Erfahrungsbericht aus einer christlich-charismatischen Gemeinschaft

1993 beendete ich meinen Zivildienst und hatte 3 Monate frei. Zu dieser Zeit befand ich mich in einer depressiven Phase, weil ich nicht so recht akzeptieren konnte, dass ich „nur“ ein organisches Wesen bin, zwar hoch komplex, aber dennoch sterblich, wie alles andere. Ich konnte mich mit dem gesellschaftlichen Leben um mich herum nicht identifizieren und hatte entsprechend Anpassungsschwierigkeiten und damit auch kein Zugehörigkeitsgefühl. Hinzu kam noch die Beendigung einer 4-jährigen Beziehung zu meiner Jugendliebe und meine Eltern zogen aus beruflichen Gründen in die Staaten. All diese Ereignisse zusammen ließen in mir zwangsläufig das Gefühl von Einsamkeit entstehen. Ich wollte mich nicht damit abfinden, nur in einem System zu funktionieren, ich sehnte mich nach etwas, was ich nicht kannte.

Damit war ich prädestiniert und äußerst anfällig für jede Art von Weltanschauung, die mein inneren Widerstand gegen die Begebenheiten rechtfertigt.

Als gelernter Elektroinstallateur nahm ich öfter kleine Aufträge an um mir etwas Geld nebenbei zu verdienen. Dadurch kam der Kontakt zu der „christlichen“ Wohngemeinschaft zustande. Es handelte sich dabei um 3 Personen, die sich einen alten abgewrackten Gasthof auf dem Land gekauft hatten, um dort irgendwann einmal hilfsbedürftige Menschen aufnehmen zu können. Ich entschied mich, weil ich ja schließlich Zeit hatte und Ablenkung brauchte, die Elektroinstallation Stück für Stück in Ordnung zu bringen. Dadurch kam ich natürlich auch mit ihrer Weltanschauung in Kontakt. Oft saß ich abends lange mit einem der drei zusammen und stellte interessiert Fragen. Das, was mich neugierig machte, war ihr extrem ausgeprägter Optimismus, ein Verhalten, das ich aus meinem bisherigen Umfeld nicht kannte. Während ich nicht so recht wusste was das alles soll, wozu ich hier bin und was mit mir passieren wird, hatten sie absolute Sicherheit hinsichtlich ihrer Funktion und ihrer langfristigen Perspektive. Sie waren die von Gott Auserwählten und hatten den Auftrag, dieses Haus zu kaufen um dort sogenannte „Kaputte“ aufzunehmen. All das haben sie durch intensives Gebet zu Gott in einer Vision empfangen. Ich war hin und her gerissen zwischen zwei Standpunkten; entweder die sind verrückt oder sie haben tatsächlich den eigentlichen Sinn des Lebens gefunden.

Fakt war, das sie gut drauf waren und ich schlecht und da ich ebenfalls glücklich sein wollte und wenn Gott tatsächlich existiert und die Möglichkeit bestände, mit ihm in Kontakt zu treten, wäre es äußerst dumm von mir, diese Möglichkeit nicht war zu nehmen und so begann ich mit Gott zu reden.

Da ich atheistisch erzogen wurde und bisher keinerlei Kontakt zur Kirche und ähnlichen Organisationen hatte, war ziemlich unvoreingenommen und hatte auch keinerlei Kenntnisse über die Bibel und den Missbrauch, der mit ihr praktiziert wurde und wird.

Die Bibel war das Fundament, man konnte jedoch ihren Inhalt nicht verstehen, wenn man nicht den Geist Gottes in sich aufgenommen hatte, somit wurden alle in ihr vorhandenen Widersprüchlichkeiten gerechtfertigt. Sie war das Wort Gottes und damit waren alle Brutalitäten des alten Testaments in Ordnung, denn vor Jesus´ Kreuzigung galten andere Regeln. Vor dem Erlösungswerk war es nur den Juden als auserwähltes Volk möglich, Gnade bei Gott zu finden. Gott erwartete sogar von ihnen, andere Völker, die Götzendienst betrieben, abzuschlachten, samt Frauen und Kinder. Wir heute haben das große Glück, nach Jesu Kreuzigung zu leben und damit ist die Möglichkeit gegeben, dass jeder Mensch allein durch Gnade und annehmen des Opfers Jesu Mitglied des Volkes Gottes werden kann.

Im Nachhinein betrachtet ist es für mich schwer vorstellbar, diesen Sachverhalt als Wahrheit angenommen zu haben, doch ich habe es getan, weil ich ebenfalls zur Elite der Menschheit gehören wollte.

Jede Kritik meinerseits wurde immer durch ein geschickt ausgewähltes Bibelzitat zu Nichte gemacht. Gut geeignet war der Satz „Was bei Menschen Torheit ist, ist bei Gott Weisheit und entsprechend umgekehrt“.

Was mein eigentlicher Beweggrund war, mitzumachen, war das Erleben der sogenannten Gegenwart Gottes im Gebet. Ein für mich heute noch nicht vollständig geklärtes Phänomen, das im Laufe der Zeit eine Intensität angenommen hat, welches alle anderen Zweifel beseitigte. Wir kamen regelmäßig mit 4 bis 10 zusammen und hielten im kleinen Kreis unseren Gottesdienst ab. Der Ablauf war nicht konkret festgelegt, sondern wurde von Gott selbst geführt, indem er den prophetisch Begabten Weisung gab, was zu tun war. Auch ich glaubte von mir selbst, diese Begabung entwickelt zu haben und trug entsprechend meinen Anteil bei. Somit entwickelten sich diese Zeiten zum Highlight meines Lebens. Denn durch dieses Beten ließen wir die Sorgen hinter uns empfingen Vergebung für unsere Schuld und ich diente den anderen durch das, was ich von Gott empfing. In dieser Zeit kam ihn mir starke Euphorie auf, ich glaubte durch den Geist Gottes mit dem Himmel und damit mit Gott persönlich verbunden zu sein und fühlte mich unendlich geliebt. Diesen Zustand kann ich mir bis heute nicht erklären allein durch positives Denken, eines Geistes zu sein und dass sich gemeinsames Wunschdenken zu einem gedanklichem Gesamtfeld vereint – zumindest im Augenblick nicht. Ich habe gelesen, dass Esoteriker ähnliches erleben, das heißt für mich, das es nicht gebunden ist an ein spezielle Vorstellung, sondern ein durch permanente Suggestion hergestelltes in sich geschlossenes Gedankengebäude sein muss, das sich ständig selbst bestätigt.

Das erstaunliche dabei war, das man diesen Zustand nicht sofort verlassen konnte, sondern noch einige Zeit nachwirkte. Wenn man nach dem Gebet einen Eingeweihten traf, der nicht am Gebet teilgenommen hatte, konnte man ihn durch kurzes Händeauflegen ebenfalls in diesen Zustand versetzen, zwar nicht in der vollen Intensität, jedoch trotzdem spürbar. Manchmal nahm diese Kraft eine Intensität an, das man sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte, speziell für den, der von anderen „bebetet“ worden ist.

Es hieß, wer einmal diese Kraft erlebt hat, wird nicht mehr derselbe sein wie vorher, das jedoch hat sich nach meiner Beobachtung nicht bestätigt. Ich habe in 7 Jahren keinen kennen gelernt, der sein Wesen grundlegend verändert hat. Bei allen war anfänglich immer eine Euphorie vorhanden, die sie motivierte, sich Mühe bei allem zu geben, doch die Fähigkeit bedingungslos zu lieben, hat keiner erreicht.

Zielsetzung war, dass wir durch gezieltes Gebet eine noch stärkere Nähe zu Gott bekommen und irgendwann die Kraft so stark wird, das wie zu Zeiten der Apostelgeschichte Zeichen und Wunder geschehen, damit unser verkündetes Wort seine Bestätigung erhält, und die Menschen mehr oder weniger gezwungen sind, zu glauben.

Problematisch war, dass die empfangene Kraft sich im täglichen Leben immer wieder schnell verflüchtigte und die Selbstlosigkeit dem unvermeidbaren Egoismus zum Opfer fiel. Das konnte man nach einiger Zeit nicht mehr ignorieren und suchte nach Ursachen für dieses Problem.

Gott war zwar grundsätzlich allmächtig, er hatte jedoch einen Widersacher, den Teufel. Der hatte die irdische Atmosphäre in seiner Gewalt und versuchte ständig, uns Christen anzugreifen und uns zu verführen. Durch unser Gebet erreichten wir eine Öffnung der dämonischen Sphäre über uns, denn die Dämonen konnten es nicht ertragen, wenn wir Gott anbeteten und ihm Lobpreis brachten. Wenn dann über längeren Zeitraum kein intensives Gebet stattfand, schloss sich die Atmosphäre wieder und vor allem bedeutete das, dass die feindlichen Geister Kontakt aufnahmen mit unseren Gedanken. Sie machten uns Schuldgefühle und legten uns damit lahm, so dass wir für Gott nicht mehr zur Verfügung standen.

Als Lösung blieb nur eins übrig: Wir mussten aufhören zu arbeiten, um mehr Zeit für das Gebet zu haben. Diese Lösung war nicht schwer anzunehmen, denn es war natürlich viel interessanter, im Geist die Geschicke der Welt zu beeinflussen, als durch mühsame Arbeit für seinen Lebensunterhalt aufkommen zu müssen, besonders deshalb, weil man ja schließlich die auserwählte Elite war, durch die Gott handeln wollte.

Vielleicht sollte ich erwähnen, das ich zu diesem Zeitpunkt bereits 3 Jahre dort wohnte. Inzwischen hatte ich Abitur nachgemacht und wollte ursprünglich Psychologie studieren, davon wurde mir jedoch abgeraten, weil es mich höchstwahrscheinlich von Gott entfernen würde. So fing ich wieder an als Elektriker zu arbeiten und konnte nach einem Jahr diese Beschäftigung beenden und hatte endlich Zeit, während ich Arbeitslosengeld erhielt, Gott meine ganze Zeit zur Verfügung zu stehen. Was ich bisher noch gar nicht erwähnte, war die Instandhaltung und Renovierung des Gebäudes, was einen großen Teil meiner Zeit in Anspruch nahm. Da ich der einzige ausgebildete Handwerker war, blieb der Großteil der Arbeit an mir hängen. Zum damaligen Zeitpunkt war das für mich kein Problem, denn das Haus gehörte zwar offiziell zweien von uns, ich war keiner der zwei, jedoch inoffiziell gehörte das Haus Gott, und damit diente ich ihm mit meinen Begabungen und entsprechend brauchte mir keiner dankbar sein. Als ich nun arbeitslos war, blieb für das Gebet nun doch nicht mehr Zeit übrig als vorher, denn es wurde eine weitere Wohnung geplant und der Bau eines Wintergartens und damit war ich im letzten Jahr meines Aufenthaltes in der „Gemeinschaft“ schwerpunktmäßig mit Bauarbeiten beschäftigt.

Wie ich schon erwähnte, war das Haus mit seinem reichhaltigen Platzangebot ursprünglich dazu bestimmt, hilfsbedürftige Menschen aufzunehmen, doch bisher war es nicht dazu gekommen. Stattdessen entwickelte es sich immer mehr zu einem Luxuspalast, allerdings in einem schleichenden Prozess, so wie vieles andere auch, und damit kaum bemerkbar.

An dieser Stelle möchte ich klar zum Ausdruck bringen, dass ich mir im Nachhinein kaum vorstellen kann, das ich all dies glauben konnte, doch der Faktor Zeit spielt eine wichtige Rolle. Alles was ich bisher berichtete, erstreckt sich über einen langen Zeitraum und ich wurde nur Schritt für Schritt in die ganze Wahrheit eingeweiht. Zunächst bekam ich nur das Positive zu erfahren und erst mit der Zeit erfuhr ich, dass das ganze auch seinen Preis hat. Ich wurde auch immer wieder entlohnt für alle Strapazen und Verzichte durch die vorher erwähnten Phänomene.

In der Anfangszeit bestanden auch zahlreiche Kontakte zu den umliegenden charismatischen Gemeinden und man akzeptierte die Eigenheiten der anderen. Wir besuchten auch regelmäßig Großveranstaltungen bei denen die „Top-Leute“ der charismatischen Bewegung ihre Auftritte hatten.

Mein bisheriger Bericht erweckt den Anschein, wir hätten ein demokratisches System gehabt, dies war aber nicht der Fall. In erster Linie war es eine Person, die die Richtlinien vorgab, die selbe Person mit der ich anfangs den meisten Kontakt hatte. Sie hatte die stärkste Überzeugungskraft und glaubte von sich selbst, den intensivsten und besten Draht zu Gott zu haben und alle anderen, die mit mehr Unsicherheit ausgestattet waren, glaubten ihr das auch und achteten ihre Weisung höher als ihren eigenen Verstand, ich in der Anfangszeit ebenfalls. Später, als ich ebenfalls begann, die Stimme Gottes zu hören, entwickelte sich ein Konkurrenzdenken und es wurde darauf hin sogar entschieden, aufgrund einer angeblichen Weisung Gottes, ich müsse gehen. Das war meine Chance von all dem frei zu werden, doch ich wollte meine Zugehörigkeit nicht verlieren und konnte durch Unterordnung und Zurücknehmen erreichen, das die Gemeinschaft mich doch behalten wollte. Schließlich benötigte man meine Arbeitskraft.

Ich war stehen geblieben bei dem Entschluss die Arbeit „in der Welt“ aufzugeben, um Gott mit meiner gesamten Zeit zur Verfügung zu stehen. Ich war dabei nicht der einzige und das hatte zur Folge, das wir zum ersten Mal über einen längeren Zeitraum Zeit kontinuierlich miteinander verbrachten, und das brachte schließlich und endlich das Projekt zum eskalieren.

Wir spalteten uns nach einer längeren Fastenzeit in zwei Gruppen und das Haus blieb in der Hand der einen, der ich nicht zugehörte. Die eigentliche Führungsperson ging weg und einige von uns, ich inbegriffen, folgten ihr. Wir spalteten uns in eine freizügige und in eine traditionelle Gruppe. Wir waren natürlich die Guten und hatten konsequent der Weisung Gottes gefolgt, während die anderen nicht weiter wollten und sich lieber in alten Traditionen und Unaufrichtigkeiten aufhielten.

Es begann ein neuer Abschnitt. Wir wohnten nicht mehr zusammen, trafen uns jedoch regelmäßig um zusammen zu beten. Nach all unseren Erfahrungen kamen wir zu der Erkenntnis, das Deutschland wohl zu materialistisch sei und satt und versorgt und damit kein Interesse an Gott zu haben scheint. Entsprechend begannen wir, uns auf das Ausland zu konzentrieren und es entwickelte sich zur gemeinsamen Vision, in Mexiko neu zu beginnen. Alles was uns fehlte, war das nötige Geld. Darauf hin begannen wir über einen sehr langen Zeitraum für Geld zu beten. Als schließlich Gott kein Geld vom Himmel warf, glaubten wir, Gott verlangt von uns einen Glaubensbeweis; d.h. wir sollten ohne Geld nach Mexiko gehen in der Hoffnung, Gott würde eingreifen und uns versorgen, wenn es wirklich darauf ankommt. Ich unternahm als erster den entsprechenden Schritt, ich verkaufte alles was ich hatte, gab meine Wohnung auf, kündigte alle Versicherungen und kaufte mir ein Ticket nach Mexiko. Ich muss hinzufügen, das die „Führungsperson“ ein Jahr vorher dort im Urlaub gewesen war und abgecheckt hat, wie die geistige Atmosphäre vor Ort ist und entsprechend sicher war, das genau das der Ort ist, an dem Gott handeln will.

Voller Glauben und Glück kam ich in Mexiko an und musste leider feststellen, dass die mir zuvor angekündigte reine Atmosphäre nicht vorherrschte und ich nicht mit Gott verbunden war sondern vielmehr heftigste Existenzängste durchleben musste beim Zu-ende-gehen meiner Kasse. Ich hatte mich in ein Hotel eingemietet und Gott viele Nächte angefleht und um Vergebung gebeten für meinen Unglauben bis ich schließlich eines Nachts eine Stimme hörte, die mich fragte, was ich eigentlich selber wollte. Darauf hin bat ich Gott nur wieder zurück nach Deutschland gehen zu dürfen und dieses schreckliche Land zu verlassen. Ob es nun wirklich Gott war, der mit mir sprach oder ob es nur ein Dialog mit meinem eigenen Unterbewusstsein war, weiß ich nicht. Ich verspürte großes Glück beim Äußern dieses Wunsches und bekam 3 Tage später eine Maschine nach Amsterdam. Ich kam in Deutschland mit 50,-DM in der Tasche an, aber ich wusste, endlich das richtige getan zu haben. Dies war der Beginn meiner Trennung von der Gruppe. Ich wurde natürlich geächtet für mein Versagen, doch mir war klar, das ich einen solchen Empfang bekommen würde und es war mir egal.

Ich zog darauf hin weiter weg, hielt aber noch telefonischen Kontakt zu den anderen. Die Führungsperson hatte inzwischen alles in die Wege geleitet, um selbst nach Mexiko gehen zu können, was sie auch tat. Aber auch sie musste nach geraumer Zeit feststellen, dass es wohl nicht der Wille Gottes war, dies zu tun und kehrte zurück nach Deutschland. Als möglichen Grund warum es nicht geklappt hatte, gab sie an, dass wir in Deutschland wohl nicht ausreichend dafür gebetet hatten.

Die entgültige Trennung vollzog sich ein weiteres Jahr später bei einem Telefonat bei dem ich mir erlaubte, das Reden Gottes zu uns nur als Produkt unserer Fantasie anzusehen.

Jetzt stehe ich vor einem Neuanfang. Ich habe zwar viele Jahre verschenkt, doch sehr viel gelernt über mich selbst und die Menschen allgemein hinsichtlich unserer Manipulierbarkeit.

Teilweise ist mir all dies sehr peinlich und nur die Anonymität des Internets ermöglicht mir darüber zu reden. Doch vielleicht hilft es anderen, sich ebenfalls zu outen und wiederum anderen, ähnliches im Vorfeld zu vermeiden.

Wenn es einen Gott gibt, ist er allen gleichermaßen zugänglich und alle selbst ernannten Führer und Propheten sind mit absoluter Vorsicht zu genießen.

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