Sophie Jones: Erlöse mich von dem Bösen. Meine Kindheit im Dienste der Zeugen Jehovas, Bastei Lübbe 2021

«Es gab für mich nur zwei Arten von Menschen: die, die treue Diener Gottes sind und mich meinem ewigen Leben näherbringen, und die, die es nicht sind

Sophie Jones, geboren 1995, erzählt in ihrem Buch die Geschichte ihrer Zeit bei den Zeugen Jehovas und skizziert den schwierigen Weg bis zu ihrem Ausstieg. In der Ich-Perspektive stellt sie mit jedem Wort ihre Gefühle dar. Es ist ein Buch über die Bräuche und Techniken der Zeugen Jehovas, aber auch ein Buch über das Erwachsenwerden. Das Buch ist in 20 Kapitel unterteilt, die alle verruchte und bibelbezogene Namen tragen wie: «Gefallener Engel» oder «Heiße Rache».

Jones erklärt spannend den langen Weg, der sie mit 18 Jahren zum Ausstieg aus der problematischen Gemeinschaft führt. Sie zeigt dabei, dass es sich nicht um einen graduellen Abfall von ihrem Glauben handelt, sondern sie sich den steinigen Weg durch den «gläsernen Irrgarten» (Rausch & Schüssler, 1998, S.48) der Sekte bahnt.

Mit dem mehrdeutigen Titel: «Erlöse mich von dem Bösen» zeigt Jones ihren großen inneren Konflikt während ihrer Zeit bei den Zeugen auf: Nicht nur will sie von den bösen Gedanken, die nicht zu den Zeugen Jehovas passen, erlöst werden, sondern auch von den Zeugen selbst. Die Unvereinbarkeit dieser Bedürfnisse schlägt sich in einem ständigen Kampf zwischen Schuld und Sühne, zwischen Stolz und Scham nieder.

Sophies Geschichte beginnt mit der Schilderung einer Kindheit, in der sie sich nüchtern als «wahrscheinlich recht glückliches Kind» (Jones, 2021, S.14) beschreibt. Es folgt jedoch relativ schnell das erste einschneidende Erlebnis ihres Lebens: Die Trennung ihrer Eltern. Beide Eltern sind Zeugen Jehovas. Weil keiner der Eltern untreu war, was neben dem Tod den einzigen validen Trennungsgrund innerhalb der Zeugen darstellt, muss einer der beiden die Gemeinschaft verlassen. Und so wird Sophies Vater ein Ausgestoßener.

Sie wohnt nun mit ihrer Mutter zusammen, die Sophie als fanatische Zeugin beschreibt. Im Alltag bedeutet das für Sophie zum Beispiel, dass ihre Mutter sie schlägt, wenn sie etwas in ihren Augen Unrechtes tun.

Wenn Sophie bei dem Buchstudium unaufmerksam ist und lieber etwas malt, ermahnt ihre Mutter sie streng und erinnert sie daran, dass es immerhin um ihr ewiges Leben gehe. Die ständige Angst um ihr ewiges Leben, das den Dreh- und Angelpunkt des Glaubens der Zeugen Jehovas darstellt, verfolgt Sophie. Aber nicht nur das: Sie erklärt, wie die ganzen biblischen Geschichten, die durchaus grausam sind, für sie wahr waren und sie schon als kleines Kind damit konfrontiert wird. Sie hat ständig Angst vor Satan und der Strafe Gottes.

Die Grausamkeit des Glaubens zeigt sich besonders dann, als Sophies geliebte Oma stirbt. Schlimm genug, dass sie diesen wichtigen Menschen verliert. Schlimmer ist allerdings noch, dass sie weiß, dass ihre Oma nicht an einem besseren Ort ist, da sie keine Zeugin Jehovas war. Für sie sei sie eine der «Guten» gewesen, aber Jehova sehe das wahrscheinlich anders. Sie schreibt, wie viel leichter es gewesen wäre, ihre Oma im Himmel zu wissen, aber sie habe gewusst wo sie ist: «Hier unter der Erde» (Jones, 2021, S.55).

Je älter Sophie wird, umso schwieriger wird es für sie, ihren Glauben mit ihrem Leben und ihren Interessen in Einklang zu bringen. Während es sie früher hauptsächlich irritiert hatte, dass sie nicht «Hexe Lilly» lesen durfte, machen sich jetzt Probleme wie Ausgrenzung durch Mitschüler oder eine nicht gestattete Neugier breit.

Als sie sich in der frühen Pubertät mit einer Freundin sexuell ausprobiert und die Mutter der Freundin sie erwischt, kommen zwei Älteste zu ihnen nach Hause und befragen sie dazu. Sophie und Hanna werden bloßgestellt und es wird eine Schuldige gesucht. Ihre Freundin schiebt die Schuld auf Sophie, und alle Anwesenden, auch Sophies Mutter, glauben ihr. Für Sophie bedeutet das einen massiven Vertrauensverlust. Sie fühlt sich beschämt und beschuldigt, sie fühlt sich sowieso schon «dreckig», da jegliche Form der vorehelichen Sexualität von den Zeugen Jehovas strengstens untersagt wird.

Sophies Alltag mit ihrer Mutter wird immer schlimmer und so entwickelt sie die Idee, zu ihrem Vater zu ziehen. Als dieser sie zurückweist, weil seine neue Frau nicht möchte, dass Sophie einzieht, ist sie am Boden zerstört.

Als Sophies Vater wenig später an Krebs erkrankt und sich die Situation zuhause mit ihrer Mutter zuspitzt, beginnt sie, sich selbst zu verletzen. Sophie beschreibt, wie ihre Mutter ihr so lange vermittelt, dass sie Niemandem etwas bedeute, bis sie es selbst glaubt. Sophies Mutter zeichnet unter anderem Streitgespräche von ihnen auf und gibt ihr immer wieder zu verstehen, dass sie kein guter Mensch sei. Die Art von Sophies Mutter, sie gleichermaßen zu überwachen und zu diffamieren, ist für Sophie so belastend, dass sie Suizidgedanken entwickelt.

Zudem fühlt sie sich ausgebrannt von den vielen Tätigkeiten für die Zeugen Jehovas und erkennt keinen Sinn mehr in ihrem Leben. Sie schreibt:

« […] was ich in meinem Fall nicht sah, war etwas Großes: Mein Leben.  […] Sosehr ich es auch versuchte, ich konnte mir in meinem Kopf kein Bild malen, wie mein Leben in Zukunft aussehen würde. Ich hatte keine, dessen war ich mir sicher

Als sie circa 14 Jahre alt ist, versucht sie, sich zu suizidieren. Eindrücklich schildert Sophie:

«Ich fühlte mich wie innerlich tot, war es aber nicht. Und ich wusste: Egal, auf welche Art und Weise und wie oft ich es auch versuchen würde, es würde nicht funktionieren. Gott ließ mich nicht sterben. Und so versuchte ich auch nie wieder, mich umzubringen.»

Wie bei viel anderem in ihrem Leben verfolgen Sophie nach dem Suizidversuch Schuldgefühle. Dennoch verändert sich Sophies Verhältnis zu den Zeugen Jehovas: Sie ist zwar eine von ihnen, traut sich aber zum ersten Mal, ihre eigenen Gedanken zu haben und löst sich langsam innerlich ab.

Diese innerliche Ablösung ermöglicht Sophie, eine Art Doppelleben zu führen. Es entsteht um sie herum eine Clique Jugendlicher, allesamt Zeugen Jehovas, die sich so verhalten, wie andere Jugendliche auch: Sie trinken Alkohol, rauchen und sehen sich Filme an, in denen vorehelicher Sex vorkommt. Sophie merkt, dass kaum ein Zeuge Jehovas nach den Geboten der Gemeinschaft lebt. Sie fand es plötzlich cool, die Regeln zu brechen und wird sogar beim Ladendiebstahl erwischt. Sie versucht, Rechtfertigungen für ihren neuen Umgang mit dem Glauben zu finden: Jehova habe sie im Stich gelassen. Konnte Satan wirklich so schlimm sein, wie die anderen sagen?

Als sich Sophies Schulzeit dem Ende nähert, taucht für sie ein Hoffnungsstrahl auf: Sie könnte für ihre Ausbildung ausziehen. Sie ist zwar erst 16, aber da ihre Mutter scheinbar keine großen Probleme damit hat, ihre Tochter nicht mehr bei sich zu haben, kann sich Sophie eine Ausbildungsstelle und eine Wohnung in Leipzig besorgen.

Obwohl sie weiterhin ein Doppelleben führt, verspürt sie das Bedürfnis, jetzt alles besser zu machen und es noch einmal mit Jehova zu versuchen. Sie geht zu den Versammlungen in der Nähe ihrer neuen Wohnung und wünscht sich einen Neustart. Ausdruck des verzweifelten Versuchs, ihr Leben doch noch so zu führen, wie Jehova es von ihr erwartet, ist die Entscheidung zur Taufe. Das hat schwere Konsequenzen: Getaufte Zeugen dürfen keinen Kontakt mehr zu Ausgeschlossenen haben, das heißt, dass Sophie den Kontakt zu ihrem Vater abbrechen muss.

Nachdem sie sich mit 17 Jahren taufen lässt, bleibt die erhoffte Wirkung, nun ein gottergebenes Leben zu führen, aus. Sie lebt weiterhin ein Doppelleben und der Verlust ihres Vaters setzt ihr schwer zu. Als sie sich vertieft mit ihrem zukünftigen Leben als getaufte Zeugin beschäftigt, stellt sie fest, dass sie sich nicht mehr mit den Werten der Zeugen Jehovas arrangieren kann.

Und so trifft sie die, wie sie sagt, beste Entscheidung ihres Lebens. Sie steigt mit 18 Jahren aus der Sekte aus.

Sophie Jones begeistert mit ihrer tiefgründigen Darstellung ihres Lebenswegs bei den Zeugen Jehovas. Sie schildert eindrücklich, wie sie versucht, sich von der Sekte zu lösen und dann immer wieder zurückgeworfen wird. An Sophies Schicksal wird deutlich: Die Zeugen Jehovas zu verlassen ist kein Kinderspiel. Umso beeindruckender, dass Sophie Jones es geschafft hat und sich nun zur Aufgabe macht, über diese und andere problematische Gemeinschaften aufzuklären.

07.02.2022, Julia Sulzmann

Jones, S. (2021). Erlöse mich von dem Bösen. Meine Kindheit im Dienste der Zeugen Jehovas. Lübbe. ISBN: 978-3-431-05016-5

Rausch, U., Schüssler, U. (1998). Zeugen Jehovas. Dokumente. Daten. Hintergründe. Knecht.

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