Esoterik

Wer Esoterik erfassen und begreifen möchte, übt seinen Verstand an einem untauglichen Objekt: «Esoterik», abgeleitet vom griechischen «esoteros» (innerlich, nach innen gewandt), rechnet mit einer Innenseite aller Dinge, aller Ereignisse und aller Wesen. Diese Innenseite des Wirklichen lässt sich mit dem üblichen Verstand nicht begreifen. Der Normalverstand erfasst aus esoterischer Perspektive nur die äusserlichen Aspekte der Wirklichkeit. Das innerlich Verborgene aber ist das eigentliche Wesen aller Dinge. Dieses Wesen lässt sich erfühlen, erspüren, erleben. Es offenbart sich in begnadeten Momenten und an besonderen Orten («Kraftorten») der wachen Seele. Es kommuniziert mit den Meditieren- den, mit den sich in rituellen Tänzen Wiegenden und vor allem auch mit den Hell- sichtigen und Hellfühlenden. Sie, die sog. Channels, die Kanäle, spazieren so mühe- los, so spielerisch durch die geheimnisvolle innere Wirklichkeit wie Normalmenschen durch ihren Stadtpark in der Mittagspause. Will man Esoterik, diese Reise in die innere Wirklichkeit, annähernd verstehen, ohne dass sich ihr Geheimnis in Nichts auflöst, so empfehlen sich fünf Wege wohlwollend-kritischer Annäherung:

  1. die Besinnung auf die esoterischen Erkenntnismethoden
  2. die Besinnung auf die allerdings nur in Rudimenten erkennbare Geschichte der Esoterik
  3. die Besinnung auf das esoterische Verständnis des Menschen und seiner Welt
  4. die Besinnung auf die Bedeutung der Esoterik für den Esoteriker und die Esoterikerin
  5. die Besinnung auf das Verhältnis der Esoterik zur christlichen Botschaft.

Alle diese fünf Besinnungen entsprechen selbstverständlich immer nur der Perspektive des Betrachters. Wenn der Betrachter kein gläubiger Schüler dieser oder jener esoterischen Schule ist, unterscheiden sich diese Besinnungen auch zwangsläufig von allen durch Channels offenbarten, von gewissen Schulen sanktionierten sog. offiziellen Esoteriktheorien.

In erster Annäherung ist die Esoterik der Versuch des Menschen, mit dem Bauch zu denken oder mit der Seele zu erkennen. Esoteriker orientieren sich nicht am Normal- verstand und an der Normalwissenschaft, die die Normalwelt bis zu den grössten Errungenschaften des menschlichen Geistes geführt hat. Der Normalverstand, der sich gerne an das irgendwie Berechenbare hält, muss einer seelennäheren, nur scheinbar viel unsicheren, für esoterisches Empfinden allein zuverlässigen Erkenntnisweise Platz machen: der Erkenntnis durch Bewusstseinswandel, der Einsicht auf höheren oder tieferen Stufen des menschlichen Bewusstseins.

Wer sein Bewusstsein verändert, findet – so die esoterische Annahme – zur geistigen Wesensschau, ins spirituelle Erfühlen. Diese Wesensschau und dieses Erfühlen können und sollen geweckt und geübt wer- den. Esoterische Workshops, Rituale und Meditationen, die Trommeln der neuen Schamanen, die Mandalas der neuen Buddhas, die Übungen in persönlicher Trance verstehen sich als erste Schritte zu einer transrationalen Erkenntnisweise. Je intensiver die Trance oder die im Ritual erreichte Ekstase, desto offenkundiger wird auch der Bewusstseinswandel und desto überzeugen- der die Reise durch die innere Wirklichkeit. Auch wiederholte Schulung und intensive Rituale bringen aber viele Esoteriker nicht über ein unsicheres Erahnen oder phantasie- volles Intuieren hinaus.

Wie kann der Schüler auf esoterischen Erkenntniswegen erkennen, ob das, was er erschaut, in der Tat das innere Geheimnis aller Dinge oder die ewige geistige Welt ist, oder ob er nur eigenen Tagträumen nachrennt? Die Esoterik beantwortet diese Frage zumeist mit Hin- weis auf das durch die Kursleiter oder Schulhäupter Erschaute. Wenn meine unsichere Erkenntnis mit dem übereinstimmt, was die Reiseleiter auf dem Weg in die innere Wirklichkeit erschauen, dann und nur dann war mein Weg ins geheimnisvolle Wesen aller Dinge nicht bloss ein Ausflug ins Reich meiner eigenen Phantasie. Mit anderen Worten: Auch wenn die Esoterik jeden Wanderer auf dem Weg in die geistige Welt auf die eigenen Füsse stellt, führen diese Wege nicht selten entweder in wahnhafte Überwirklichkeiten oder in unkritische Meisterbindung. (Wahn nennen wir Einsichten in Wirklichkeiten, die der Erkennende nur noch sich selbst vermitteln kann.)

Die speziellste und in ihren Konsequenzen absurdeste Ausprägung einfühlsamer esoterischer Erkenntnis ist das sog. Channeling. Ich lasse mich in Trance oder trancenahe Entspannung gleiten und deute dann alles, was sich als Gedanke oder Bild in mir meldet, als Eingebung aus der inneren Wirklichkeit oder der geistigen Welt. Channeling kann eine Gruppe nur dort zur spirituellen Gemeinschaft verbinden, wo solche Eingebungen kommunizierbar werden. Kommunizierbar ist aber nur das irgendwie in allen Anklingende.

Am meisten klingt in allen an, was der Meister oder die Meisterin channelt. Fast zwangsläufig werden Meister oder Meisterin zum namhaften Kanal zur geistigen Welt. In Abhängigkeiten eigener Art führt oft die esoterische Mantik (Zukunftsschau). Aus allen nur möglichen, nur scheinbar zufälligen Umständen heraus, vom Horoskop über die Tarotkarten bis zum Lesen der Handlinien und zu Experimenten mit dem I Ging, sucht Esoterik die Mauern zu durchbrechen, die das Kommende vom Gegenwärtigen trennen. Wer sich einmal intensiv esoterischer Zukunftsschau verschrieben hat, kann oft ohne entsprechende Assistenz keine eigene Entscheidung mehr fällen.

Weniger sektennah, aber nicht weniger folgenschwer in seiner Konsequenz ist der intuitive Umgang der Esoterik mit religiösen Schriften, Lehren, Symbolen und Gestalten. Das einfühlende Erschauen erkennt überall Entsprechung, auch dort, wo der Historiker überhaupt keine Zusammenhänge zu erkennen vermag. Esoterik sieht sich als uralte Menschenweisheit, als Urreligion, verborgen in der menschlichen Seele, von offiziellen Religionen immer wieder verfolgt aber nie besiegt. Das verborgene Wissen der alten Ägypter, die Magie der Mesopotamier, die Weisheiten des Hermes Trismegistos (einer gnostischen Schriftgruppe aus hellenistisch-römischer Zeit), die Heilkünste der Schamanen, die Weisheit der Indianer, die Erleuchtungen der Yogis und der tibetischen Meister, die Erkenntnisse Platos und Jakob Böhmes, die Geheimnisse christlicher Mystik, das Christusverständnis des Johannesevangeliums, die Magie der Hexen, die Weisheit der Zigeuner, die Geheimnisse der Rosenkreuzer und der Freimaurer – sie alle gelten als Abschnitte in einem nie endenden Strom esoterischer Erkenntnis, einem Strom, der in unseren Tagen ins Meer der neuen, uralten Esoterik der Gegenwart fliesst.

Eine weniger intuitive, aber faktennähere Betrachtung der Geschichte der Esoterik setzt zu all diesen intuitiven Gleichungen ihre Fragezeichen: Die sog. Hexen, die Schamanen, die Priester des alten Ägyptens würden sich wundern, wenn sie wüssten, für was alles sie heute gerade stehen müssen. Esoterik übersieht in ihrem Geschichtsverständnis die unverwechselbaren Eigenheiten der Kulturen und der Jahrhunderte. Alles, was sich nicht in ihre Einheitsschau fügt, kann sie als äussere Wirklichkeit mühelos übersehen.

Auf echte, auch den kritischen Betrachter überzeugende esoterische Tradition kann sich die Esoterik aber berufen, wenn sie auf Theosophie, Anthroposophie, C.G. Jung und Osho/Bhagwan verweist. Ohne Helena Blavatskys geistige Weltbetrachtung und intuitiven Synkretismus und ohne ihre auf westliche Bedürfnis- se zugeschnittene Karmalehre, ohne Rudolf Steiners Verwandlung des theosophischen Ansatzes zum abendländischen höheren Erkenntnisweg und ohne das von C.G. Jung inspirierte Verständnis der menschlichen Seele als Schatzkammer aller vergangenen Kulturen und Religionen wäre moderne Esoterik nur ein hilfloser Versuch, eigene subjektive Ahnungen metaphysisch auszubeuten.

Die erwähnten «Vordenker» geben zahllosen Esoterikerinnen und Esoterikern das vermeintliche Recht, aus der wild gärenden eigenen Phantasie heraus Ewigkeit zu destillieren. Zur Schülerschaft von Osho/Bhagwan Rajneesh gehörte einst aber ein beträchtlicher Teil der heutigen Anbieter auf dem esoterischen spirituellen Markt. Osho als der wahrscheinlich kreativste Synkretist in der zweiten Hälfte des 20. Jahr- hunderts verband die Mystik aller Religionen mit Therapieformen fast jeder Schulrichtung zu Erleuchtungserfahrungen von einzigartiger Radikalität, Intensität und Meisterhörigkeit. Die Kombination von Therapie und Mystik – von Osho vorgelebt – wurde zu einem eigentlichen Charaktermerkmal der modernen Esoterik.

Esoterik präsentiert uns als Ergebnis ihrer geistigen Erkenntnisbemühungen eine pan- theistische, animistische, magische und gnostische Welt. Diese vier Aspekte lassen sich in jeder esoterischen Weltdeutung erkennen, allerdings mit jeweils sehr unterschiedlicher Gewichtung.

– Pantheistisch: Die Welt gleicht einem mittelalterlichen Schloss: Wer einmal den Schlüssel zum ersten Tor gefunden hat, der schreitet anschliessend fast endlos durch immer wieder neue geheimnisvolle Räume. Je dunkler diese Kammern sind, desto deutlicher erahnen Esoteriker in ihnen die Gegenwart einer einzigen göttlichen Präsenz. In allem, was ist, ist Gott. In einem Bild aus der Blütengirlanden-Philosophie des Mahayana (Avatamsaka-Sutra) – ein Hinweis, der hie und da in der Esoterik begegnet – gleicht die Welt einer kreisrund aufgehängten Perlenkette. In jeder Perle spiegeln sich alle an- deren Perlen. Alles spiegelt sich in allem. Wie oben, so unten, wie aussen, so innen. Das Geheimnis, das diese ganze äusserlich so disparate Wirklichkeit ins Eine bindet, heisst, Geist oder Kraft oder Energie oder Gott.

– Animistisch: In allem, was ist, verbirgt sich ein ansprechbares, lebendiges Wesen. Wer nach innen schaut, beginnt mit diesen verborgenen Wesen zu kommunizieren. («Devas» heissen diese Wesen in der esoterischen Modellkommune Findhorn, «Feen», «Elfen», «Engel» heissen sie in anderen Strömungen der Esoterik). Esoteriker sprechen mit den Bäumen, die sie umarmen, mit den Kräutern, die sie in ihrem Garten begiessen, mit den Bergen, mit den heilkräftigen Steinen, mit den Gestirnen am Himmel und nicht zuletzt auch mit der Mutter Erde.

– Magisch: Warum aber sich mit den geheimnisvollen Wesen in allen Dingen nur unterhalten? Warum nicht diese Wesen sich dienstbar machen? Der Glaube an die Wirksamkeit magischer Kommunikation mit verborgenen Kräften und Wesen ist in der Esoterik grenzenlos, vor allem dort, wo Menschen vorher in der ganz an Rationalität orientierten Welt nicht die Hilfe fanden, die sie brauchten. Vor allem in ihren Heilkünsten, aber auch als Liebeszauber und Schutzzauber gegen negative Einflüsse entwickelt sich Esoterik in ihren magischen Aspekten zum einträglichen Geschäft.

– Gnostisch: Auch wenn der radikale Dualismus der alten Gnosis zur Zeit des frühen Christentums heute ungebrochen kaum mehr vertreten wird – die Schöpfung (oder besser: Die Emanation der Welt aus dem Einen, Göttlichen heraus) wird heute positiver gewertet – so erinnert Esoterik in ihrer eindeutig hierarchisch gestuften Welt und in ihrem Bemühen um den Aufstieg der Seele aus den Schatten des Materiellen ins lautere Licht des rein Geistigen deutlich an ein platonisches oder gnostisches Grundmuster. Diesen Aufstieg schafft die nach Vergeistigung strebende Seele nicht in einer einzigen irdischen Existenz. Aus der Theosophie übernahm die Esoterik das Bild der hierarchisch gestuften Wirklichkeit und die Überzeugung, dass jede Seele sich in zahllosen Inkarnationen stufenweise «emporläutert», bis sie eins wird mit dem reinen Geist, aus dem sie vor Urzeiten hervorgegangen ist.

Wenn die dem Normalbewusstsein und der Ratio zugängliche Welt dem Menschen die Antworten nicht mehr schenkt, deren er dringend bedarf, wenn sich in einer Lebenskrise bisherige Lebensperspektiven und gewohnte Selbstverständlichkeiten in Rauch auflösten, versprechen esoterische Erkenntniswege plötzlich neue Perspektiven. In sog. Rückführungen in frühere Leben entdecken in ihrer Identität erschütterte Menschen ihr wahres Sein, ihre phänomenale Vergangenheit. In Lichtmeditation verbinden sie sich mit dem höchsten Licht. In Heilmeditationen erleben sie die heilende Kraft ihrer eigenen Hände. In Versenkungsübungen erahnen sie ihre eigene Hellsichtigkeit.

Esoterik erschliesst frustrierten Zeitgenossen das Paradies einer Welt voller Stimmen und Wesen, voller heilender Kräfte und voller göttlicher Liebe. Und vor allem: Esoterik zeigt mir, was für ein Wunder ich selber bin. Ich bin das Schloss mit den vielen Räumen, das ich in Workshops mir erschliesse. Die verdutzte Umgebung wird diesen Durchbruch zu spirituellen Perspektiven und dieses Eintauchen in esoterische Mysterien sicher anders bewerten als die neuen Esoteriker selber.

Nicht selten verstärkt die esoterische Wende schon vorhandene Krisen einer Partnerschaft. Die neuen Esoteriker lernen zwar, mit Pflanzen und Steinen und den Wesen in allen Dingen zu kommunizieren. Aber das Gespräch mit dem bisherigen Lebenspartner ist bisweilen völlig blockiert. Der Aussenstehende versteht die Ausflüge ins Reich der Esoterik oft als hilflose Antwort des modernen Menschen auf seine begreifliche Sehnsucht nach Spiritualität. In einer Welt des nur noch Messbaren, herzlos in ihrer Nüchternheit und brutal in ihrer Kälte, lässt sich nicht mehr leben. In der Lebensmitte angekommen, braucht der Mensch neue Perspektiven. Die kirchliche Frömmigkeit liegt vielen zu fern. Esoterik lässt das Kind in uns wieder aufleben und öffnet uns Türen in eine Welt voller Wunder, eine Welt allerdings, die sich mit unserer eigenen Alltagswirklichkeit oft kaum mehr verbinden lässt.

Esoterik versteht sich oft als genuin christlich. Das Kirchenchristentum aber habe sich den Zugang zu den wahren göttlichen Geheimnissen in seiner Mystikferne verbaut. Auch die Annahme, dass die Bibel ursprünglich eine Reinkarnationslehre vertreten habe, die die Kirche unterdrückt habe, bestärkt manche Esoteriker in der Überzeugung, die wahren Christen zu sein. Abgesehen davon, dass diese These einer antireinkarnatorischen Überarbeitung der Bibel ein reiner Mythos ist, ist auch das Erlösungskonzept der Esoterik und ihre Liebe zum göttlichen Ein und Alles weit vom biblischen Glauben an den die Menschen erlösenden, persönlichen Gott entfernt. Die Liebe zur eigenen spirituellen Erfahrung verbindet Esoterik und überzeugendes Christentum. Spirituelle Erfahrung und spirituelle Erfahrung sind aber selten ein und dasselbe. Den Ruf der Esoterik nach eigener spiritueller Erfahrung, kann und darf eine wache Kirche aber nicht überhören.

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