende Inder und Westler, warum sich sogar anerkannte Wissenschaftler von bedingungsloser Liebe zum Guru ergreifen lassen. Der ETH-Professor aus Zürich, die Psychologin Betty aus Oakland, die ehemalige Studentin Jane aus Australien und alle die Hunderten von Menschen, in deren Mitte ich jetzt sitze, sie sind alles keine Menschen, denen kritisches Denken fremd wäre. Sie taugen alle grundsätzlich nicht zur Marionette in der Hand irgend eines indischen Meisters. Sie haben eine ähnliche Schulung durchlaufen wie ich. Sie lernten alle kritisch zu fragen, vorsichtig zu erwägen und keiner Autorität blind zu folgen. Hörigkeit ist nicht ihre innerste Natur. Wie kommt es nun plötzlich doch dazu, dass sie ohne den geringsten Vorbehalt die Sandalen eines indischen Meisters verehren, sein Wasser trinken und seine Erkenntnisse einsaugen, wie wenn er oder sie vollkommenes Wissen hätten? Auch nach dem erneuten Gurugesang hat sich für mich diese Frage noch nicht geklärt.

Vielleicht kann mir Gurumayi, der jetzt lebende weibliche Guru der Bewegung, diese Frage beantworten, auch wenn sie im Moment in Kalifornien weilt. Swami Chidvilasananda, wie Gurumayi auch genannt wird, liess viele ihrer Ansprachen und ihrer Erkenntnisse publizieren. Ich kaufe mir im Buchladen alle zur Zeit verfügbaren Werke der Meisterin und frage sie, warum sie, die bis vor kurzem ihrem eigenen Guru Muktananda bedingungslos diente, sich nun selber bedingungslos dienen lässt. Selbstverständlich wird diese Frage in den Büchern von Gurumayi nicht in kritischer Distanz reflektiert und beantwortet. Von der ersten bis zur letzten Seite ist die Sache schon entschieden: Die bedingungslose Liebe des Schülers zum Meister und des Meisters zum Schüler ist die wesentlichste, die beste, die heiligste, die göttlichste Sache der Welt. „Denk immer an dies: Am Anfang Liebe, in der Mitte Tugend, und am Ende wieder Liebe. Was immer geschieht, halt die Liebe im Auge. Sie ist das höchste Ziel“ (My Lord loves a pure heart, 1994, s. 143). „Wir werden geboren, um das Leben Gottes zu leben, ein Leben voller Liebe“ (The Magic of the heart, 1996, s. 229).

Warum Liebe alles ist, das vermag der kritische Leser trotz mangelnder kritischer Erwägung doch zu erahnen. Gurumayi begegnet dem kritischen Betrachter in ihren Büchern als zutiefst romantische Seele. Sie verliert sich so intensiv ins Geheimnis der Vollmondnächte, dass Innen und Aussen verschmelzen, dass der Mond in ihr sich untrennbar mit dem Mond am Himmel verbindet (Remembrance, 1998, s. 6). Wie der Mond, so ihr Meister: Sie vergiesst zu nächtlicher Stunde „wunderbare Tränen der Dankbarkeit“, sobald ihr Herz sich an Baba, ihren geliebten Meister erinnert (Remembrance s. 7). Und wie der Mond und der Meister, so das eigene Wesen: Sie hat volles Verständnis für alle, die Tränen vergiessen, sobald sie in die Gesänge der Liebe zum Guru einstimmen. „Es sind nicht Tränen der Traurigkeit, diese Tränen sind der Nektar des Herzens“ (Magic s. 174). „Wenn du singst, wird dein Herz golden und Licht strahlt aus von deiner Seele“ (Magic s. 178). Diese golden strahlende und tränennasse Liebe ist aber nicht eingebettet in ein real gelebte menschliche Beziehung. Sie ist ein Spiel des Liebenden mit seinem eigenen Wesensgrund. Alles, was der Liebende liebt, trägt er in sich selbst. Er muss es nie im Aussen suchen. „Sobald du deine eigne wahre Natur bewusst erkennst, bist du mit Liebe erfüllt“ (Magic s. 167).

Auch die scheinbar äussere Beziehung zu Gott oder zum göttlichen Meister ist eigentlich ein inneres Geschehen: „Es ist keine äussere Haltung, es ist ein geheimnisvolles inneres Geschehen“ (Magic s. 65). „Wenn du den Namen Gottes im Lied preisest, dann wendet sich dein Blick nach innen. Deshalb verbringen wir soviel Zeit mit Singen. (…) Es kommt ein Punkt, wo dein Blick nach aussen gerichtet scheint, aber deine Aufmerksamkeit wendet sich nach innen“ (Remembrance s. 31). „Gott zieht dein Herz zu ihm und macht es zu seinem eigenen Herzen. Wenn das geschieht, dann fühlst du dich Gott so nahe, dass keine Trennung mehr besteht, und dein Herz kann den Nektar seiner eigenen Göttlichkeit trinken“ (Magic s. 63). „Das ist die höchste Hingabe, wenn Gott und sein Devotee völlig ineinander zerfliessen, und der Devotee kennt nur noch Gott“ (Magic s. 89). Die Liebe der Gurumayi braucht also kein geliebtes Gegenüber, diese Liebe genügt sich selbst. Wenn sie aber aufs Gegenüber blickt, so erkennt sie in ihm nur Vollkommenheit. Das Gegenüber dieser Liebe ist kein reales Wesen, sondern eine Leinwand, auf die der Liebende all seine Ideale projiziert: „Ein grosses Wesen kann Liebe schenken ohne Grund, denn alles in ihm verbrannte in der Erkenntnis, in der Erkenntnis Gottes. Das einzige, was in ihm bleibt, ist reine Liebe“ (Magic s. 122). Das grosse Wesen „unternimmt nichts zu seinem eigenen Wohl. Alles, was es tut, geschieht zum Wohle aller“ (Magic s. 116). Als Verkörperung der höchsten, ewigen Glückseligkeit erkennt Baba, Meister Muktananda, wie alle Wesen auch von höchster göttlicher Glückseligkeit durchdrungen sind und ohne Ende in dieser einen Glückseligkeit spielen. Wenn die Wesen dies nicht erkennen, Baba – das grosse göttliche Wesen – schenkt ihnen diese Einsicht ins eigene göttliche Wesen (The Yoga of discipline, 1996, s. 2). Der Liebende liebt göttliche Vollkommenheit in sich und seinem Meister und erlebt, wie diese beiden Erfahrungen zu einer einzigen werden. Was Meister und Schüler nicht nur verbindet, sondern was sie in ihrem Wesen sind, ist grenzenlose, göttliche Liebe, Liebe ohne Makel, Liebe ohne Schranke, Liebe ohne Schatten, Liebe ohne Eigennutz, Liebe ohne Parteilichkeit, Liebe ohne Alter und ohne Tod. Mit anderen Worten: Liebe im Verständnis der Gurumayi steht jenseits der bedingten Realität und jenseits bedingter und begrenzter Beziehungen. „Liebe“ wirft sich ins Vollkommene und geht im Volkommenen auf. Genau betrachtet ist diese Liebe somit gar keine reale Liebe. Reale Liebe verbindet endliche, unvollkommene Wesen. Gurumayi spricht von Liebe und von ihrem geliebten Meister und von ihrem eigenen innersten Wesen wie das ewig verliebte Mädchen von seinem Idol. Sie schwärmt für Liebe im bewunderten Menschen und für Liebe in sich selbst. Sie erlebt in dieser Bewunderung sogar seine offensichtlichen Schwächen, z.B. seine Unachtsamkeit, als Ausdruck seiner tieferen Einsicht (Remembrance s. 26f.). Und er selbst, ihr Meister, lässt sich nicht nur diesen Schwarm gefallen. Er war – wie kritische Stimmen meinen – gerne von Mädchen umschwärmt und wollte junge Mädchen auch zu nächtlicher Stunde in der Nähe seiner Schlafzimmers wissen.

Die Jüngerinnen und Jünger brennen in ewigem Verliebtsein in ihren Meister. Deshalb ist ihr Meister in ihren Augen auch restlos vollkommen und über jeden Tadel erhaben. Der vollkommene Meister tritt nie aus dem Lichtkreis der Wunschträume in die immer begrenzte Realität. Vielleicht will er oder kann er den Raum der Vollkommenheit auch nicht mehr verlassen. Wahrscheinlich ist er zu wirklicher reifer Liebe nicht mehr fähig. Vielleicht konnte er auch noch nie reale Liebe leben. So lässt er sich dieses Aureole voll zarter Gefühle nicht nur gerne gefallen, er schützt sein liebesunfähiges Herz hinter der Verliebtheit seiner Devotees. Er tut dies nicht deshalb, weil er seine Devotees oder sich selber wirklich lieben würde. Er liebt auch sich selbst nicht. Er ist nur ewig in sich selbst verliebt. Der Guru – vom jahrelangen Umschwärmtwerden verwöhnt – tanzt in seinen Gedanken und Empfindungen dauernd um seine eigene Göttlichkeit. Und seine Devotees können bei ihm nie wirkliche Liebe lernen. Aber er schenkt ihnen die Möglichkeit, ein Leben lang verliebt zu sein.

Betty in Oakland meinte zu Recht, dass nur Liebe Menschen wirklich heilt und dass Menschen deshalb fast um jeden Preis der Welt Liebe suchen. Wenn ich Betty noch einmal treffen würde, würde ich ihr noch einmal beistimmen. Aber ich würde sie auch fragen, ob nicht viele Menschen in ihrem Hunger nach Liebe in Gefühle gleiten, die nicht mehr Liebe sind, sondern blosses Verliebtsein. Wenn der Schüler ein Leben lang den Meister umschwärmt und der Meister ein Leben lang narzisstisch seine Göttlichkeit feiert, entfaltet sich in dieser Verbindung jene Hörigkeit, die scheinbar so schlecht ins Leben kritischer, moderner Menschen passt. Hörigkeit und ewiges Verliebtsein sind wahrscheinlich der Preis, den die ewig veliebte Seele für ihren nie gesättigten Hunger nach Liebe bezahlt. Wenn ich Betty noch einmal treffe, frage ich sie, ob sie bei Muktananda und Gurumayi nicht nur Liebe suchte, sondern auch wirkliche Liebe fand. Betty , die mit ihren Patientinnen und Patienten alle Tiefen der menschlichen Seele durchwandert, wäre sicher bereit, sich dieser Frage zu stellen.

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