Damanhur / Nazione di Damanhur

Die Lebensgemeinschaft Damanhur, kurz „Damanhur“ oder „Nazione di Damanhur“ genannt, gilt als weltweit grösste Kommune, gleichzeitig Ökosiedlung* und auch esoterisch-spirituelle Gruppierung mit ca. 700 Mitgliedern (Stand 2001). Deren Anlage erstreckt sich auf 185 Hektar Land und umfasst 3 Gemeinde. Sie befindet sich im norditalienischen Piemont, etwa 50 Km nördlich von Turin in den Vorbergen der Alpen im Tal Valchiusella.

Der Name „Damanhur“ leitet sich von der im westlichen Nildelta gelegenen ägyptischen Stadt gleichen Namens mit unterirdischer Tempelanlage ab, deren altägyptischer Name „Dmj-n-Hrw“ (dt.: „Dorf des Horus“) lautet. Sie ist dem Haupt- und Lichtgott „Horus“ gewidmet, weshalb für Damanhur auch der Name „Stadt des Lichts“ verwendet wird.

Weitere Damanhur-Zentren befinden sich in Europa, Nord- und Südamerika sowie Japan. Eigenen Angaben zufolge zählen diese zusammen mehr als 20.00 Anhänger:innen, ausgeschlossen der piemontesischen Gemeinschaft. In der Schweiz weist die Begegnungsstätte „Sinn-Raum“ in Fehraltorf, Kanton Zürich, Verknüpfungspunkte mit Damanhur auf.

*Als Ökosiedlung oder Ökodorf wird ein Dorf oder Stadtteil bezeichnet, welches sich an bestimmten ökologischen Kriterien orientiert. Diese können bspw. die Verkehrsplanung, Energiestandards oder eine regionale Energieversorgung betreffen. Wie im Falle von Damanhur gestalten sich viele Ökosiedlungen als intentionale Gemeinschaften: die dort lebenden Menschen haben sich bewusst zusammengefunden, um ihr Leben nach bestimmten Werten auszurichten.

Gegründet wurde Damanhur 1975 durch den italienischen Esoteriker Oberto Airaudi (1950-2013). Als Jugendlicher ist Airaudi die „Stadt des Lichts“ im Traum erschienen, wodurch er die Erschaffung eines Denkmals für die Menschheit als seine Lebensaufgabe erkannte.

Schon früh geprägt durch die in Turin seit dem 19. Jahrhundert lebendige esoterisch-theosophische Tradition sowie augenfällige Präsenz ägyptischer Kultur*, zeigte Airaudi bereits in jungen Jahren eine besondere Neigung zu Magie und Okkultismus. So schrieb er mit 17 sein erstes Werk „Crònaca del mio suicido“ (dt.: „Chronik meines Selbstmordes“), worauf bis zu seinem Tod über 150 esoterische Schriften folgten. Mit knapp 20 Jahren eröffnete er eine erfolgreiche Praxis als Pranotherapeut** und wurde im Rahmen seiner Tätigkeiten in ganz Italien als Wunderheiler bekannt.

Mit 47 Jahren gab er seine Praxis auf und zog mit einem Dutzend befreundeter piemontischer Okkultisten in die Gegend von Ivrea. Davon überzeugt, dass dort vier der „synchronistischen Energiemeridiane“ zu einem Knotenpunkt zusammenlaufen, kaufte Airaudi das „bedeutendste Zentrum der Kraft“ dank finanzieller Unterstützung der Turiner Okkult-Szene auf, und gründete 1975 die „spirituelle Gemeinschaft von Damanhur“.

Die Weltpresse wurde auf Damanhur aufmerksam, als 1992 bekannt wurde, dass Airaudi und seine Leute in einem naheliegenden Berg seit 1977 einen unterirdischen Tempel ausgegraben haben – das wahre Anliegen der „Stadt des Lichts“. Denn er soll den Besucher:innen eine initatische Reise ermöglichen, eine Art moderne Mysterienerfahrung mit Geist-Selbstfindung und -Entfaltung als Ziel. Der Bau blieb 16 Jahre unbemerkt, bis ein Ex-Mitglied die italienischen Behörden darüber informierte. Die jemensch zugängliche Tempelanlage weist immense Dimensionen auf: ein gigantischer, 30-40 Meter in einen Berg getriebener Komplex von Geheimgängen, Korridoren, Kammern, Krypten und Hallen. Herzstück ist dabei die „Halle der Sphären“: Darin befinden sich acht verschiedenfarbige Kristallkugeln in altarartigen Nischen, die mit alchemistischer Flüssigkeit gefüllt und mittels Spiraldraht aus Kupfer direkt mit den Energiemeridianen der Erde verbunden sein sollen. Der Kommune gelten sie als heilig. Insgesamt umfasst das labyrinthische System 3500 m2. Nebst Elementen aus unterschiedlichen Religionen und Kulturen sowie verschiedensten Kunstwerken, beherbergt die Anlage auch ein „Labor für esoterische Wissenschaft“. Immer wieder hat Airaudi behauptet, dort eine funktionierende Zeitmaschine erfunden zu haben, mit welcher er Seelen verstorbener Damanhurianer:innen erfolgreich in die Körper Neugeborener übertragen hat. Weiter sollen im Labor „Spiralgebilde aus Kupferdraht“ entwickelt worden sein, die auf „feinstofflicher Ebene“ eine Reinigung von jeglicher Negativität bewirken, vor Krankheiten schützen und gegen Radioaktivität immunisieren sollen.

Längsschnitt der unterirdischen Tempelanlage

*Turin besitzt eine der bedeutendsten Sammlungen ägyptischer Altertümer.

**Bei der Pranotherapie handelt es sich um eine alternative Heilungsmethode durch Handauflegen.

Die Spiritualität von Damanhur entspringt vielen Quellen: Ägyptischer Sonnenkult (Oberto Airaudi liess sich zeitweilig „Falco“ (dt.: „Falke“) nennen. Der Falke ist das Horustier, wobei Horus im regierenden Pharao präsent ist), theosophischem Menschenbild, rituellen und symbolischen Anleihen aus den alteuropäischen und altamerikanischen Kulturen, alter Kraftplatzmagie (Damanhur gilt als der Kraftort par excellence). Anleihen aus dem Hellenismus – vor allem aus den sog. Mysterienreligionen – verbinden sich mit einem utopischen Verständnis des menschlichen Geistes: In Damanhur lernt der Geist des Menschen sich auf mehrfache Weise aus seinem Körper zu lösen. Mittels der selbst konstruierten Zeitmaschine kann er sich auch auf Zeitreisen begeben.

Am wichtigsten sind Magie, Divination und Astrologie. Planen die Damanhurianer:innen die Zeugung von Kindern so, dass diese astrologisch bedeutsame Geburtszeiten erhalten. Des weiteren werden Lebensmittel magisch entstrahlt.

„Einen Ansatz finden, um alle Religionen zu vereinen“, wird von der Kommune als allumfassendes Ziel formuliert. Die Menschen sollen so nicht getrennt voneinander, sondern „nach dem Prinzip einer grossen Familie“ leben können, wobei diese selbst als Gott verstanden wird.

Die Mitglieder erhalten Geistnamen aus einem Tier- und einem Pflanzennamen, die als eine Art Totemnamen eine besondere Verbundenheit mit dem betreffenden Tier resp. der jeweiligen Pflanze bedeuten sollen. So trug Airaudi anfänglich den Geistnamen „Falco Tarassaco“ (dt.: „Falke Löwenzahn“), wurde mit der Zeit von den Damanhurianer:innen jedoch als Einziger beim bürgerlichen Namen genannt.

Die Sexualität in Damanhur unterliegt keinen Restriktionen. Rauchen ist verboten, Alkoholkonsum nicht.

Der Neueintritt in die „Lichtstadt“ ist erst nach einer mehrjährigen Probezeit möglich, während der Schritt für Schritt in die Geheimnisse von Damanhur eingeführt wird. Sind die potenziellen Mitglieder nicht bereit, sich deren Prinzipien zu unterwerfen, können sie wieder ausgeschlossen werden.

Als festes Ritual kann unter anderem das Abspielen von „Sphärenmusik“ über auf dem Gelände verteilte Musikanlagen sowie die Begrüssung mit „con te“ bzw. „con voi“ (dt.: „mit dir“ bzw. „mit euch“) genannt werden.

Die Gemeinschaftsmitglieder sind in verschiedenen Stufen organisiert. Die Mitglieder der Stufe A leben in 15-20köpfigen Gemeinschaftshäusern („Nucleos“) auf dem Gelände von Damanhur, die Mitglieder der Stufe B spenden an die Gemeinschaft und leben mindestens drei Tage in der Woche in Damanhur, die Mitglieder der Stufe C leben ausserhalb, nehmen aber an den Schulungen teil. Dabei gehen gewisse Bewohner:innen einer Arbeit ausserhalb der Kommune nach, andere sind im eigenen Betrieb tätig (dieser umfasst die Produktion natürlich gefärbter Webstoffe, Naturkostlebensmittel, Kunst und Modebekleidung).

Damanhur hat eine eigene Regierung, ein eigenes Gericht, eigene Schulen, eigenes Geld (den „Credito“), einen eigenen Sicherheitsdienst, eine eigene Feuerwehr, eine eigens verlegte Tages- und Wochenzeitung, ein eigenes Fernsehen, eine eigene Pressestelle, eigene Werkstätten und Läden, eine Geheimsprache und eine eigene, demokratisch geprägte Verfassung.

Oberto Airaudi wollte in der theoretisch basisdemokratischen Kommune in keiner Weise Guru oder Chef sein – Damanhur soll ohne ein solches Oberhaupt funktionieren. Jedoch besteht hier eine Diskrepanz zwischen der eigenen Verfassung und gelebten Wirklichkeit, da Airaudi über 20 Jahre in den Kreis der Regierungsmitglieder gewählt wurde. Jedes halbe Jahr bestimmt die Gemeinschaft drei „geistige Führer“, welchen im Rahmen der ihnen zugeteilten Rolle die Verantwortung für die Langzeitplanung und Koordination übertragen wird.

Weder in vergangener noch in gegenwärtiger Zeit ist Damanhur vor Kritik verschont geblieben:

So soll die Gemeinschaft Ausstiegswillige der Stufe A ohne Abfindung entlassen, den Kontakt zu Ehemaligen beschränken und die Mitglieder durch eine Vielzahl von Aktivitäten von ihrem Umfeld isolieren. Gegenüber Oberto Airaudi sei ein gewisser Personenkult zu beobachten und Kritik an ihm undenkbar gewesen.

Für das Gemeinschaftsleben zahlen die Mitglieder 800 Euro pro Monat, viele spenden gar ihr gesamtes Erspartes. Laut Aussteiger:innen haben jedoch nur die wenigsten ihr Geld wieder zurückerhalten.

Einige von ihnen streben bis heute juristische Prozesse gegen Damanhur an. Im Rahmen dessen gab ein Turiner Anwalt in der Vergangenheit zu verstehen, er wisse von satanischen Praktiken, „tantrischem Sex hin und wieder zur Ablenkung“ und der „sexuellen Macht des Gurus“. Auch hätte die Kommune Verbindungen zu Sekten in den USA und Italien, unter anderem zur Freimaurerloge P2 unterhalten. Obwohl viele ehemalige Mitglieder mit solch schweren Anschuldigungen vor Gericht gegangen sind und gar von körperlichen und geistigen Misshandlungen sprechen, kommen die Verfahren nicht voran. Grund dafür könnte sein, dass Damanhur grosse Unterstützung von rechten politischen Vereinigungen erhält.

Patrizia Santovecchi, die Präsidentin der italienischen Nationalen Überwachung psychischer Misshandlung, spricht von der Erfüllung typischer Merkmale einer Psycho-Sekte: Nichtduldung von Kritik jeglicher Art, Manipulation durch Gruppenzwang, Forderung eines totalen Gehorsams, komplette Entpersönlichung des Einzelnen und Beraubung der individuellen Entscheidungsfähigkeit. Des weiteren kommen hierarchische, sektenähnliche Strukturen hinzu.

Zu Lebzeiten Airaudis hielt dieser alldonnerstäglich Vorlesungen ab, um die Bewohner:innen in die Geheimnisse Damanhurs einzuführen. Dabei waren weder Diskussionen noch Oppositionen erlaubt. Nach offizieller Lesart der eigenen Verfassung war den Kommunemitgliedern die Teilnahme an den Vorlesungen ebenso freigestellt wie die Lektüre seiner literarischen Werke, ihre An- oder Abwesenheit wurde jedoch in einem extra Studienbuch genau erfasst.

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