„Ich hatte Angst, dass Jesus meine Eltern holt.“

Rea Rother hat die Erfahrungen von Patricia aufgezeichnet.

„In dem Dorf, wo ich aufgewachsen bin, nannten sie uns Stündeler. Meine ganze Verwandtschaft gehörte zur Neuapostolischen Kirche. Die Männer bekleideten höhere Ämter: Mein Opa war Priester, ein Onkel in Deutschland Apostel. – Schon im Kindergartenalter hiess es, dass bald ein grosser Weltkrieg kommt, wo alle untergehen und wir als einzige gerettet werden. Das erzählte ich brühwarm den Nachbarskindern. Seitdem durfte niemand mehr mit uns spielen.

Als Kind hatte ich grausam viele Ängste und wachte nachts oft schreiend auf. Meine Eltern sorgten gut für mich und meine Schwester. Aber sie lebten völlig abgekapselt und eigentlich nur noch in der ständigen Erwartung auf den Tag der ‚Ersten Auferstehung‘, wo Jesus die Seinen zu sich nimmt.

Auf dem Schulweg wurden wir von älteren Kindern immer wieder brutal abgeschlagen. Man sagte uns, das tun sie nur, weil sie merken, dass wir auserwählt sind. Auch ich glaubte daran. Aber irgendwie konnte ich mir nichts darunter vorstellen, und ich hatte grässliche Angst, dass ich von der Schule heimkomme und Jesus hat meine Eltern geholt und mich alleine zurückgelassen.

Über Schwierigkeiten mit dem Glauben wurde bei den Neuapostolen nicht geredet. Es hiess einfach: „Du musst beten.“ In der Kirche waren wir eine grosse Familie, man ging sehr liebevoll miteinander um. Man erzog uns zur Bescheidenheit. Probleme wurden mit Beten gelöst. Ich war sehr scheu und pflichtbewusst. Die Freizeit verbrachte ich grösstenteils in der Kirche oder mit der Jugendgruppe. So kamen wir gar nie in Kontakt mit Rockmusik, Drogen oder Alkohol. Solange man mitmacht, ist es wunderbar, in dieser heilen Welt zu leben. Aber irgendwie schienen mir alle ein bisschen geschädigt: Sie hatten Mühe, Anschluss zu finden, und auch den Jungen fehlte jedes Selbstbewusstsein.

Ich war sehr musisch interessiert und wollte eine künstlerische Ausbildung beginnen. Aber in der Kirche meinten sie bloss: „Was gibt es bei dir noch zu lernen, du kannst ja schon alles.“ – Die Frauen hatten nicht viel zu melden und trugen damals alle schwarze Juppes mit weisser Bluse. Noch heute wird es mir unheimlich, wenn ich einen Frauenturnverein in einheitlicher Kleidung sehe.

Meine ältere Schwester versuchte, sich mit Tabletten umzubringen, und ein Cousin nahm sich mit 25 Jahren das Leben. Wir alle hatten grosse Probleme mit dem Leben draussen. Mit zwanzig wollte ich aussteigen, aber es dauerte zehn Jahre, bis ich tatsächlich wegkam. Mein Freund, den ich öfters in die Kirche mitnahm, sagte: „Ich halte diese Angstmacherei nicht mehr aus! Das ist eine Sekte, ihr beschwört den Weltuntergang.“ Er gab mir die Adresse von einem Psychologen und machte Schluss mit mir. Ich dachte zuerst, was der sich eigentlich einbildet. Meine Mutter versuchte, mich in der Wohnung einzusperren, aber ich bin dann trotzdem in die Therapie gegangen – da wurde mir einiges klar.

Ich erinnere mich noch sehr genau, wie der heutige Stammapostel Richard Fehr in den Jugendgottesdienst kam und schimpfte: „Es gibt da unter euch ein paar so ‚Fröglis‘, und die haben keinen Segen!“ Wer alles hinterfrage, verliere die Kraft im Glauben, predigte er. Die Neuapostolen sprechen von der Sünde gegen den Heiligen Geist. Es gab für sie keine grössere Sünde, als dass sich ein Wissender vom Glauben abkehrt.

Ich lebte in der ständigen Angst, dass mich Gott für meine kritischen Gedanken straft, und gleichzeitig wusste ich, dass einiges nicht stimmen konnte. Ich war nicht mehr richtig drinnen und auch noch nicht richtig draussen, es verjagte mir schier den Kopf. Ich litt an extremer Migräne und bin mehrmals wie im Delirium in ein Auto gelaufen. Die Priester redeten im Spital auf mich ein, die Unfälle seien ein klares Zeichen, dass Gott mich retten will. – Der Psychologe schaute mit mir eigentlich nur die Schuldgefühle an. Langsam ging mir auf, dass es nicht Gott war, der mich strafte, und dass man auch ohne Angst glauben kann.

Inzwischen bin ich der reformierten Kirche beigetreten. Das gibt mir die Sicherheit, dass ich nie mehr zurückkehre. Viele ausgetretene Neuapostolen landen früher oder später wieder dort, weil sie sich nie ganz von dem tief eingeimpften Denkmuster lösen konnten und in jeder persönlichen Krise den Fluch der Sekte befürchten. Auch mein Vater ist noch drin, was jeden normalen Umgang mit der Verwandtschaft schier verunmöglicht.

Heute kommt es mit vor, als hätte ich meine gesamte Jugend in einem Gefängnis verbracht, nur merkte ich es damals nicht. Ich habe nie gelernt, mich zu wehren. Das macht es mir bei der Arbeit und privat nicht immer leicht. Ich sehe auch sofort, wenn jemand das grosse Glück vortäuscht und in seinem Innersten todtraurig ist. Gerade junge Menschen durchschauen das meist noch nicht. Deshalb bin ich zu hundert Prozent überzeugt, dass der Staat die Leute vor Sekten schützen und aufklären muss. Alleine und als Kind ist man machtlos.“

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