Samuel Widmer

24. Dezember 1948 – 18. Januar 2017

Samuel Widmer machte in der Presse vor allem von sich reden als Gründer der Kirschblütengemeinschaft in Lüsslingen sowie als Psychiater, der dem Vernehmen nach auch illegale Drogen in seiner sog. Psycholyse einsetzte, und für den auch tantrische Praktiken zum Therapieangebot gehörten. Auch gegen den therapeutischen Inzest, d.h. gegen sexuelle Erfahrungen zwischen Therapeut und Patientin am Ende einer gelungenen Therapie, hatte er nichts einzuwenden. Wie kam es, dass Samuel Widmer sich immer mehr zum „enfant terrible“ unter seinen Fachkollegen entwickelte?

Samuel Widmer wuchs zusammen mit acht Geschwistern in Zuchwil SO in einer Familie auf, die zum Evangelischen Brüderverein gehörte. Schon allein mit dem Faktum, dass er Medizin studierte und Psychiater wurde, durchbrach Widmer die damaligen Normen des Brüdervereins. Seine Reisen nach Indien, seine Liebe zur Philosophie Krishnamurtis und zum Tantra als geistigem Weg und als Zeichen körperlicher Befreiung lösten ihn vollends aus der geistigen Umgebung seiner Herkunft. Es blieb allerdings in ihm immer noch der Wille, Menschen zu helfen und zu heilen, und die Liebe zur Gemeinschaft der Gleichgesinnten als heilsamste Lebensform. Als immer mehr seiner Patienten in seiner Nachbarschaft wohnen wollten, gründete er die Kirschblütengemeinschaft in Lüsslingen und wandelte sich vom blossen Psychiater immer deutlicher zum geistigen Oberhaupt einer „utopischen“ Gemeinschaft, d.h. einer Gruppe, die geheiltes Menschsein leben wollte und die damit einer in ihnen Augen weitgehend kranken Welt den Weg in eine lichte Zukunft zeigte.

Je härter seine Arbeit und seine Gruppe angegriffen wurden, desto offenkundiger wurde Widmers Sendungsbewusstsein. In seiner Arbeit mit Drogen in der Therapie fand er viele Schüler und Nachahmer. In seinem Kampf gegen das Inzesttabu provozierte er nicht nur seine Fachkollegen, sondern auch die breite Öffentlichkeit. Sein offen polygamer Lebensstil und seine tantristischen Freiheiten schafften ihm in der bürgerlichen Normalwelt auch keine Freunde. Provokation war eines seiner Markenzeichen. Im vergangenen August warf er sich und seiner Kirschblütengemeinschaft vor, dass sie gescheitert seien. Natürlich war eine solche Aussage auch eine „therapeutische Intervention“, d.h. als Impuls zur Gesundung gedacht. Und sie galt auch nur den über 40-Jährigen in der Gemeinschaft. Wie immer auch, auf jeden Fall wagte es der Guru auch, seine eigene Gemeinschaft zu provozieren.

War seine Provokationslust ein Erbe aus seiner Jugend? Der kritische Beobachter möchte dies vermuten. Um aus der Welt des damaligen Brüdervereins wirklich auszubrechen, bedurfte es sicher mehr als nur einer Provokation. Aber ob es damit schon angebracht war, Provokation zu einer Leitlinie seines Lebens auszubauen? Auch diese Frage wird der Beobachter sich stellen, auch wenn er sie konkret im Blick auf Samuel Widmer nicht beantworten will.

In seinem Eröffnungsvortrag zum 1. Symposium „Zusammen leben“ im August 2016 bekennt sich Widmer nicht nur leidenschaftlich zum Wert der Gemeinschaft und des Gemeinschaftsgefühls. Er lässt sich in seinem Verständnis von Gemeinschaft durch Zitate aus der Apostelgeschichte (der Pfingstgeschichte) leiten. Ist er immer irgendwo der kleine Bub geblieben, der im Brüderverein Zuchwil zusammen mit acht Geschwistern aufwuchs, der später zwar nie eigene Kinder haben wollte (weil seine Mutter mit neun Kindern überfordert war), und der dann doch Vater von elf Kindern wurde? Vielleicht war die Kirschblütengemeinschaft für ihn so etwas wie ein tantrisch-esoterischer Brüderverein. Und vielleicht war Samuel Widmer nach allen psycholytischen und tantristischen Befreiungsübungen irgendwo immer noch das Kind aus dem Brüderverein.

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